Drei Menschen füllen das Literaturhaus Göttingen mit Leben

Der Literaturherbst und das Literarische Zentrum haben eine neue Heimat: das Literaturhaus Göttingen. faktor trifft die beiden neuen Bewohner und den privaten Sponsor Joachim Kreuzburg zum Interview. Gemeinsam gehen Anja Johannsen und Johannes-Peter Herberhold mit dem Sartorius-Chef und Literaturfan der Frage nach, warum Lesen unser Leben reicher macht und Häuser eine Seele brauchen.

Lesen vergrößert die eigene Welt. Man erlebt dabei Geschichten, die man sonst eben nicht erleben würde. Und das empfinde ich als sehr bereichernd.

Joachim Kreuzburg

Der Literaturherbst und das Literarische Zentrum haben eine neue Heimat: das Literaturhaus Göttingen. faktor trifft die beiden neuen Bewohner und den privaten Sponsor Joachim Kreuzburg zum Interview. Gemeinsam gehen Anja Johannsen und Johannes-Peter Herberhold mit dem Sartorius-Chef und Literaturfan der Frage nach, warum Lesen unser Leben reicher macht und Häuser eine Seele brauchen.

Im Mai dieses Jahres öffnet das Literaturhaus Göttingen in der Nikolaistraße seine schwere alte Holztür, um die Besucher in seinen frisch sanierten Räumen zu begrüßen. Vor mehr als sechs
Jahren hatte der Geschäftsführer des Göttinger Literaturherbstes, Johannes-Peter Herberhold, die Idee, aus dem damals leer stehenden Haus einen Dreh- und Angelpunkt der Literatur zu machen. Die Lage in unmittelbarer Nähe zum Kunstquartier, die Größe – alles passte.

In Anja Johannsen, Geschäftsführerin des Literarischen Zentrums Göttingen, fand er eine Mitstreiterin, die sofort begeistert und mit von der Partie war. 2019 begann die Planungsphase. Während das Literarische Zentrum ein ganzjähriges Programm hat, ist der Göttinger Literaturherbst ein Festival mit rund zwei Wochen vollem Programm an unterschiedlichen Spielorten. Jetzt sind beide Institutionen unter einem Dach vereint und können noch enger als bisher zusammenarbeiten.

Ermöglicht hat dies unter anderem der Sartorius-Vorstandsvorsitzende Joachim Kreuzburg, der mit Geld aus seiner eigenen Tasche und Know-How entscheidend dazu beiträgt, das Literaturhaus mit Leben zu füllen.

Seit einem halben Jahr ist das Literaturhaus nun geöffnet. Das Literarische Zentrum hat dort erste Veranstaltungen durchgeführt, der Literaturherbst findet demnächst statt. Würden Sie sagen, das Haus hat bereits eine Seele?

Johannes-Peter Herberhold: Das Haus hat auf jeden Fall bereits eine Seele! Mir ist aufgefallen, dass ich an diesem Haus früher immer vorbeigelaufen bin, all die Jahre. Der Haupteingang war zugemauert. Die Fenster von innen verblindet. Man hat es gar nicht wahrgenommen, dieses Haus. Wenn ich heute dort langgehe, dann denke ich: Das ist eigentlich ,das‘ Ankerhaus in diesem Straßenzug. Das wird sich zum schlagenden Herzen des Literaturherbstes entwickeln.

Anja Johannsen: Die Rede des deutsch-bosnischen Schriftstellers Saša Stanišić, dem wir bei der Eröffnungsveranstaltung alle zu Füßen lagen, hatte genau das zum Thema: Was für eine Seele hat so ein Haus? Oder bildlich gesprochen: Welche Musik spielt eigentlich in solch einem Haus? Und überhaupt in Literaturhäusern? Es ging dabei vor allem um die Vielstimmigkeit der Musik, die erklingen soll. Ich glaube, das lösen wir jetzt schon ein. Wenn man dieses Haus betritt, ist gleich klar: Hier passiert etwas Tolles.

Joachim Kreuzburg: Ich hatte während der gesamten Entstehungsgeschichte des Umbaus den Eindruck, dass ganz viele Menschen mit großer Freude mitgemacht haben. Sie beide natürlich, aber auch alle am Bau Beteiligten. Ich glaube, man spürt, mit wie viel Herzblut und Hingabe an diesem Projekt gearbeitet wurde.

Johannsen: Aber es wäre alles gar nicht gegangen ohne Sie, Herr Kreuzburg. Der Verbindung zwischen Ihnen und Johannes-Peter Herberhold ist es zu verdanken, dass es überhaupt zu dieser Kooperation hat kommen können.

Wie kam es denn zu dieser Kooperation?

Kreuzburg: Mit dem neu eröffneten Literaturhaus entstand eine räumliche Nähe zum Kunsthaus – dem zentralen Punkt des Göttinger Kunstquartiers –, bei dem Sartorius großer Unterstützer ist. Dort ermöglichen wir aktuell freien Eintritt für alle. Das ist ein ganz wichtiger Anreiz, Menschen dazu zu bewegen, hineinzugehen und die Kunst zu erleben. Und dann ist Sartorius als Unternehmen natürlich auch seit vielen Jahren Partner des Literaturherbstes.

Herberhold: Seit 18 Jahren, um genau zu sein. Kreuzburg: Und das aus großer Überzeugung und mit viel Begeisterung. Im Falle des Literaturhauses habe ich mich allerdings privat engagiert.

Wie genau sieht Ihr privates Engagement aus?

Kreuzburg: Ich habe wesentliche Teile des Umbaus aus eigener Tasche finanziert. Durch ihre persönliche Unterstützung setzen Sie ein Zeichen. Welche Rolle spielt Literatur in Ihrem Leben?
Kreuzburg: Ich lese seit frühester Jugend und das sehr gern und reichlich. Lesen vergrößert die eigene Welt. Man erlebt dabei Geschichten, die man sonst eben nicht erleben würde. Und das empfinde ich als sehr bereichernd.

Verbinden Sie mit Ihrem Engagement irgendwelche Hoffnungen?

Kreuzburg: Hoffnung… [überlegt] Es ist interessant, dass Sie das so herum fragen. Ich habe mir die Frage so nie gestellt. Als mir Herr Herberhold die Idee vorstellte und fragte, ob ich das Projekt unterstützen möchte, war ich einfach davon begeistert, und ich bin überzeugt, dass das Literaturhaus ganz wunderbar funktionieren und vielen Menschen Freude machen wird.

Man erzählt, Sie waren im Frühjahr 2022 oft morgens schon um halb sieben auf der Baustelle, um nach dem Rechten zu sehen?

Kreuzburg: [lacht] Ich war jetzt nicht täglich auf der Baustelle, aber schon involviert. Vor allem in der Planungsphase, weil es mir sehr wichtig war, dass wir das Bestmögliche aus den baulichen Gegebenheiten herausholen konnten. Die eigentliche Arbeit hat dann aber natürlich ein kompetentes Kernteam mit ganz hervorragenden Experten geleistet. Die muss man machen lassen und sollte nicht im Weg herumstehen.

Wie sieht Ihre weitere Teilhabe am Literaturhaus aus?

Johannsen: [lacht] Es gibt da so eine Ecke im Haus, die könnte die ‚Kreuzburg-Ecke‘ werden. Sie haben immer wieder gesagt: „Genau da werde ich dann immer sitzen…, den Arm so lässig auf die Brüstung …“ Ich denke jedes Mal an Sie, wenn ich an dieser Ecke vorbeigehe.

Kreuzburg: Okay. [lacht] Dann werde ich mich da wohl tatsächlich ab jetzt hinsetzen. Ich freue mich einfach auf die kommenden Veranstaltungen – auf das Programm des Literarischen Zentrums und des Literaturherbstes. Leider bin ich geschäftlich viel unterwegs und kann nicht so häufig dabei sein, wie ich das gern würde. Das habe ich während der Pandemie tatsächlich genossen: Der Literaturherbst hatte 2020 und 2021 seine Veranstaltungen durchgeführt, bevor der jeweils nächste Lockdown kam, und gleichzeitig konnte man nicht viel reisen. Als Folge konnte ich in den letzten beiden Jahren an mehr Veranstaltungen teilnehmen als zuvor.

Nach drei Jahren von der Konzeptphase bis zur Eröffnung ist es nun geschafft. In diesem Jahr wird der Literaturherbst endlich in den eigenen Räumen stattfinden. Wie fühlt sich das für Sie an, Herr Herberhold?

Herberhold: Allein das. In seinem eigenen Haus die Pressekonferenz für diese Veranstaltung machen zu können! Und dann ist da auch das Festivalbüro. Das heißt, vorn am Eingang können sich die Leute schon einmal die Bücher ansehen, die besprochen werden. Sie können Tickets kaufen. Und wir haben endlich auch ein eigenes Festivalzentrum, wo das Apex-Team während der Laufzeit des Literaturherbstes eine Pop-up-Kneipe machen wird. Das hat sich die Apex-Küchenchefin Jacqueline Amirfallah schon lange gewünscht. Dort kann man sich informieren, abends einfach mal vorbeikommen und mit Künstlern zusammensitzen, eine Kleinigkeit essen und trinken. Und das alles unter einem Dach – das Literaturhaus als Zentrum eines Literaturfestivals. Die Johanniskirche, das Alte Rathaus, die Paulinerkirche, das Deutschen Theater – all diese wunderbaren Spielorte, an denen weitere tolle Lesungen stattfinden werden, sind fußläufig um uns herum. Ich bin so gespannt auf das, was da entsteht. Toll.

Johannsen: Das macht so einen Unterschied. Obwohl wir als Literarisches Zentrum nur eine Straße weitergerückt sind. Einfach dieser enorme Zugewinn an Sichtbarkeit und die  Tatsache, dass man Laufpublikum haben kann.

Kreuzburg: Ich glaube, es gibt in Göttingen wahnsinnig viele Literaturfans. Und Fans sind ja das Beste, was man sich wünschen kann. Das sind Leute, die nicht nur kommen, weil sie es ,irgendwie‘ interessant finden, sondern die wirklich sagen: Das ist mein Ding. Entsprechend ist die Stimmung, und darauf freue ich mich! Und natürlich auch darauf, dass es hoffentlich gelingt,
die Dinge in der Innenstadt noch ein bisschen besser miteinander zu verweben. Der Garten des Kunsthauses ist ein sehr schöner, fast meditativer Ort. Es wäre sehr bereichernd, das  Literaturhaus mit diesem Garten zu verbinden.

Wo Sie gerade das Kunsthaus nochmal ansprechen – das Projekt wurde im Vorfeld ja immer wieder durchaus heftig und kontrovers diskutiert. Um das Literaturhaus, das ja auch zum Kunstquartier gehört, gab es weniger öffentliche Debatten. Woran lag das?

Kreuzburg: Ein Umbau innerhalb eines Gebäudes ist natürlich weniger auffällig als ein Neubau. Man bekommt wirklich erst mit, was darin Neues geschaffen wurde, wenn die Tore aufgehen.

Herberhold: Die Kritik entzündet sich doch häufig an öffentlichen Geldern, die dann im Vorfeld meistens zu knapp geplant worden sind. Wir hatten zwar große Unterstützung von Oberbürgermeister Köhler und jetzt auch von Oberbürgermeisterin Broistedt – und überhaupt hat die Stadt vieles möglich gemacht. Doch wir hatten Sponsoren, finanzieren das Haus vor allem über die hereinkommenden Mieten – denn der Saal des Literaturhauses kann für Feiern, Empfänge oder Konferenzen angemietet werden – und die Personalstellen gab es alle vorher schon.

Johannsen: Das bedeutet, es fließt natürlich städtisches Geld in die Institutionen, aber eben kein Cent mehr als zuvor. Wer sollte sich also darüber aufregen? Außer einem radikalen  Literaturgegner.

Und die gibt es?

Herberhold: Nein, das ist ja das Schöne an der Literatur.

Kreuzburg: Es gibt höchstens Ignoranz.

Ignoranz ist ein passendes Stichwort: Wir haben Krieg. Wir haben Pandemie. Würden Sie sagen, dass sich die Aufgabe von Literatur verändert?

Johannsen: Das hat Saša Stanišić in seiner Eröffnungsrede eigentlich alles schon vorweggenommen. Er hat erklärt, inwiefern das, was wir so tun, immer notwendiger wird. Je schlimmer das ist, was viele erleben müssen, desto wichtiger ist es, dass es Räume gibt, in denen gesprochen, gesungen und musiziert werden kann. In denen man sich begegnen kann. Dabei muss jedoch nicht immer nur Harmonie produziert werden. Es sollte auch Abende und Tagesveranstaltungen geben, wo man irritiert oder nachdenklich nach Hause geht. Hauptsache,
es gerät irgendetwas in Bewegung. Meiner Auffassung nach ist das die Hauptaufgabe von einer Kulturinstitution: die Köpfe zu öffnen.

Herberhold: Belletristik ist natürlich auch immer ein Spiegel dessen, was so passiert, gesellschaftlich. Es ist ein offenes Spielfeld. Wie Herr Kreuzburg vorhin sagte: Man liest etwas, und es folgt die persönliche Bewusstseinserweiterung. Für das Literaturhaus kann ich sagen: Erklär-Literatur gehört bei uns ganz viel dazu, ebenso wie Sachbücher. Wenn Sie heute im TV  anschauen, wer da alles als Experte oder Expertin auftaucht… Die waren alle schon einmalbei uns. Denn die Probleme, die sie jetzt diskutieren, bestehen nicht erst seit gestern. Heute
sitzen sie bei Markus Lanz, aber vorgestern waren die im Literaturherbst in Göttingen, weil sie sich vorvorgestern schon Gedanken über diese Themen gemacht haben.

Kreuzburg: Ich möchte jetzt an sich nicht breit darauf eingehen, ob und wie weit die Gesellschaft zersplittert oder sich sogar Fronten bilden. Denn es ist wichtig, die vielen Beispiele zu sehen, wo das nicht so ist und Menschen gemeinsam großartige Dinge erreichen. Aber tatsächlich gibt es viel zu häufig ein unglaubliches Maß an Intoleranz – und jedes einzelne Mal ist eines zu viel. Wenn Intoleranz in Ignoranz mündet, dann wäre es noch halbwegs erträglich. Aber nach meinem Empfinden mündet es heute in noch viel höherem Maß als noch vor 20 oder
30 Jahren in Gegnerschaft, Anfeindungen und Hass. Und da kann sich tatsächlich diese Horizonterweiterung durch Lesen positiv auswirken. Man liest etwas über den Alltag von Menschen, die ganz anders leben – dieses teilweise Eintauchen oder sich Auseinandersetzen kann dazu beitragen, neu und anders auf Dinge zu blicken und anders damit umzugehen. Insofern würde ich
das schon so sehen, dass in diesen Zeiten Literatur und auch andere Kunstformen eine immens wichtige Rolle spielen können.

Ein schönes Schlusswort, danke dafür – und vielen Dank Ihnen allen für das Gespräch.
Fotos: Alciro Theodoro da Silva
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