Landkreis Holzminden im Wandel

Holzminden ist weit weg, die Stadt ist vom vielleicht größten Autobahnring Deutschlands umgeben – zu jeder Auffahrt dauert es etwa eine Stunde. Damit ist der Landkreis großen Fliehkräften ausgesetzt: Das Weserbergland mit seinen bewaldeten Höhenzügen und der damit schwierigen Infrastruktur sorgt dafür, dass sich die einzelnen Teile des Landkreises in ganz unterschiedliche Richtungen und nicht auf die Kreisstadt hin orientieren.

Doch da hören die Schwierigkeiten noch nicht auf. Die Einwohnerzahl nimmt seit Jahrzehnten kontinuierlich ab: 2021 lag sie erstmals unter 70.000 – im Vergleich zu noch rund 83.000 Einwohnern 1995. Zudem ist der Landkreis stark verschuldet. Doch von einer „der Letzte macht das Licht aus“-Mentalität, die lange Jahre das Reden über den demografischen Wandel und die Entwicklung Holzmindens geprägt hat, ist nichts mehr zu spüren. Im Gegenteil: Seit ein paar Jahren lassen sich eine Aufbruchstimmung und eine Vielzahl von Aktivitäten beobachten, die das Ziel verfolgen, eine Trendwende herbeizuführen.

Großunternehmen und Hochschule ziehen Menschen nach Holzminden

Der Stadt Holzminden kommt zugute, dass sie ein sehr starkes wirtschaftliches Fundament hat. Mit Symrise, Stiebel Eltron und Schott haben hier gleich drei weltbekannte Großunternehmen ihr Hauptquartier. „Deswegen: Ja, wir haben diese Fliehkräfte, aber man muss auch sehen, dass die Stadt Holzminden bei 20.000 Einwohnern täglich 15.000 Einpendler aus einem Einzugsgebiet bis Hildesheim und Hameln hat“, sagt Landrat Michael Schünemann. Hinzu kommt einer der Standorte der HAWK Hochschule für angewandte Kunst und Wissenschaft mit inzwischen rund 1.200 Studenten. Die HAWK sei ein enger Kooperationspartner für viele lokale Akteure und für die Stadt „extrem wichtig“, so der Landrat. Aber es sind vor allem Unternehmerkreise, die sich inzwischen deutlich stärker und eigeninitiativ vor Ort engagieren, denn der Leidensdruck ist groß. So groß, dass sich selbst die Weltunternehmen wie Symrise und Stiebel Eltron, die sich lange nicht in den lokalen Wirtschaftsnetzwerken eingebracht haben, jetzt mit an den Tisch gesetzt haben, denn auch sie finden kaum noch Fachkräfte.

In Holzminden ist es der Verein Weserpulsar, der sich seit 2001 als Sprachrohr der Wirtschaft versteht und rund 60 Prozent aller Arbeitsplätze im Landkreis vertritt. Dessen langjähriger Vereinsvorstand Carl-Otto Künnecke ist ein Urgestein des ehrenamtlichen Engagements in vielen Gremien, lokalen wie überregionalen, etwa als IHK-Vizepräsident. „Ich sehe im Landkreis Holzminden durchaus eine Trendwende“, sagt Künnecke bestimmt. „Und das nicht nur, weil es nicht so schlimm gekommen ist, wie es früher prophezeit wurde.“ Das liege daran, dass man begriffen habe, dass es der Landkreis oder die Stadt nicht alleine schaffen können. Das schließt die aktive auch finanzielle Beteiligung der Wirtschaft mit ein, denn oft scheiterten in der Vergangenheit Förderprojekte, weil der Landkreis die Co-Finanzierung nicht aufbringen konnte. „Wenn wir die Region nicht gemeinsam attraktiv machen, verlieren wir“, sagt der Geschäftsführer der Künnecke GmbH. „Auch die großen Unternehmen bei uns haben jetzt verstanden, dass sie nicht alleine die Strahlkraft haben. Sartorius in Göttingen hingegen hat das sehr gut verstanden, die bringen sich im Regionalmarketing aktiv ein.“ Künnecke ist derzeit eine der treibenden Kräfte dahinter, gemeinsam mit vielen Partnern den Digitalhub in Holzminden aufzubauen, „einen der größten deutschen Co-Working-Spaces auf dem Land“, um dadurch das Thema Gründungen stärker voranzubringen.

Höxter und Holzminden arbeiten zusammen

Die Aktivitäten, die Weserpulsar entfaltet hat, sind im Geiste der überregionalen Kooperation inzwischen allerdings auf das Innovationsnetzwerk Holzminden-Höxter übergegangen, das gemeinsam mit der benachbarten Wirtschaftsinitiative im Kreis Höxter 2016 gegründet wurde – bis zum Nachbarn sind es nur neun Kilometer. Vorausgegangen war ein Umdenken in Politik und Wirtschaft in beiden Landkreisen, denn beide haben ähnliche Strukturen und Probleme. Inzwischen stimmen sich die Verwaltungen der Mittelzentren Höxter und Holzminden stärker miteinander ab, und über das Innovationsnetzwerk findet in Gruppen, bestehend aus Mitarbeitern von interessierten Unternehmen, wichtige Arbeit statt. Von, mit und für Unternehmen, so lautet die Devise der verschiedenen Arbeitsgruppen. Aus den dort erarbeiteten Ideen entstehen wiederum Projekte. „In diesen Arbeitsgruppen hat sich eine sehr schöne Dynamik entwickelt“, erklärt Imke Müller-Stauch, Leiterin der Geschäftsstelle des Innovationsnetzwerks. „Dadurch, dass die Mitglieder branchenübergreifend und sowohl aus kleinen, mittleren und großen Unternehmen kommen, gibt es ganz verschiedene Blickwinkel auf ein Thema.“

Fachkräfteinitiative fördert Auszubildende

Aus dieser Arbeit ist 2019 das bislang bekannteste Projekt hervorgegangen: die Superheldenausbildung, eine regionale Fachkräfteinitiative. Weil die Personalkampagnen von Einzelunternehmen, selbst den großen, nicht mehr ausreichen, sollte es zusammen versucht werden und auch früher, bereits in der Schule, angesetzt werden. „Ausbildung ist nicht nur eine Alternative, sondern die erste Wahl, das ist unsere Message, die wir an die potenziellen Auszubildenden bringen wollen“, sagt Müller-Stauch. Ein ganzes Potpourri an verschiedenen Aktivitäten ist daraus entstanden, vor allem aber die Einbindung von Azubis. „In kleinen Videos und Testimonials zeigen sie aus ihrer Sicht und zielgruppengerecht, dass wir hier  spannende Unternehmen und Berufe haben mit super interessanten Karrieremöglichkeiten, für die man nicht studieren muss.“

Um die 50 Azubis aus genauso vielen Unternehmen machen mittlerweile mit, etwa 35 verschiedene Ausbildungsgänge sind vertreten. „Heute rufen mich auch Unternehmen an, die noch gar nicht bei uns Mitglied sind, aber dennoch gerne mitmachen würden“, erzählt die Geschäftsstellenleiterin. Auch die Schulen – sogar die Gymnasien – machen nach anfänglicher Skepsis inzwischen von selbst mit. War das Netzwerk zunächst auf die beiden Städte konzentriert, stellt Imke Müller-Stauch zunehmend fest, dass sich der Wirkradius auch in das Umland ausbreitet und beiderseits der Weser mehr Unternehmen anspricht. Das Innovationsnetzwerk hat sich damit als ein Motor etabliert, der nicht nur die Stimmung belebt, sondern auch konkret an den Rahmenbedingungen für ein nachhaltiges Wirtschaftsleben arbeitet.

Tourismus mit unsicheren Aussichten

Ähnlich sieht es beim zweiten Standbein der Region aus. „Der Tourismus ist einer der wesentlichen Wirtschaftsfaktoren“, sagt Petra Wegener, Geschäftsführerin der Weserbergland Tourismus, die sich um das Tourismusmarketing von Hann. Münden bis zur Porta Westfalica kümmert. Vor der Pandemie gab es hier rund drei Millionen Übernachtungen pro Jahr, die Wertschöpfung betrug etwa eine Milliarde Euro mit steigender Tendenz. Etwa 22.000 Arbeitsplätze hängen am Tourismus. Doch dann kam die Pandemie und damit ein Einbruch von über 30 Prozent.

Wie es jetzt und zudem unter dem Vorzeichen der Energiekrise weitergeht, sei völlig offen. „Wir können keine Prognosen abgeben, die gesamte Branche ist sehr unsicher, Buchungen werden kurzfristiger, man merkt die Zurückhaltung der Leute“, so Wegener. Dabei hat sich das Weserbergland touristisch gut entwickelt, in den vergangenen zwanzig Jahren gab es einiges an Investitionen in Wege, Attraktionen und Hotels. Gerade das Radwandern hat sich zu einem regelrechten Hype entwickelt, und hier kann die Region punkten: Der Weser-Radweg ist Nummer 1 der beliebtesten deutschen Radfernwege. Hinzu kommen viele andere Qualitätswanderwege. „Heimelig sei es hier“, höre Petra Wegener oft von Kunden, die erstmals ins Weserbergland kommen: eine Mittelgebirgslandschaft, vielfältige Natur, Burgen, Schlösser, Fachwerkstädte, viele Besichtigungsmöglichkeiten – ideal für den Aktivtourismus.

Aber es gibt auch noch viel Luft nach oben, doch die Abstimmung über die Entwicklung der Region über die Landesgrenzen hinweg mit NRW, Niedersachsen und Hessen ist nicht immer einfach. Eine Erfahrung, die man auch in Höxter und Holzminden macht, wenn es um eine Abstimmung mit den verschiedenen Schulrahmenbedingungen oder bei der Infrastrukturplanung geht. Dann sind es zwar – gefahren – nur neun Kilometer zwischen beiden Städten, verwaltungstechnisch aber liegen zwischen ihnen Welten. Dennoch, trotz der herausfordernden Lage ist Holzmindens Landrat Michael Schünemann zuversichtlich. „Arbeit haben wir hier genug. Jetzt brauchen wir die Infrastruktur, um für Zuziehende interessanter zu werden.“ Und das heißt für ihn vor allem: Straßen- und Breitbandausbau. Immerhin, hier geht es stetig, wenn auch langsam, vorwärts.

Foto: Landkreis Holzminden
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