„Entscheidend sind die Menschen“
Vor knapp zehn Jahren stellte der Vorstandsvorsitzende Joachim Kreuzburg mithilfe des Strategieprojekts ,Sartorius 2020‘ die Weichen für die nächste Entwicklungsphase des Pharma- und Laborzulieferers. Seitdem wurden viele eingreifende Veränderungen umgesetzt: die Weiterentwicklung zur Holding, die spartenübergreifende Verzahnung des Laborgeschäfts, diverse Bauprojekte sowie personelle Veränderungen auf allen Ebenen. Pünktlich zum großen Jubiläum – 150 Jahre Sartorius – erzählt Kreuzburg im Interview, wie der Konzern auch in den nächsten Jahren strategisch weiter wachsen will.
Herr Dr. Kreuzburg, 2020 ist für Sartorius eine besondere Jahreszahl. Vor genau 150 Jahren wurde die ,Feinmechanische Werkstatt F. Sartorius‘ von Florenz Sartorius gegründet. Was bedeutet dieses Jubiläum für Sie?
Zum Jubiläum werden wir vor allem nach vorn schauen und das aufgreifen, was bereits bei Florenz Sartorius erfolgskritisch war: Innovation, entsprechende Netzwerke und aktive Internationalisierung. Er gründete seine Feinmechanische Werkstatt aus der Zusammenarbeit mit Göttinger Universitätsprofessoren heraus, und ein gutes halbes Jahrhundert später gingen seine Söhne ein Joint Venture mit dem in Göttingen forschenden Nobelpreisträger und Erfinder der Membrantechnologie, Richard Zsigmondy, ein. Innovationen und Kooperationen sind bis heute Teil unserer DNA und ein wesentlicher Baustein unseres Erfolgs. Ich persönlich freue mich sehr, Teil dieses Teams zu sein und die Entwicklung des Unternehmens schon rund 20 Jahre lang intensiv begleiten und gestalten zu können.
Wie werden Sie dieses Jubiläum begehen?
Wir werden in einer Reihe von Veranstaltungen gemeinsam mit Kunden, Wissenschaftlern und Mitarbeitern einen Blick in die Zukunft unserer Branche werfen: Wohin steuert unsere Industrie? In welchen Bereichen gibt es die nächsten Durchbrüche und Chancen? Am 3. und 4. Juni veranstalten wir in Göttingen dazu das Sartorius Life Science Festival, bei dem mehr als 300 Experten und kreative Köpfe mit Vordenkern der Branche über Trends und Herausforderungen der Life-Science-Industrie diskutieren. Auch die Bundeskanzlerin Angela Merkel hat für den 4. Juni ihre Teilnahme zugesagt. Für die Mitarbeiter sind an vielen Standorten Familientage geplant, in Göttingen am 11. Juli. Tags darauf öffnen wir die Campus- Tore für die Göttinger.
In diesem Jahr endet auch die ‚Strategie 2020‘, die Sie vor rund zehn Jahren entwickelt haben. Im faktor-Interview im Jahr 2012 antworteten Sie auf die Frage, wo Sartorius dann steht: „Wir glauben, dass wir Ende 2020 dreimal so groß sein können wie heute, noch internationaler, noch professioneller und schneller. Gleichzeitig wollen wir ein Technologieunternehmen mit Herz bleiben, das sich seine Wurzeln und familiäre Art bewahrt.“ Wie ist der Status Quo? Gibt es Punkte der Agenda, die noch offen sind?
Wir sind auf einem guten Weg, diese Punkte zu erreichen. Wir wachsen seit Jahren im Schnitt deutlich zweistellig und werden nach unserer Prognose für das Jahr 2020 unser Ziel von zwei Milliarden Euro Umsatz erreichen oder überschreiten. Zudem sind wir heute mit Mitarbeitern aus 77 Nationen und Vertretungen in mehr als 110 Ländern noch internationaler. Aber das heißt nicht, dass diese Punkte abgehakt sind. Es ist weiter unser Ziel, noch näher am Kunden zu sein, um mehr Menschen Zugang zu besserer Medizin zu ermöglichen. Im Übrigen wird diese strategische Ausrichtung nun auch durch unseren neuen Markenauftritt noch stärker reflektiert, der in ‚simplifying progress‘ zusammengefasst ist, also unserem Versprechen an die Kunden, Fortschritte bei der
Entwicklung und Herstellung von Medikamenten zu vereinfachen.
Einige Ziele haben Sie vor Ablauf der Frist erreicht. Worauf sind Sie besonders stolz?
Darauf, dass wir einen Beitrag dazu leisten, dass heute neue, hochwirksame Krebsmedikamente und Impfstoffe entwickelt werden und verfügbar sind und dass mit Biosimilars auch günstigere Präparate auf dem Markt an gekommen sind. Und auf einen weiteren Aspekt: Sartorius ist einfach ein tolles Unternehmen mit einem hervorragenden, ambitionierten Team und bietet ungewöhnlich vielfältige Entwicklungsmöglichkeiten. Darauf darf nicht nur ich, darauf dürfen wir alle bei Sartorius stolz sein. Ein Grund zum Zurücklehnen ist das allerdings nicht. Aufgrund der Dynamik der Branche gibt es weiter viel zu tun.
Bei allem Erfolg – gab es Projekte, bei denen Sie gescheitert sind oder vielleicht zu früh am Markt waren?
Selbstverständlich. Zum Beispiel konnten wir nicht jede Akquisition, an der wir interessiert waren, umsetzen, etwa weil der Preis nicht passte oder die Eigentümer des Zielunternehmens nicht interessiert waren. Wir hängen aber nicht sehr an Vergangenem, sondern blicken lieber nach vorn und scannen den Markt laufend systematisch nach zusätzlichen innovativen Technologien, die unseren Kunden weiterhelfen.
Ein Blick in die Zukunft: Sie sagten in einem Interview, dass Sie alle fünf Jahre Ihren Umsatz verdoppeln wollen. Wo sehen Sie die größten Wachstumschancen?
Geografisch gesehen in China und den USA. Nordamerika wird auf absehbare Zeit der größte Biopharma-Markt bleiben. Hier haben wir weiter Chancen, überdurchschnittlich zu wachsen, auch weil unsere Marktanteile noch ausbaufähig sind. Am stärksten wollen wir allerdings in China zulegen, da hier das Marktwachstum am höchsten ist und nun von dort auch zunehmend Innovationen kommen. Dementsprechend stehen nach dem umfangreichen Ausbau unserer Aktivitäten in Göttingen nun auch intensive Investitionen in unsere Präsenz in China und den USA auf dem Programm. Dies betrifft die marktnahen Funktionen, Anwendungslabore und die Fertigungskapazitäten. Aber auch in Europa wollen wir weiter expandieren, wenn auch voraussichtlich weniger schnell als in den USA und China. Auch technologisch gesehen haben wir viel auf der Agenda, beispielsweise für das Anwendungsfeld Zell- und Gentherapie.
Wie zufrieden sind Sie mit den Fortschritten im Quartier an der Weender Landstraße?
Nach dem Umzug auf den Sartorius Campus wollten wir nicht einfach ‚den Schlüssel über den Zaun werfen‘, sondern unter dem Motto Bilden, Gründen, Wohnen zusammen mit sehr guten Partnern wie Hamburg Team, dem Gesundheitscampus, Ottobock und Freigeist ein innovatives, kreatives Quartier rund um das Schwerpunktthema Gesundheit schaffen. Insgesamt werden hier mehr als 120 Millionen Euro in die Stadtentwicklung Göttingens investiert, davon seitens Sartorius mehr als zehn Millionen Euro in die Restaurierung der historischen Gebäude und in den Neubau unserer Life Science Factory. Inzwischen ist die Sanierung des historischen Kerns weitgehend abgeschlossen, und die Wohnungen an der Annastraße, die der Immobilienentwickler Hamburg Team baut, sind verkauft. Das Sartorius Quartier nimmt allmählich Gestalt an, und die Bauarbeiten liegen im Plan, daher bin ich sehr zufrieden. Ende 2022 soll das gesamte Quartier fertiggestellt sein.
Wird der Standort Göttingen bei allem Wachstum demnächst an seine Grenzen stoßen? Wie sehen Ihre Pläne dahingehend aus?
Nicht nur der Sartorius Campus ist zuletzt kräftig gewachsen: Vor fünf Jahren arbeiteten in Göttingen knapp 2.000 Mitarbeiter, heute sind es rund 3.000. Wir gehen davon aus, dass wir künftig überdurchschnittlich viele Mitarbeiter in den Wachstumsregionen USA und China einstellen werden, viele werden auch über Zukäufe ins Unternehmen kommen. Wenn wir unsere Wachstumspläne umsetzen, werden wir 2025 etwa 15.000 Menschen weltweit beschäftigen, davon werden dann zwischen 3.500 und 4.000 Menschen in Göttingen arbeiten. Die Grenzen setzen dabei nicht die Erweiterungsmöglichkeiten auf dem Campus, sondern es ist viel mehr die Herausforderung, hoch qualifizierte Mitarbeiter und deren Angehörige, die womöglich auch einen Job benötigen, nach Göttingen zu holen. Ziel muss also sein, im Zusammenspiel mit anderen Partnern die Attraktivität der Stadt zu erhöhen. In Deutschland werden wir auch unsere Standorte in Ulm und Guxhagen sowie unser neues Büro auf Bötzow in Berlin erweitern, in dem vor allem Spezialisten für Digitales Marketing, Software
Engineering oder Business Development arbeiten werden. Dennoch ist klar: Göttingen bleibt Herz, Kopf und Motor des Konzerns.
Erst vor Kurzem wurde Ihr Vertrag vorzeitig für weitere fünf Jahre verlängert. Was möchten Sie in dieser Zeit noch ganz konkret umsetzen?
Wir wollen für unsere Kunden noch relevanter werden, zum Beispiel durch innovative Technologien, die neuartige Behandlungsansätze wie Zell- und Gentherapie markt fähig und für mehr Menschen verfügbar machen. Auch Datenmanagement und Automatisierung werden eine größere Rolle spielen. Der Markt dreht sich weiter, und die Innovationsgeschwindigkeit ist enorm. Finanziell haben wir anspruchsvolle Mittelfristziele formuliert. Wir wollen unseren Umsatz bis 2025 innerhalb von fünf Jahren auf rund vier Milliarden Euro verdoppeln und dabei noch profitabler werden.
Abgesehen von wachsenden Umsatzzahlen: Welche Vision haben Sie von der Sartorius AG der Zukunft?
Entscheidend sind die Menschen. Wir wollen Plattform für kluge, kreative Köpfe sein, die das gleiche Ziel antreibt wie uns: dazu beizutragen, neue wissenschaftliche Erkenntnisse schneller und kostengünstiger in neue
Therapeutika zu überführen. Dafür arbeiten wir bei Sartorius mit einer Reihe exzellenter Partner an übergeordneten Innovationsthemen, um künftige Schlüsseltechnologien und Anwendungsfelder zu identifizieren und neue Lösungsansätze zu entwickeln. Mit dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz betreiben wir beispielsweise das ,Sartorius Artificial Intelligence Lab‘, in dem wir die Steuerung komplexer biopharmazeutischer Herstellprozesse optimieren.
Steigende Mitarbeiterzahlen führen häufig zu Anonymisierung. Glauben Sie, dass Sie die familiäre Unternehmenskultur auch im Zuge von Digitalisierung und Industrie 4.0 weiterleben können? Und wenn ja, wie werden Sie das umsetzen?
Sartorius beschäftigt mehr als 9.000 Mitarbeiter weltweit. Wenn Sie darunter verstehen, dass noch jeder jeden Namen kennt, dann ist das bei der Größe unseres Konzerns nicht mehr möglich. Wenn es aber darum geht, ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu erhalten und viel miteinander zu sprechen, dann beantworte ich die Frage klar mit Ja. Dafür haben wir auf dem Campus und auch an anderen Standorten bewusst eine Reihe von Möglichkeiten geschaffen, in offenen Strukturen zu arbeiten sowie persönliches Treffen und Austauschen zu fördern. Und schließlich tragen auch unsere Familientage in großem Maße dazu bei, dieses Gefühl zu erzeugen.
Sehen Sie in der biopharmazeutischen Industrie in näherer Zukunft einen Peak? Und wenn ja, wie bereiten Sie sich darauf vor?
Wir sehen die Biopharma-Branche eher noch in einer relativ frühen Phase ihrer Entwicklung. Heute machen Biopharmaka rund ein Viertel der Arzneien auf dem Markt aus. In den Entwicklungspipelines ist dagegen schon fast jedes zweite Medikament ein Biopharmazeutikum. Zudem lassen die therapeutischen Durchbrüche in der Gen- und Zelltherapie auf weitere Fortschritte hoffen, und auch regenerative Behandlungsansätze erscheinen zunehmend realistisch. Klar ist auch: Die wachsende Bedeutung des chinesischen Marktes erzeugt nochmal einen neuen, herausfordernden Impuls.
Wo sehen Sie Ihren persönlich größten Erfolg in den vergangenen Jahren?
Neben der einen oder anderen Akquisition besteht nicht nur mein größter Erfolg, sondern der des gesamten Teams, wahrscheinlich darin, dass uns die Wachstumsschmerzen, die es natürlich auch gab und gibt, nicht von unserem erfolgreichen Kurs abgebracht haben, zu einer besseren medizinischen Versorgung für mehr Menschen beizutragen. Auch die allermeisten Mitarbeiter, Kooperationspartner oder Aktionäre dürften mit der Entwicklung von Sartorius zufrieden sein. Als Erfolg bezeichnet man ja immer etwas Zurückliegendes. Wir wollen und müssen aber nach vorne schauen und einen Schritt weiter gehen, um auch morgen erfolgreich zu sein.
Wie sehen Ihre persönlichen Ziele für die Zukunft aus? Gibt es ein Leben nach Sartorius?
Es gibt sogar schon ein Leben während Sartorius. Ich habe meinen Vertrag erst vor wenigen Monaten bis 2025 verlängert, und ich freue mich sehr, zusammen mit meinen Kollegen und dem ganzen weltweiten Team die
Zukunft von Sartorius weiter gestalten zu können. Wenn ich dann noch hin und wieder in ein Konzert gehen, auf einen Berg steigen und ein Glas Wein trinken kann, ist alles perfekt.
Herr Dr. Kreuzburg, vielen Dank für das Gespräch.