Stadtfriedhof Göttingen: Über allem schwebt Vergänglichkeit

140 Jahre Göttinger Stadtfriedhof. Zahllose Kreise entstehen, als die Regentropfen auf die Wasseroberfläche des Teiches treffen. Im nächsten Moment sind sie verschwunden, neue folgen ihnen, durchdringen einander. Lange blicke ich auf den kleinen See mit den verblühten Seerosen, während der Regen unablässig vom Himmel stürzt. Die Tropfen sind ein wenig wie das Leben, das kommt und vergeht – denke ich schutz­suchend unter dem Blätterdach einer riesigen Buche auf dem Göttinger Stadtfriedhof. Geschätzte 65.000 Kreise müsste ich zählen, so viele Menschen fanden hier seit 140 Jahren – genauer seit dem 15. Dezember 1881 – ihre letzte Ruhestätte.

Wie viel hat sich in den Jahren gewandelt? Ich brauche mich in meiner Zuflucht vor dem Regen nur umzudrehen. Mein Blick fällt auf ein Grab, das mit ­seinen Säulen und einer knienden Frauenskulptur mit einem Strauß Blumen im Arm an einen kleinen griechischen Tempel erinnert. Bruno Blaschny widmete den Bau seiner 1927 verstorbenen Frau Helene. Zuvor war ich am Urnenfeld des Friedhofs entlanggekommen, an einer hölzernen Stele hängen Tafeln mit Lebensdaten von Verstorbenen. Ihre Urnen sind anonym beigesetzt. 94 Jahre liegen zwischen den Gräbern. Sie drücken mehr aus als nur den persönlichen Verlust, erzählen vom Wandel der Bestattungskultur.

Und ohne Wunsch nach einem Wandel wäre der Stadtfriedhof auch nicht entstanden: abgerückt von den Kirchen zu bestatten, in einer parkähnlichen Umgebung, mit Raum für bürger­liches Selbstbewusstsein. Angeregt hatte ihn seinerzeit Bürgermeister Georg Merkel. „Bei meinem Eintreffen in Göttingen fand ich nun alle Kirchhöfe in einem solchen Zustande der Überfüllung (Gebeine wurden fast bei allen Beerdigungen zutage gefördert), der Vernachlässigung, Unordnung und Verwilderung, dass der Pietät wie der Sanität in unerhörter Weise Hohn gesprochen wurden“ – zitiert Jürgen Döring die Erinnerungen des Bürgermeisters in seinem Buch ,Geschichte der alten Göttinger Friedhöfe‘. Nicht nur in Göttingen entstanden damals solche Parkfriedhöfe. Sie faszinieren bis heute mit ihren majestätischen alten Bäumen, den kunstvoll gearbeiteten Grabsteinen und vor allem den Lebensgeschichten der Beerdigten.

Der hiesige Stadtfriedhof hat dennoch eine ganz eigene Gestalt. Weniger ausladende Mausoleen oder prachtvolle Grabanlagen von Unternehmern prägen das Bild dieser parkähnlichen Anlage, die ganze 360.000 Quadratmeter umfasst, sondern Ruhestätten von Wissenschaftlern, darunter neun Nobelpreisträger, Göttinger Händler- und Handwerkerfamilien und Ehrenbürger. Wer sich vertieft, für den können Gräber ein lebendiges Geschichtsbuch sein. Soldaten- und Ehrenmäler mahnen zudem an die Schrecken des Krieges, wie etwa eine vom Moos grünlich schimmernde Stele, auf der ein Stahlhelm ruht – das Gesicht des Soldaten ist nicht mehr erkennbar.

Wer wiederkommt, sieht immer anderes. Weil er ein anderer ist. Und auch der Stadtfriedhof hat sich verändert, mal mehr, mal weniger. Mir war vor vier Jahren die Liebesbotschaft eines Jungen aufgefallen, der gleich sechs Mädchennamen mittig auf die weiße Holzwand des Pavillons geschrieben und alle mit einem Herzen versehen hatte. Längst sind seine Zeilen überschrieben und übertüncht. Vergänglichkeit schwebt über allem auf dem Stadtfriedhof. Vielleicht macht es die Zeit auf seinen Wegen deshalb zu etwas Kostbarem? Weil wir wissen, dass all das Schöne, an dem unser Blick hängen bleibt, vergeht? Ähnlich wie die Regentropfen, die versiegen, mich aufbrechen lassen aus dem Friedhof. Bis ich hoffentlich eines Tages wiederkomme. ƒ

Fotos: Alciro Theodoro da Silva
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