Der Türöffner

Bostelmann erzählt, wie er das Programm aus dem Silicon Valley gegen Widerstände nach Deutschland brachte, wie der Tennisspieler Novak Djokovic mit Meditation kritische Situationen meistert und wie die richtige Schuhwahl im Dornenfeld hilft.

Herr Bostelmann, Sie sind bei SAP weltweit für das Thema Achtsamkeit verantwortlich. Wie sind Sie zum Meditieren gekommen?

Meine damalige Freundin hat meditiert, was ich zunächst belächelt habe. Irgendwann habe auch ich es ausprobiert und gemerkt: Das hilft ja! 2007 bin ich für SAP in die USA gegangen. Damals habe ich ein bisschen meditiert, so 15 bis 20 Minuten am Tag. Dann bin ich in eine persönliche Krise geschliddert. Ich fühlte mich orientierungslos. Ich war wie ein Farb-TV auf SchwarzWeiß – ohne Ton.

Was haben Sie daraufhin gemacht?

2008 bin ich dann in ein zehntägiges Schweige-Retreat ins Kloster gegangen. Das war wie bei einer Schneekugel. Als sich der Schnee gelegt hatte, war mein Geist viel ruhiger und klarer. Wenn man das einmal erlebt hat, entwickelt sich ein Gefühl von Ruhe, Klarheit und Freiheit. Ich empfand das als Riesengeschenk und habe da weitergemacht. Jedes Jahr gehe ich für zehn Tage zum Schweigen ins Kloster und meditiere mittlerweile täglich eine Stunde. Am Anfang war das für mich etwas sehr Privates, was ich versteckt habe.

Wann hat sich das verändert?

Das war 2010/2011. Ich arbeitete für SAP im Silicon Valley und hatte von Mindfulness bei Google gehört. Anfang 2012 habe ich Chade-Meng Tan kennengelernt, der bei Google das Selbstentwicklungsprogramm Search Inside Yourself (SIY) entwickelt hat. Im Herbst 2012 wurde das Programm von Google freigegeben und in das non-profit siyli.org überführt. Im Dezember darauf habe ich dann am ersten öffentlichen SIY-Programm in San Francisco teilgenommen und war begeistert! Dass es bei uns so groß wird, war überhaupt nicht absehbar. Eigentlich war ich sogar unsicher, ob SIY bei SAP überhaupt großen Anklang findet oder ob ich einfach ein Exotenhobby habe, was eigentlich nur mich und fünf andere begeistert.

Wie ging es dann weiter?

Ich habe mich gefragt, wie ich ein Budget finde und zeigen kann, dass es auch bei SAP eine Nachfrage für so ein Programm gibt. Anfangs wollte niemand Geld in die Hand nehmen. Ich musste also zunächst eine kritische Masse vernünftiger Leute finden, die sagen, dass sie es mit anschieben. Dann habe ich im Mai 2013 Meng als Gastredner für uns in Palo Alto gewinnen können. Das Interesse war groß, und unsere Veranstaltung war voll. Und da hatte ich sie: meine kritische Liste von Menschen, die ich adressieren konnte. ,Guck mal hier, ich mache so ein Pilotprojekt, würdet ihr kommen? Würdet ihr das aus eurem Kostenstellenbudget bezahlen?‘ Die Trainings wurden sehr, sehr gut angenommen – viel besser, als wir das erwartet hatten. Im Anschluss habe ich dann Feedback eingesammelt, unter anderem auch von einem deutschen Vice President, der ebenfalls im Silicon Valley lebt. Und der sagte, dass er in seinen 30 Jahren als Manager – bei der Deutschen Bank und später bei SAP – bereits an vielen Trainings teilgenommen hätte. Dies jedoch sei eines der Programme gewesen, die ihn echt beeindruckt hätten: „Das kann lebensverändernd sein.“

Mit diesem Rückenwind haben Sie es dann nach Deutschland getragen?

Zunächst gab es noch einige skeptische Stimmen: ,Dass ihr da im Silicon Valley meditiert, verstehen wir. Das funktioniert hier bei den Mitarbeitern in Deutschland aber nicht.‘ Doch glücklicherweise hat uns damals der deutsche Personalchef Dr. Fassnacht unterstützt, der selbst seit 30 Jahren autogenes Training macht – was ja ebenfalls eine Form einer Achtsamskeitsübung ist. Der Mann hat eine Präsenz wie ein Fels. Dann haben wir 2014 die ersten drei Pilotprojekte in Deutschland gestartet. Sie wurden noch besser bewertet als die in den USA. Für deutsche Verhältnisse extrem hoch.

Wie ging es weiter?

Wir haben relativ früh begonnen, Wartelisten aufzumachen, weil ich nicht sicher war, wie hoch der Bedarf tatsächlich ist. Wir wollten erst ein paar handfeste Zahlen haben, damit die Daten auch vernünftig sind –
bevor ich mich zu weit aus dem Fenster lehne und dann keiner kommt. Wir haben dann bei allen artverwandten Trainings gesagt: ,Guckt mal hier rein. Wir pilotieren dieses neue SIY-Programm aus den USA. Wenn ihr wissen wollt, wann es losgeht, dann tragt euch hier ein.‘ Die Warteliste wuchs auf 500 Leute. Das hat uns Rückenwind gegeben. Insgesamt haben wir davon 210 Leute für die drei Piloten eingeladen. Ich wollte die anziehen, die das wirklich gut finden, ein positives Momentum schaffen. Und dann gab es sehr positives Feedback – nach dem Motto: ,Das ist ja ein tolles Programm, aber warum kommt das erst jetzt? Und warum so langsam?‘ [lacht] Ein halbes Jahr später war die Warteliste bereits bei 1.500.

Im Anschluss wurden Sie Director of Mindfulness bei SAP, was später noch umbenannt wurde in Director of SAP Global Mindfulness Practice. Was waren für Sie die Erfolgsfaktoren, dass es losging?

Die Warteliste war ein ganz elementarer Punkt. Dann, dass wir das Programm immer als Geschenk angeboten haben, also so nach dem Motto: ,Wir haben hier was.‘ Zu der Zeit stiegen die Anfragen, und ich stellte mir die Frage: Wie kann ich das denn in der Breite ausrollen? Ich kann ja nicht 80.000 SAP-Mitarbeiter alleine trainieren. Da bin ich relativ lange unterwegs, und es wird vielleicht auch irgendwann mal langweilig. Somit habe ich sehr früh darüber nachgedacht, Trainer aus zubilden. Also haben wir zusammen mit siyli.org noch im Jahr 2014 ein Teacher Training entwickelt und in der ersten Welle gleich zehn Trainer bei SAP aus gebildet.

Wie viele sind es jetzt?

Mittlerweile haben wir 42. Und die nächste Welle kommt.

Wie viele Menschen haben das Programm mittlerweile durchlaufen?

9.000 haben das Programm absolviert, und 8.000 stehen derzeit auf der Warteliste.

Sind das alles noch die eigenen Mitarbeiter, oder sind da auch schon die Kunden mit dabei?

Unsere Kunden fragen uns, ob wir ihnen helfen können: Siemens, Procter & Gamble, die Deutsche Post, DHL und die Deutsche Telekom. Und das hat dann wiederum bei uns geholfen, Resonanz auszulösen. Wir haben ein Thema besetzt, das ernst zu nehmen ist. Schon in den ersten Jahren haben wir in den Medien großes Interesse geweckt. Bildlich gesprochen habe ich in unserer Überzeugungsarbeit immer darauf geachtet, nicht geschlossene Türen aufzubrechen. Ich habe mir die Frage gestellt: Wo ist eine Tür vielleicht schon offen?

Was hat die Türen weiter geöffnet?

Wir haben weiter Trainer ausgebildet. Wir hatten drei Mal so viele Bewerber wie angebotene Plätze. Und wir schauen mit wirklich großer Sorgfalt, wer sich bewirbt. Wie ist der persönliche Reifegrad? Was ist der Motivator? Warum will die Person das machen? Wir versuchen, die Menschen anzuziehen und ins Team zu holen, für die Achtsamkeit selbst ein Riesenthema ist. Die sagen: ,Das hat bei mir echt was verändert, und ich würde das gern weitergeben.‘ Wir wollen nicht diejenigen, die aus der Intention kommen: ,Ich mag meinen Job nicht und dort sind lauter nette Leute. Da geht es mir vielleicht besser.‘ Wir wollen Menschen, die geben, nicht nehmen.

Sind die Lehrer für das Programm abgestellt?

Nein, die meisten unserer Lehrer sind keine Hauptberuflichen, sondern machen das – bis auf drei in meinem Kernteam – neben ihrem Hauptjob. Das ist ein wichtiger Punkt. Weil es einfach ein Unterschied ist, ob da jemand vorne steht und beispielsweise sagt: ,Ich bin im Controlling, und ich habe Achtsamkeit für mich entdeckt. Und es hilft mir, mit mehr Gelassenheit und Freude erfolgreich zu sein.‘ Das ist was anderes, als wenn ein externer Trainer reinkommt, der sagt: ,Ich weiß, es ist hart in einem großen Unternehmen. Ich habe hier was, damit es nicht ganz so hart ist.‘ Das ist eine Botschaft, die wir vermeiden wollen. Wir möchten Menschen anziehen, die ihren Job mögen und in praktischen Beispielen erklären können, wie diese Trainings sie noch besser machen.

Astrid Böttger: Ich habe eben bis zum Schluss immer noch Zweifel bei dir gehört. Deinen Zweifel, ob das wirklich gebraucht wird. Hast du mal einen Punkt erlebt, an dem du gemerkt hast, dass es wirklich läuft?

Das ist eine spannende Frage. Und ich könnte das mit einer Gegenfrage beantworten. Wann weiß man, dass man es geschafft hat? Du kannst die Latte immer noch eins höher stecken. Am Anfang war ich noch unsicher in meinem Tun. Ergibt das Sinn? Glaube ich da selber so sehr daran, dass ich mich damit auch so exponiere? Ich habe mich damit ja sehr öffentlich gemacht. Das war sehr persönlich. Irgendwann habe ich dann gesagt: Ich kann darüber reden.

Astrid Böttger: Das ist auch super mutig.

Das fand ich damals auch. Und dann habe ich mir gesagt, ich biete ein Geschenk an. Wenn das jemand nicht gut findet, ist es sein Thema, nicht meins.

Hat Ihnen diese Haltung geholfen, durchzuhalten und nicht aufzugeben?

Ein wichtiger Punkt auf dieser Reise war, dass ich wusste, dass ich wirklich daran glaube. Für mich persönlich ist Meditation ein unglaubliches Geschenk, dass ich gerade in diesen langen Retreats eine innere Ruhe erfahre und eine Verbindung, die ich so nicht kannte und nirgendwo anders erlebe. Und auch eine Klarheit, mich in meinen inneren Mustern besser zu erkennen.

Und das hilft auch SAP?

Achtsamkeit ist heute Teil der DNA der SAP. Das Unternehmen wäre mit Sicherheit nicht besser ohne uns. Wir helfen vielen Menschen, weil sie lernen, wie man innere Ruhe, Klarheit und Frieden herstellen kann. Und darüber kann mehr äußerer Frieden herrschen. Darüber entsteht eine stärkere innere Verbindung, ein stärkeres Wir-hängen-alle-zusammen-Gefühl. Das heißt, ich sehe die Welt nicht mehr als Ressource, die ich endlos ausschöpfen kann. Ich sehe Menschen nicht mehr als Ressourcen. Wenn ich hingegen mich und das Leben als Ressource sehe, dann nutze ich alles aus und schaue beim Optimieren, wo ich noch was rausquetschen kann.

Gibt es auch betriebswirtschaftliche Effekte?

Die Datenerhebung zeigt uns, dass SIY eines der erfolgreichsten Programme bei SAP ist. Und dass wir auf breiter Fläche sehen, dass wir das Mitarbeiterengagement steigern. Das ist zwar prozentual letztlich ein eher kleiner Wert, aber wir wissen, dass über die gesamte Belegschaft von SAP ein Prozent Employee Engagement 60 bis 80 Millionen Dollar Umsatz wert ist. Eine genaue Datenanalyse von 4.800 Teilnehmern zeigt, dass wir – sehr konservativ betrachtet – mehr als 200 Prozent ROI machen. Wir tragen deutlich mehr zum finanziellen Unternehmenserfolg bei, als wir selber kosten. Das ist schon phänomenal.

Was bringt das Programm konkret für die Teilnehmer?

Die Menschen, die das Programm durchlaufen, werden in ihrer mentalen Klarheit stärker. Sie können Beziehungen besser gestalten. Sie empfinden subjektiv weniger Stress und erleben mehr Freude und Wohlbefinden. Diese Menschen fragen sich erst einmal, was sie sinnhaft finden und können sich dann noch mehr darauf ausrichten. Ich lerne, weniger reaktiv zu sein. Achtsamkeit ist Nichtreaktivität. Es gibt ein Zitat von Viktor Frankl, was das einfach sehr schön zusammenfasst. ,Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum.‘ Und in diesem Raum gibt es Freiheit und Wachstumsmöglichkeiten für uns. Wenn Reaktion direkt auf Reiz folgt, dann ist das ein Automatismus. Wenn ich aber lerne, das aufzuweiten, komme ich in eine Reaktionsflexibiliät. Und ich merke: Da ist eine Reaktion, aber ich habe genug Raum. Es geht nicht darum, dass man bei Achtsamkeit alles wegmeditiert und jetzt nur noch total high ist, sondern darum, dass man mit allem, was ist, in Kontakt steht. Man kann auch wahrnehmen: Ich empfinde gerade starken Ärger. Es gibt so populäre Mythen, dass Achtsamkeit bedeutet: ,Ich werde nicht mehr ärgerlich.’ Good luck with that. Es geht vielmehr darum, dass ich wahrnehme, dass ich gerade ärgerlich werde – ich nehme es früher wahr.

Astrid Böttger: Bewusster?

Ja, sich selbst kennenzulernen. Wo passiert es bei mir? Bauch, Brust, Hals, Arme, Gesicht. Atmung ist eigentlich das Stärkste, weil die Atmung bei jedem flacher wird. Und dann zu sehen: Oh, der Ärger steigt auf, und zu wissen, das macht was mit mir. In der Evolution war es von Vorteil, neurotisch und hyperreaktiv zu sein. Heute ist es beim Umgang mit Kollegen und Kunden eher hinderlich. [lacht]

Und das funktioniert?

Novak Djokovic ist hier ein sehr schönes Beispiel. Einer der besten Tennisspieler der Welt, der auch sehr, sehr offen ist und in vielen Interviews darüber spricht, dass er meditiert. Und Tennis ist ja ein mentales Spiel. Ich versuche, den Gegner in seine rote Zone zu bringen, ihn also so unter Druck zu setzen, dass er anfängt, reaktiv zu werden – dass die Amygdala anfängt zu steuern, sodass er überreagiert. Und Djokovic nimmt das halt durch seine lange Praxis relativ früh wahr – seine Selbstwahrnehmung ist gesteigert. ,Oh, ich fange an, griffig zu werden.“ Und was er dann macht, ist, sich durch seine Atemtechnik wieder zu beruhigen und sich sehr schnell wieder zu erden. Und dann wieder mit einem ruhigen, kühlen Kopf sein Spiel zu machen. Man kennt das, wenn man ihn beobachtet – dass er bei den Aufschlägen den Ball immer mehrmals auftippt. Wir wissen, dass wir unter Druck keine guten Entscheidungen fällen. Wie schaffe ich es, wahrzunehmen, wo Druck ist, und ihn zu regulieren? Oder auch wahrzunehmen: Jetzt ist gerade Druck, lass uns eine Pause machen und nicht im Autopiloten weitermarschieren.

Astrid Böttger: Es geht im Grunde um innere Entwicklung?

Ja, wir alle versuchen permanent, die Welt im Außen zu optimieren, damit wir uns gut fühlen. Das ist so, als ob ich über ein Feld mit vielen Dornen gehe und sage: Das ist mir zu dornig hier, ich lege mal das ganze Feld mit Leder aus. Ich möchte das Feld ändern, damit es gut für mich ist. Es wäre vielleicht einfacher, meine Haltung zum Feld zu ändern, sprich, mir einfach Schuhe anzuziehen, die Ledersohlen haben. Dann kann ich über das Feld gehen. Es ist viel schwerer, die Welt so zu drehen, dass ich sie aushalte, und viel einfacher, meine Reaktion auf sie wahrzunehmen und gegebenenfalls zu ändern. Achtsamkeit ist die Selbstregulierung der Aufmerksamkeit – mit einer Haltung der Offenheit, der Neugierde und des Wohlwollens.

Vielen Dank für das Gespräch!

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