Sie ist eine der Urenkelinnen von Gründer Florenz Sartorius, dessen Unternehmen heute sein 150-jähriges Jubiläum feiert: Karin Sartorius-Herbst. Sie selbst hat über die Hälfte ihres Lebens in den Räumen und verwinkelten Gängen des alten Werks in der Weender Landstraße in Göttingen verbracht. Zeit für ein paar Erinnerungen…

Bauzäune und Krater. Die Abrissbirne ist bereits wieder verschwunden. In etwa einem Jahr sollen die ersten Mieter im neu entstehenden Sartorius-Quartier zwischen Weender Straße und Annastraße einziehen. Karin Sartorius-Herbst steht am Bauzaun und schaut ein wenig wehmütig und zugleich erwartungsvoll hinüber zum erhalten gebliebenen Backsteingebäude aus dem Jahr 1898. „Als Kind kannte ich jeden versteckten Winkel und viele Mitarbeiter. Ich hatte schon, bevor ich eingeschult wurde, fast täglich unseren Vater bei der Arbeit besucht“, erzählt die Urenkelin des einstigen Gründers Florenz Sartorius. Der Pförtner schenkte ihr ab und an sein Pausenbrot. So war das damals.

„Ich hatte immer nur einen Wunsch: Ich wollte bei unserem Vater – Horst Sartorius – tätig werden und in der Firma arbeiten“, sagt die inzwischen über 70-Jährige mit einiger Bestimmtheit in ihrer Stimme. Dennoch war ihr Werdegang nicht unbedingt vorgezeichnet. Als sie nach dem Abitur ein Studium in Volkswirtschaft an der Universität Göttingen begann, war sie eine von wenigen Frauen, die sich überhaupt in diesen, damals männerdominierten Studiengang traute. „Ich war immer behütet aufgewachsen – aber nicht im Negativen“, sagt Sartorius- Herbst und erinnert sich gut, wie ihre Eltern sie nach zwei Semestern drängten, das heimatliche Nest zu verlassen und ihr Studium in Süddeutschland fortzusetzen. Sie ging, genoss die Ungebundenheit, lernte fleißig, machte ihr Examen und saß bereits drei Wochen nach ihrem Abschluss im Büro des Familienbetriebes.

Wenn man Karin Sartorius-Herbst fragt, welche Position sie während all der Zeit im Unternehmen innehatte, so antwortet sie lakonisch mit einem Augenzwinkern: „akademischer Butler meines Vaters.“ Sie habe immer versucht, ihm das Leben zu erleichtern. „Aber ich war nicht die Sekretärin“, fügt sie hinzu. Stattdessen arbeitete sie Vorträge aus, schrieb Protokolle und begleitete ihn ab und zu auf wichtigen Sitzungen – sie war eine Beobachterin im Hintergrund.

Doch über die Jahre hinweg verdiente sie sich im Unternehmen noch einen weiteren ‚Titel‘. „Ich wurde dort hinter vorgehaltener Hand die ‚Sozialministerin‘ genannt“, sagt sie lachend, um doch gleich wieder ernst zu werden. Denn soziale Missstände gab es schon immer, damals wie heute. Und die Familie Sartorius ebenso wie das Unternehmen standen und stehen weiterhin für ein ausgeprägtes soziales und kulturelles Engagement.

Dass ihr Vater über betriebliche Belange hinaus oft für seine Mitarbeiter sorgte, war selbstverständlich. „Auch meine Mutter hat uns Kindern in die Wiege gelegt, uns um Menschen zu kümmern, denen es nicht so gut geht“, so die Urenkelin des Gründers. Die Werte Nächstenliebe, Gerechtigkeit und Vertrauen waren wichtig und wurden tagtäglich gelebt.

Dabei sind es nicht immer nur die großen Gesten, sondern vor allem die kleinen, die auffallen und im Gedächtnis bleiben. „Geburtstage wurden bei uns nicht selten groß gefeiert – ganze Bus-Ausflüge wurden für uns Kinder organisiert“, erzählt Sartorius-Herbst und schwelgt für einen Moment sichtbar zufrieden in Erinnerungen. Dabei blieben die Sartorius-Sprösslinge selten unter sich. Vielmehr wurden auch Kinder aus der Belegschaft und der Nachbarschaft eingeladen. „Vor allem auch jene, von denen man wusste, dass die Eltern nur schwer die Möglichkeit hatten, selbst große Feiern zu veranstalten.“ Eine leise, unaufdringliche Geste, die mit Sicherheit vielen der kleinen Gäste ein Leben lang in Erinnerung blieb. Und überhaupt: Gefeiert wurde bei Sartorius immer gern. „Wir fanden immer Anlässe“, sagt Karin Sartorius-Herbst schmunzelnd. Noch während ihrer Zeit bei Sartorius führte sie für die Kinder der Mitarbeiter eine Weihnachtsfeier ein, bei welcher alle Kinder ins Deutsche Theater eingeladen wurden – das konnten bei vollbesetztem Haus schon mal bis zu drei Veranstaltungen werden. Für lange Betriebszugehörigkeit gibt es bis heute eine Jubiläumsfeier zum Jahresende. Karin Sartorius-Herbst ist jedes Jahr anwesend, gratuliert den Jubilaren und hält eine kleine Begrüßungsrede. „Wenn Menschen irrsinnig lange in einem Unternehmen arbeiten, muss man das auch mal honorieren!“

Als ihr Vater 1998 starb, verzichtete die Familie bewusst auf Blumen am Grab. Stattdessen baten Horst Sartorius‘ Kinder die Trauergemeinde um Spenden, die schwerstkranken Kindern von Sartorius-Mitarbeitern zugutekommen sollten. Als Erstes wurde mit diesen Spenden ein achtjähriger Junge unterstützt. „Es war wie eine Fügung: Ich hörte von seinem Schicksal und sah am Abend im Fernsehen einen Bericht über die heilende Wirkung von Delfinen auf kranke Menschen, und ich dachte nur: Das ist es“, sagt Sartorius-Herbst. Mithilfe der Lufthansa und weiterer Unterstützung konnte der Junge zusammen mit seiner Familie vier Wochen nach Florida zu einer Therapie mit Delfinen fahren, die für den Jungen eine sehr positive Wirkung hatte.

Noch heute ist das zutiefst Berührende dieser Erinnerung spürbar. Eine Stille breitet sich aus, die mehr ist als nur ein Moment des Nichtredens. Jetzt wird spürbar, dass hier eine Dame sitzt, deren ehrenamtliche Arbeit von einem zutiefst menschlichen Bedürfnis getrieben wird: Dem Wunsch anderen zu helfen. „Manchmal denke ich: Nimm dich ein bisschen zurück“, sagt sie und lacht, als sie weiterspricht. „Aber ich kann es nicht!“ So übernahm sie zehn Jahre lang den Vorsitz der Stiftung der Palliativmedizin der UMG – sie organisierte Benefizkonzerte, deren Einnahmen komplett der Stiftung zugutekamen. Mit ihrer Hilfe konnte das Stiftungsvermögen erheblich aufgestockt werden. Und auch die Händelfestspiele in Göttingen gehören zu einem ihrer Herzensprojekte. „Meine Eltern hatten ‚Händel‘ schon in meiner Kindheit unterstützt. Damals wohnten die Musiker bei uns zu Hause, und wir Kinder mussten für diese Zeit unsere Zimmer räumen und uns immer ganz still verhalten“, erinnert sie sich – die Leidenschaft zur Musik begleitete sie ihr ganzes Leben. Sie begann bereits als Kind, Klavier zu spielen, und nimmt bis heute Unterricht. „Auch wenn ich nicht immer so zum Üben komme, wie ich es sollte“, gesteht sie offenherzig und ist dankbar für ihre geduldige Lehrerin.

„Ich weiß im Leben genau, was ich will“, sagt sie und schaut noch einmal auf ihren Zettel mit den Notizen. Sie sieht in diesem Interview vor allem eine Chance, auf unterstützenswerte Projekte aufmerksam zu machen. Ihr selbst reiche es oft einfach aus zu wissen, dass sie durch Spenden Menschen glücklich machen konnte. Dennoch: Größere Einrichtungen wie die ,Innere Mission‘ und ,Vital im Alter‘ für ältere Menschen oder die ,OASE‘ für Menschen, die durchs soziale Netz gefallen sind, oder ,LuToM‘ – für Kinder und Jugendliche, die mit schwerer Krankheit, Sterben und Tod konfrontiert sind, sind für sie lohnende Förderprojekte, in die sie gern viel Zeit investiert.

Bodenständig und menschlich ist sie auch in ihrem privaten Leben. „Man sollte immer mit den Füßen auf dem Boden bleiben“, sagt Sartorius-Herbst und verbringt auch ihren Urlaub lieber etwas bescheidener. Am liebsten fährt sie an ruhigere, weniger touristische Orte an ihrer geliebten Ostsee. Und das wird sie auch in diesem Sommer machen und dann weitersehen. „Man muss nach vorn blicken: Ich bin kein Mensch, der dem Vergangenen nachtrauert“, sagt sie und schaut dabei noch einmal hinüber zu dem wachsenden Sartorius- Quartier. „Unser Vater – wenn er das von oben sähe – würde sich freuen“, sagt sie zum Abschluss, scheinbar fast zu sich selbst, und wirkt zufrieden.

Foto: Alciro Theodoro da Silva
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