Wirtschaften mit Wert – Die Gemeinwohl-Ökonomie

Vier Tochterunternehmen der Stadt Göttingen unterziehen sich einer Bilanzierung, um für das Gemeinwohl zukunftsfähig zu bleiben.

Die Wirtschaftsreformbewegung GWÖ 

Klimagipfel in Schottland, weltweit Auswirkungen der Corona-Krise, Fachkräftemangel, Mindestlohn, Lieferketten – die Liste könnte noch um viele Begriffe ergänzt werden. Alle Schlagworte deuten auf eins hin: Es ist Zeit zu handeln. Das zumindest glauben neben vielen anderen auch die Vertreter und Mitgliedsunternehmen der Gemeinwohl-Ökonomie, kurz GWÖ, einer vor elf Jahren in Österreich, Bayern und Südtirol gestarteten Wirtschafts­reformbewegung, welche das Wirtschaften grundlegend auf das demokratisch definierte Gemein­wohl ausrichten möchte: Das Wohl von Mensch und Umwelt wird zum obersten Ziel. Grundlage ist ein 2010 erschienenes Buch von Christian Felber. Und wer würde ihnen mit Blick auf die Welt widersprechen? Allein der Umfang der aktuell angestrebten Änderungen in Sachen Klimaschutz und deren Zeitplan (über-)strapazieren den Geduldsfaden vieler Menschen, die sich schlicht um die Existenzgrundlagen unserer Spezies und der Natur, in der wir leben, sorgen.

Bereits vor einigen Jahren hat sich darum auch in Göttingen die GWÖ-Regionalgruppe gegründet, um sich gemeinsam auf den Weg zu machen. Zweifellos fuhr auch den hiesigen GWÖ’lern – wie vielen anderen Stellen – die Pandemie in die Parade. Doch unterkriegen ließen sie sich nicht. Im Gegenteil: Während sie ihr regionales Netzwerk vergrößerten, riefen vier städtische Gesellschaften ein gemeinsames Pilotprojekt ins Leben: ,Zertifizierung nach der Gemeinwohl-Ökonomie‘. Das Resultat daraus: Im November dieses Jahres erhielten die Beschäftigungsförderung Göttingen (BFGoe), das Deutsche Theater (DT), die Kommunalen Dienste Göttingen (KDG) und das Städtische Seniorenzentrum in einer Feier­stunde im Deutschen Theater ihre ersten Bilanzierungsdokumente.

„Das sehen wir als Anfang eines Dauerprozesses, in dem wir uns nun befinden“, sagt Christian Schmelcher, Vorstand der Beschäftigungsförderung Göttingen. Er und seine Kollegin Frauke Müller-Brandt, Abteilungsleitung und stellvertretender Vorstand, hatten vor gut einem Jahr den ersten Kontakt zur GWÖ. „Ich war bei einer Ver­anstaltung der Regionalgruppe, und die Botschaft, dass jedes Unternehmen tätig werden kann, ist bei mir angekommen“, erzählt Müller-Brandt. Nach dem guten Echo bei einem internen Führungskräftetraining stellte Schmelcher die GWÖ-Richtlinien auch bei einem der regel­mäßigen Treffen der städtischen Gesellschaften vor. Er stieß auf großes Interesse. Die Tochterunternehmen sind wie die Stadt Göttingen an die selbst gesteckten Klima­zielvorgaben gebunden und in unterschiedlichen Bereichen auch bereits mit Nachhaltigkeitsthemen befasst. Die vier kommunalen Gesellschaften schlossen sich zu einer sogenannten Peergroup zusammen. Gecoacht von den beiden GWÖ-Unternehmensberatern Gerd Lauermann und Susanne Schmall traf sich die Peergroup seit Oktober 2020 zu sieben mehrstündigen Workshops.Lima

GWÖ-Bilanzierung

„Wir waren spannenderweise mit unbequemen Ergebnissen über uns selbst konfrontiert“, sagt Carlsson Kemena, Referent der DT-Geschäftsleitung. Denn mit dem Theater, dem Seniorenzentrum, der BFGoe und der KDG waren sehr unterschiedliche Unternehmen mit einem gemeinsamen Ziel unterwegs: „Wir wollten Potenziale finden: Beispielsweise unsere Lieferketten überprüfen und sehen, ob unsere Dienstleister über Ökozerti­fikate verfügen, ob sie ihren Mitarbeitern Mindestlohn zahlen, und so weiter“, erklärt KDG-Geschäftsführerin Diana Walkinstik-man-alone in die Aufgaben. Eine Mammutherausforderung, wie sich herausstellen sollte. Denn alle Beteiligten bestätigen die Aussage des Seniorenzentrum-Geschäftsführers Kai Osterhorn: „Für die GWÖ-Bilanzierung muss man neben dem Tagesgeschäft sehr viel Zeit aufwenden. Doch die Begeisterung der Mitarbeiter und das Ziel motivieren: Nur so nimmt das Ganze schnell Fahrt auf.“ Für die im Seniorenzentrum tätige Elisabeth Steinbauer stellt bei der GWÖ-Bilanzierung vor allem der mensch­liche Faktor einen wichtigen Pluspunkt dar. Die Qualitätsmanagerin und Pflegefachkraft sieht gegenüber den freiwilligen ISO-Zertifizierungen einen deutlichen Vorteil: „Die Kollegen beteiligen sich an den Diskussionen. Sie fragen, was wir da machen und warum. Das alleine ist schon sehr positiv.“

Doch bei aller Begeisterung stießen die Beteiligten durchaus auch an Grenzen. Denn wie soll ein Unternehmen beispielsweise die Lieferketten aller Lieferanten und deren Lieferanten überprüfen? „Das ist sehr schwierig, eröffnet einem aber auch ganz neue Einblicke“, sagt DT-Geschäftsführerin Sandra Hinz. Sie sieht ihr Theater als Vermittler „gegenseitiger gesellschaftlicher Verantwortung“ und die GWÖ-Bilanzierung als ein Instrument, diese Rolle zukunftsweisend auszufüllen.

Apropos Zukunft – wie geht es nun weiter? Chris­tian Schmelcher und Frauke Müller-Brandt beispielsweise haben für die BFGoe 20 kleine Themen zusammen­gestellt, an denen sie ab sofort arbeiten. Eines davon ist, den Energieverbrauch ihres Unternehmens um 20 Prozent zu senken. Große Aufgaben also für die städtischen Gesellschaften. Gut, dass sie sich immer an die beiden Coaches der Peergroup wenden konnten und stets der kollegiale Austausch im Mittelpunkt stand. Die einzelnen Berichte wurden durch die Auditorenprüfung zur Bilanz, und im Rahmen einer Veranstaltung erhielten die bilanzierten Unternehmen die entsprechenden Dokumente.

Annabel Konermann und Erwin Wobbe von der GWÖ-Regionalgruppe Göttingen hoffen auf die Signalwirkung des Erfolges der städtischen Peergroup. „Gerade KMU können sich mit der Bilanzierung einen Marktvorteil erarbeiten. Mit GWÖ kann man nur gewinnen“, sagt Konermann überzeugt und freut sich über die vier neuen Mitstreiter. Die frisch Bilanzierten selbst freuen sich verständlicherweise auch über ihren großen Erfolg. Sie sind sich einerseits im Klaren darüber, erst am Anfang eines langen Prozesses zu stehen. „Andererseits zeigt der Prozess aber auch, dass wir zwar nicht alleine die Probleme der Welt lösen können“, sagt Walkinstik-­man-alone, „aber doch jeder seinen Teil dazu beitragen kann und etwas in Bewegung gesetzt wird.“ƒ

Illustrationen: stock.adobe.com
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