Wie Alireza Kharazipour im Kinosessel eine nachhaltige Idee aus dem Eimer zauberte

Wir schreiben das Jahr 2008: Alireza Kharazipour sitzt mit seiner Frau in den roten, gemütlichen Sesseln des Göttinger Cinemaxx-Kinos. Es wird dunkel. Zwischen den beiden steht der Kinoklassiker: ein Eimer, randvoll mit Popcorn. Immer wieder greifen sie hinein. Doch plötzlich hält Alireza inne. Er hält ein Stück Popcorn in der Hand und rollt es nachdenklich zwischen den Fingern. „Es fühlte sich an wie Styropor und war genauso leicht“, erinnert er sich.

Als Professor an der Fakultät für Forstwissenschaften und Waldökologie forschte er damals wie heute nach alternativen Werkstoffen. Seit Wochen war er auf der Suche nach einem leichten Ersatzstoff für das Holz in Spanplatten. „Styropor funktionierte zwar, aber Kunststoffe sind nicht besonders nachhaltig“, erzählt Kharazipour. Und dann, im Kinosessel, hielt er vielleicht die Lösung in der Hand. Gepackt von der Idee machte er sich am nächsten Tag auf den Weg in den Supermarkt und kaufte tütenweise Maiskörner. Zu Hause fing er an, damit zu experimentieren. „Im ganzen Haus roch es nach Popcorn, was meiner Frau gar nicht gefiel“, erzählt Kharazipour lachend. Bei weiteren Versuchen im Labor stellte sich heraus, dass die mechanisch-physikalischen Eigenschaften der Popcornplatten denen von Holzspanplatten sehr ähnelten. „Die Probeplatten waren robust und leicht“, erklärt der Professor. Seine Ergebnisse überzeugten, und so konnte er mit Fördergeldern des Bundes seine Idee verfeinern.

Zeitsprung: Januar 2017. Alireza Kharazipour sitzt in einer Mischung aus Labor und Büro im Universitätsgebäude Büsgenweg 2 in Göttingen. Inmitten von unzähligen Akten und Versuchsprodukten genießt er – fast in sich selbst ruhend – eine Tasse Kaffee. „Ich bin sehr zufrieden mit meinem Leben, meiner Arbeit und meinen Projekten“, sagt er. Hinter ihm liegen Dutzende verschiedene Proben von Platten aus Popcorngranulat. Inzwischen hat sich seine Idee aus dem Kinosessel einen festen Platz am Markt gesichert. In Zusammenarbeit mit seinem ehemaligen Arbeitgeber, der Pfleiderer AG, brachten Kharazipour und sein Team das Produkt zur Marktreife. Heute wird es weltweit unter dem Namen ,BalanceBoard‘ vertrieben. Dies besteht aktuell zu 40 Prozent aus Popcorngranulat. „Das ist sehr nachhaltig, denn Popcorn ist recycelbar und lässt sich aus vielen stärkehaltigen Körnern, wie Mais, Reis oder Weizen, herstellen.“ Für die Produkte wird ausschließlich Bruchmais verwendet. „So geht aus dem Nahrungsmittelkreislauf kein Mais verloren“, erklärt Kharazipour.

Die Platten werden inzwischen sogar im Innenausbau von Schiffen verwendet. „Eine neue Entwicklung betrifft Leichtbauplatten, die aus bis zu 100 Prozent Popcorngranulat hergestellt werden“, so der Wissenschaftler weiter. Die Platten lassen sich als Wärme- und Schalldämmung sowie in der Möbelproduktion einsetzen. Je nach Anwendungsgebiet werden sie als ,Sandwichplatten‘ mit Aluminium, Glas oder Kunststoff- sowie Holzfurnier beschichtet. Diese Entwicklungen werden zurzeit industriell erprobt.

Stolz sei er auf seine Erfindung. Gleichzeitig wird er nicht müde, immer wieder zu betonen, dass an dem Erfolg viele Menschen ihren Anteil hatten. Besonders seine Doktoranden und Wissenschaftler hebt er hervor. Bei ihm hätten schon viele Studenten ihren Doktortitel erlangt, und alle seien gut in Wirtschaft oder Wissenschaft untergekommen. „Das macht mich richtig glücklich.“ Die tägliche Arbeit mit jungen Menschen halte ihn selbst jung. Das ist wichtig, denn Kharazipour feierte dieses Jahr am 6. Februar seinen 70. Geburtstag. Ans Aufhören denkt er trotzdem nicht: „Ich betreue noch immer Doktoranden und Projekte.“

Keine neuen Projekte mehr zu beginnen, kommt für ihn nicht infrage: „Das ist ein bisschen wie eine Leidenschaft, ich muss immer Neues entdecken.“ Dies gilt auch für sein Privatleben. So pflegt und züchtet er im eigenen Garten seltene Baum- und Pflanzenarten. Mit leuchtenden Augen berichtet er außerdem von seinen vielen Reisen, zum Beispiel entlang der Seidenstraße. „Die unterschiedlichen Völker und Sprachen sind unglaublich interessant.“

Viele Länder will er noch bereisen, und auch seine Popcornplatten will er weiter voranbringen: „Schon bald sollen sie beim Innenausbau von Wohnmobilen eingesetzt werden.“ Bei seiner Erfindung, die vor knapp zehn Jahren im dunklen Kinosaal entstand, ist also ebenso wie bei seinem eigenen Weg noch kein Ende in Sicht.

Foto: Alciro Theodoro da Silva

Zur Person
Alireza Kharazipour, am 6. Februar 1947 im Iran geboren, kam Anfang der 1970er-Jahre nach Deutschland. Nach dem Abitur in Hannover begann er, an der Universität Göttingen Forstwissenschaften auf Diplom zu studieren. Drei Jahre danach folgte die Promotion. 1985 wechselte er für 16 Jahre in die Industrie. Da er jedoch nebenbei immer noch Arbeitsgruppen an der Uni leitete, blieb er der Wissenschaft eng verbunden. 1995 habilitierte er und kehrte wieder an den Göttinger Campus zurück. Seitdem hat er als Professor und Leiter der Arbeitsgruppe Chemie und Verfahrenstechnik von Verbundwerkstoffen zahl reiche Projekte geleitet und etliche Masterarbeiten und Doktoranden begleitet. Seit 34 Jahren ist Kharazipour laut eigener Aussage „erfolgreich verheiratet“ und hat zwei Söhne.
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