„Was bleibt, Herr Trittin?“

Seit Anfang des Jahres genießt Jürgen Trittin seinen Ruhestand.
Mit faktor erinnert er sich an den Moment, als er einen halben Münchener
Musikclub gegen sich aufbrachte und was ihn nach 25 Jahren im
Bundestag bis heute ärgert. 

Zum Anfang des neuen Jahres war Jürgen Trittin ein sehr gefragter Mann. Mitte Dezember hatte der Grünen-Politiker angekündigt, sein Bundestagsmandat niederzulegen. Damit endet eine beispiellose politische Karriere – auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene. Zwischen Pressetalk und einem reservierten Tisch beim Lieblingsitaliener möchte faktor wissen, was nach all diesen Jahren Gesprächen und Krisen vom politischen Werk des Jürgen Trittin übrig bleibt. Was ihn angetrieben und enttäuscht hat, begeistert und hoffnungsfroh stimmt. Und warum er sich dazu entschied, überhaupt politisch aktiv zu werden. Denn lange Tage und kurze Nächte prägen den Kalender eines Spitzenpolitikers. Für Jürgen Trittin endet dieses Kapitel nun, Erleichterung macht sich aber nicht breit.

Zu gern habe er den Job gemacht. Zu gern sei er Menschen begegnet, habe um Themen gestritten und um Entscheidungen gerungen. Nicht des Geldes wegen, wie manch einer Politikern gern vorwirft. „Wer es nur des Geldes wegen macht, ist ganz schnell aufgeschmissen in diesem Job“, sagt der am 25. Juli 1954 in Bremen-­Vegesack geborene Trittin. Es muss also etwas anderes sein, das ihn jeden Morgen aufstehen ließ. „Ich habe das gern gemacht, ich habe das genossen“, sagt er heute. „Ich empfand es als angenehm, die Gesellschaft mitzugestalten.“ Das sei ihm gelungen, weil er sich „kluge Bündnispartner“ gesucht habe, sagt er. Politik sei eben ein Geschäft der Gespräche und Kompromisse.

Plötzlich Landesminister

Dass mittlerweile fast alle Atomkraftwerke abgeschaltet sind und mehr als die Hälfte des Stroms in Deutschland aus erneuerbaren Energien gewonnen wird, schreibt sich Trittin neben vielen Themen auf die Haben-Seite. Damit das gelang, kämpfte Trittin seine gesamte politische
Karriere über um Mehrheiten. Jürgen Trittin ist mehr als 40 Jahre politisch aktiv, rund 25 Jahre davon allein im Bundestag. Er hat Themen und Menschen kommen und gehen sehen. Vor allem aber, wie sich die Welt und Deutschland in dieser Zeit gewandelt haben. Rückblickend hält es Trittin mit dem italienischen Philosophen Antonio Gramsci, der gesagt haben soll, es „brauche den Pessimismus des Geistes und den Optimismus des Herzens“. Trittin wolle die „schlechte Realität sehen, aber sich dadurch nicht nehmen lassen, sie zu verändern“. Dabei hatte der Grünenpolitiker niemals geplant, überhaupt eine politische Größe zu werden.

Als er 1982 in die Partei eintritt, wird er schnell zu einem prominenten Vertreter klassischer Umwelt­themen. Von 1985 bis 1989 engagierte er sich im Niedersächsischen Landtag, von 1990 bis 1994 war er Umwelt­minister unter SPD-Ministerpräsident Gerhard Schröder. Dass seine Partei nach der Wende in Niedersachsen gegen den Bundestrend riesige Erfolge feierte, half ihm sicherlich dabei. „Ich wurde plötzlich Landesminister. Das hatte ich mir nicht ausgesucht, habe es aber gern gemacht.“ Gemeinsam mit Parteichef Joschka Fischer schmiedet er den Plan, die Regierung von Helmut Kohl zu beenden. Er hat ein Ziel – und schafft es. Mit Schröder ging Trittin auch nach Berlin, war sieben Jahre lang Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und verwirklichte seine größten Projekte.

Die Geschichte von DJ Dosenpfand

Unter anderem brachte er das Dosenpfand und das Erneuerbare-Energie-Gesetz (EEG) auf den Weg. Beides wirkt bis heute auf das öffentliche Bild Trittins, wenngleich auf unterschiedliche Art und Weise. Es sei ihm über die Jahre gelungen, sich von täglichen Schlagzeilen nicht beeinflussen zu lassen. ,DJ Dosenpfand‘ stand beispielsweise in einer Zeile neben seinem Namen. Wie es dazu kam, daran erinnert sich Jürgen Trittin noch immer gern zurück. Wahlkämpfe in Bayern führten ihn durch ansässige Brauereien, parallel dazu veranstaltete der Sender ,Radio1‘ ein Event und fragte bei Trittin an, ob er dort auflegen möchte. „Das fanden einige Leute so gut, dass sie mich eingeladen haben“, sagt der Fan von Werder Bremen über seine neue Karriere. In einem Münchener Saal legte er ,Ich würde nie zum FC Bayern München geh’n‘ von den ,Toten Hosen‘ auf. „Sie sahen einen Raum, der sich in der Mitte teilte.“ Irgendwann konnte ,DJ Dosenpfand‘ mit der Musik, die er abspielen sollte, nichts mehr anfangen. „Als ich in einer Kölner Bar die ,Scissor Sisters‘ auflegen sollte, war mir klar, dass diese Karriere vorbei ist.“ Erhalten bleibt sie nur in Überschriften und Erinnerungen der Gäste.

Jürgen Trittin gilt als Architekt des EEG. Dieses Gesetz war wegweisend für die Förderung erneuerbarer Ener­gien in Deutschland, indem es Einspeisevergütungen für Strom aus erneuerbaren Energiequellen wie Wind, Sonne und Biomasse garantierte. Trittin gilt als einer der Hauptverantwortlichen für die Einführung dieses Gesetzes im Jahr 2000, das Deutschland zu einem Vorreiter im Bereich der erneuerbaren Energien gemacht habe. Dass heute mehr als die Hälfte des Stroms aus erneuerbarer Produktion stammt und laut Trittin Länder wie Indien und die USA von der Forschung und Technik profitieren, mache ihn zwar nicht stolz, erfülle den Minister von damals aber mit Freude.

Für Trittin muss Politik über den Tag hinaus Perspektiven schaffen und künftigen Generationen gleiche oder bessere Lebenschancen ermöglichen. „Aber nicht zu Lasten anderer Menschen auf der Welt“, sagt Trittin und erklärt weiter, „wir haben lange darüber diskutiert, künftigen Generationen keine Bankschulden zu hinterlassen.“ Die Idee der sogenannten ,schwarzen Null’ finde er „im Prinzip richtig“. Doch Schaden droht, Sparmaßnahmen wie an Autobahn und dem Schienennetz könnten künftige Generationen sehr teuer kommen. Eine nachhaltige Politik sei im Sinne von Jürgen Trittin deshalb vor allem eine sozial gerechte Politik – Generationen übergreifend.

Göttingens erstaunliche Entwicklung

Der gebürtige Bremer studiert nach seinem Abitur Sozialwissenschaften und Volkswirtschaftslehre an der Universität Göttingen. Mit der Stadt bleibt er verbunden, arbeitet nach dem Abschluss als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Pressesprecher und freier Journalist. In den Jahren seines Wirkens habe Göttingen eine „erstaunliche Entwicklung“ durchgemacht. Es sei ihr gelungen, Stärken in den Bereichen der ,Human Science and Research‘ in wirtschaftliche Aktivitäten umzusetzen. Unternehmen wie Sartorius schafften es in den DAX, drum herum haben sich weitere Cluster entwickelt. Der Schwerpunkt der Stadt sei lange nicht mehr ,Prüfen‘ und ,Messen‘. „Insofern glaube ich, dass wir als Stadt auf einem guten Weg sind“, sagt Trittin. Kern- und Drehpunkt aber bleibe die Universität. Ein Faktum, das gehegt und gepflegt werden müsse, und das laut Trittin auch für den wirtschaftlichen Erfolg des Landes Niedersachsens „von zentraler Bedeutung“ sei. Ob das in Hannover auch so gesehen werde, bezweifelt er aber.

 

Was bleibt, Herr Trittin?

Dort und in Berlin war und ist Jürgen Trittin immer auf der Suche nach Verbündeten. „Egal in welcher Konstellation regiert wurde, hatten wir eine tolle Zusammenarbeit“, sagt Trittin und hofft, dass nach der nächsten Bundestagswahl 2025 wieder mehr Abgeordnete aus Südnieder­sachsen und speziell Göttingen nach Berlin entsandt werden. Nicht immer hat die Arbeit mit Verbündeten aber funktioniert. Dass der Bund 2013 versuchte, die Bankenkrise und die Schulden mit 80 Milliarden Euro auszugleichen, ärgert Trittin noch heute. Auch weil die anschließende Wahl – vermutlich deshalb – verloren ging. Eine Niederlage, aus der Trittin im Anschluss versuchte zu lernen. „Das Wichtigste ist ja nicht, dass man keine Fehler macht“, sagt Trittin. „Gute Systeme sind fehlerredundante Systeme, in denen Fehler gemacht werden können. Aber es ist immer die Herausforderung, dass man daraus lernt.“ Auch, dass die Landkreise Göttingen und Northeim aus ihren Standorten niemals einen gemacht haben, sieht er als ­Fehler. „Das hätte Northeim gutgetan, und das hätte Göttingen gutgetan.“ Die Kreisfusion von Göttingen und Osterode sieht er heute als „historische Leistung“ an.

Nach seinem politischen Abschied will Jürgen Trittin Göttingen treu bleiben. Der leidenschaftliche Läufer und Wanderer fühlt sich zwischen Kiessee und Wall wohl. „Ich habe mich immer bemüht, Werbung für den Standort zu machen.“ Im Sommer 2023 habe er den Entschluss gefasst, aufzuhören. Nur wenigen erzählte er davon, kurz vor Weihnachten machte er es offiziell. Auch die Zahl 25 spielte eine Rolle, mit dem Ende seines Mandats wären 27 Jahre voll gewesen – erst 2025 wird erneut gewählt. „Mir war klar, dass ich nicht noch einmal kandidieren werde.“ Was von seinem Wirken übrig bleibt, müssen laut Trittin andere bestimmen. Wenn heute mehr als die Hälfte des Stroms aus erneuerbarer Energie gewonnen und bis 2030 das letzte Kohlekraftwerk abgeschaltet wird, „dann sind das Dinge, die bleiben und zu denen ich einen Beitrag geleistet habe“. Und jetzt? Reden halten, Bücher schreiben? Was kommt, „werde man sehen“, sagt er. Bei seiner letzten Rede im Bundestag wurde Trittin zum Abschied noch einmal versöhnlich, aber deutlich. „Man darf Antidemokraten keine Macht übertragen. Nie wieder. Danke, dass ich in diesem Geiste 25 Jahre in diesem Haus arbeiten durfte.“ ƒ

 

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