Die lange Tradition des Göttingen-Spirits

Seit der Eröffnung der Georg-August-Universität im Jahr 1737 bilden die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt und der wissenschaftliche Erfolg der Forschungseinrichtungen und Hochschulen eine geradezu symbiotische Beziehung. Dank der über die Jahrzehnte hinweg gewachsenen Zahl verschiedenster Einrichtungen der Spitzenforschung hat sich ein einzigartiger ,Göttingen-­Spirit‘ herausgebildet. Anlässlich der feierlichen Begrüßung des neuen Unipräsidenten Metin Tolan betont auch Nobelpreisträger Stefan Hell dieses Markenzeichen des Wissenschafts- und Wirtschaftsstandortes: Für den Direktor des Max-Planck-Instituts zeichne sich Göttingen vor allem durch eine vertrauensvolle und effiziente Zusammen­arbeit innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft aus. Doch die Geschichte des Wirtschaftsstandortes reicht bis lange vor die Universitätsgründung zurück.

953 – 1289: Wie alles begann …

Obwohl ,gutingi‘ bereits 953 erstmals urkundlich erwähnt wird, beginnt die Wirtschaftsgeschichte der Stadt Göttingen erst zwischen 1152 und 1175. In diesem Zeitraum lässt der Welfenherzog Heinrich der Löwe am westlichen Rand des alten Dorfes eine separate Marktsiedlung ­errichten, um durch Steuern vom sich entwickelnden Handel zu profitieren. Die sich hier kreuzenden mittelalterlichen Handelswege ermöglichen im 13. Jahrhundert einen schnellen Aufstieg der städtischen Siedlung. Mit den steigenden Steuereinnahmen aus dem über Göttingen abgewickelten überregionalen Handel werden nicht nur der herzog­liche Haushalt, sondern auch der Ausbau der Stadt finanziert. Das älteste bekannte Stadtsiegel aus dem Jahr 1278 bekräftigt die ­Bedeutung der Stadt und ihren zunehmenden politischen Einfluss gleichermaßen. Nachdem im Jahr 1289 das Bürgerrecht erstmals an Juden vergeben wurde, welchen im Gegensatz zu den christlichen Kaufleuten Kredit- und Pfandgeschäfte erlaubt ­waren, bieten sich neue unternehmerische Möglichkeiten.

1319 – 1387: Die Stadt in voller Blüte

Im 14. Jahrhundert erlebt die Stadt ihre Blütezeit. Die Stadtmauer wird erneuert, ein Rathaus am Marktplatz errichtet und die Jakobikirche erweitert. Im Jahr 1351 wird Göttingen sogar Mitglied der Hanse, was einerseits der gestiegenen wirtschaftlichen Bedeutung Rechnung trägt und andererseits neue Märkte öffnet. Mit steuerfinanzierter Waffen­gewalt setzt sich die Stadt 1387 schließlich gegen den Herzog durch und erlangt politische und wirtschaftliche Gestaltungsfreiheit.

1463 – 1582: Schleichender Bedeutungsverlust

In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts setzt ein lang anhaltender Bedeutungsverlust des Handels- und Wirtschaftsstandorts Göttingen ein. Verschiedene Epidemien reduzieren die Bevölkerungszahl rapide, die alten Handelsrouten verschieben sich zunehmend, und günstige niederländische Stoffe überschwemmen den Textilmarkt. Um dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen, beginnt der Göttinger Stadtrat 1475 mit der Anwerbung westfälischer und flandrischer Fachkräfte. Doch trotz kurzfristiger Erfolge lässt sich der Abschwung nicht mehr aufhalten. Nachdem die Stadt 1572 die Hanse verließ und 1582 ihre Leinedörfer an den Herzog verlor, besiegelt schließlich der Dreißigjährige Krieg Göttingens Status als ,Ackerbürgerstadt‘ ohne überregionale Bedeutung.

1690 – 1722: Merkantilismus bringt Wiederaufschwung

Im Jahr 1690 wird Göttingen schließlich wieder unter herzogliche Gewalt gestellt. Aus dieser Schmach für den Stadtrat geht jedoch zugleich eine Chance für den wirtschaftlichen Wiederaufstieg hervor, denn der hannoversche Herzog richtet sein Territorium ganz nach der zeitgenössischen Idee des Merkantilismus aus: Mit großzügigen Staatsaufträgen wird die lokale Textilindustrie unterstützt, ein regionales Biermonopol fördert den städtischen Haushalt und ein reduziertes Bürgergeld zieht neue Handwerker, Kaufleute und damit neues Kapital in die Stadt. Nicht immer lässt sich die herzogliche beziehungsweise später kurfürstliche Wirtschaftspolitik mit den Interessen der handwerklich und kaufmännisch geprägten Bürgerschaft übereinbringen. Dies wird bei der Ansiedlung der Tuchmanufaktur des Johann Heinrich Grätzel zwischen 1722 und 1727 deutlich, welche der hannoversche Kurfürst gegen den erbitterten Widerstand des Stadtrats und der Tuchmachergilde durchsetzt.

1732 – 1737: Mit der Uni kommt eine neue Wirtschaft

Es ist die zwischen 1732 und 1737 vorangetriebene Universitätsgründung, welche den entscheidenden Impuls für die Wiederbelebung der Göttinger Wirtschaft gibt. Die Studenten und Professoren bringen eine Nachfrage für verschiedenste Dienstleistungen und Produkte mit. In den 1730er-Jahren kommen nicht weniger als 140 neue Gewerbetreibende nach Göttingen, zum Beispiel Apotheker und Ärzte, aber auch universitäre Buchdrucker beziehungsweise -händler, Musikinstrumentenbauer und Kupferstecher. Obwohl sich die Universitäts­ansiedlung innerhalb kürzester Zeit als äußerst erfolgreich herausstellt, musste auch diese gegen anfängliche Bedenken der städtischen Bürgerschaft durchgesetzt werden. So tauscht der hannoversche Kurfürst beispielsweise den Göttinger Bürgermeister gegen seinen Northeimer Kollegen aus, weil die Stadt die geforderten Baumaßnahmen verzögerte.

1751 – 1833: Von der Sternwarte zur Feinmechanik

Die 1751 eröffnete Universitätssternwarte legt den Grundstein für die Entwicklung der Göttinger Feinmechanik. Wurden anfangs noch Messinstrumente aus Großbritannien importiert, siedeln sich innerhalb weniger Jahre selbstständige mechanische Werkstätten an. Diese stillen die steigende Nachfrage nach immer präziseren Instrumenten  –  häufig in enger Zusammenarbeit mit den hiesigen Professoren. Als Carl Friedrich Gauß und Wilhelm Weber im Jahr 1833 ihren elektromagnetischen Telegrafen in Betrieb nehmen, blickt Göttingen bereits auf eine mehr als 75-jährige feinmechanische Tradition zurück.

1852 – 1862: Mit der Bahn in die Industrialisierung

Mit der Eröffnung des Göttinger Bahnhofs am 31. Juli 1854 wird nicht nur das Eisenbahnzeitalter in Göttingen eingeleitet, sondern auch die Grundlage für die spätere Industrialisierung geschaffen: So wird sowohl der Transport von Rohstoffen, Personen und Waren erleichtert als auch das Kommunikationswesen durch die parallel zur Eisenbahn errichtete Telegrafenleitung nach Hannover beschleunigt. Hermann Pfaff fertigt die dafür benötigten Morsetelegrafen zwischen 1853 und 1857 in Göttingens erster elektrotechnischen Werkstatt in der Burgstraße 47.

1739 – 1891: Grätzelhaus im Zentrum der Entwicklung

Das zwischen 1739 und 1741 errichtete Grätzelhaus in der heutigen Goethe-Allee wird zur Schnittstelle für die wirtschaftliche Entwicklung Göttingens: Anfangs dient es vor allem als Unterkunft für die wohlhabenden Studenten und Professoren. Der an technologischen Forschungserkenntnissen interessierte Johann Heinrich Grätzel profitiert vom Austausch mit den Universitätsangehörigen. Zwischen 1857 und 1874 betreibt der Göttinger Mikroskop-­Pionier Rudolf Winkel hier seine erste Werkstatt. Im Jahr 1891 wird das Haus an den Göttinger Pianofabrikanten Rittmüller verkauft, der entlang des Leinekanals eine moderne Produktions­anlage einrichtet.

1890 – 1930: Pensionopolis statt Industrialisierung

Zu Beginn der 1890er-Jahre stehen in der industrialisierten Stadt bereits 45 Dampfmaschinen. Im späten 19. Jahrhundert werden zahlreiche feinmechanische Betriebe gegründet, wobei einige dieser historischen Start-ups und akademischen Ausgründungen noch immer wichtige Vertreter des heutigen ,Measurement Valley‘ sind. Um 1900 wohnen rund 30.000 Menschen in Göttingen, dreimal so viel wie Mitte des Jahrhunderts. Die Stadt versteht sich zu dieser Zeit allerdings eher als ,Pensionopolis‘  –  einen beliebten Altersruhe­sitz mit moderner Kanalisation, Trinkwasserversorgung und einem aufgeforsteten Hainberg  –  denn als aufstrebenden Wirtschaftsstandort.

1914 – 1945: Wirtschaftsförderung aus der Not heraus

In der Rolle der mäßig industrialisierten, aber mit modernsten Annehmlichkeiten und Einrichtungen ausgestatteten Kleinstadt gefällt sich Göttingen auch in den folgenden Jahrzehnten. Erst die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs zwingen den Stadtoberen dazu, sich wieder mit dem Thema Wirtschaftsförderung auseinanderzusetzen: Auch weil die Stadt während des Kriegs von größeren Zerstörungen verschont bleibt, beherbergt Göttingen 1945 rund 80.000 Menschen  –  davon bis zu einem Drittel Heimatvertriebene und Zugewanderte. Obwohl sich alle politischen Beteiligten einig sind, dass Göttingen dringend neue Arbeitsplätze benötigt, ist der Handlungsspielraum der Stadt äußerst gering. In der unmittelbaren Nachkriegszeit mangelt es nicht nur an Lebensmitteln, Kleidung und Wohnraum, sondern auch an Baumaterialien und geeigneten Grundstücken. Zwar wird im Maschmühlenweg ein erstes Gewerbe- und Industriegebiet vorangebracht, doch sind die finanziellen Mittel der Stadt bis weit nach der Einführung der D-Mark 1948 beschränkt und die Investitionspolitik zurückhaltend. Erschwerend kommt hinzu, dass auch das Reichsbahn-Zentralamt auf den ehemaligen Militärflugplatz mit seinen großen Hallen in Grone Ansprüche erhebt. Zwischenzeitlich gelingt es immerhin, die Göttinger Filmstudios auf dem Flugplatzgelände anzusiedeln.

1949 – 1953: Professionelle Strukturen am Zonenrand

Ein Neuanfang gelingt Göttingen erst nach der Gründung der Bundes­republik. Zwar befindet sich die Stadt jetzt im Zonenrandgebiet, doch bilden die Autobahn und der Eisenbahnanschluss einen wichtigen Standortvorteil. Dank der Förderung aus Bundes- und Landesmitteln beziehungsweise dem Marshallplan gelingt es in den frühen 1950er-Jahren, auf dem Hagenberg eine neue Wohnsiedlung zu errichten und die Rudolf-Winkel-Straße zu erschließen  –  die Keimzelle des heutigen Industriegebiets in Grone. Nachdem 1953 zum ersten Mal ein Stadtwirtschaftsdirektor ­gewählt wurde, tritt die Göttinger Wirtschaftsförderung auch erstmals professionell auf: Die Stadt bietet an- und umsiedlungswilligen Betrieben fortan einen direkten Ansprechpartner und bewirbt den Wirtschaftsstandort Göttingen mit mehreren zehntausend goldgelben und überregional zirkulierten Flyern.

1953 – 1963: Zeit für ein Wirtschaftswunder

Die von wirtschaftlichem Aufstieg und zunehmendem Wohlstand geprägten späten 1950er- und frühen 1960er-Jahre  –  zeitgenössisch als sogenanntes ,Wirtschaftswunder‘ wahrgenommen  –  zeigen auch in Göttingen alsbald ihre Spuren im Stadtbild: breitere Straßen, erste Ampeln und modern anmutende Neubauten. Der Stadt gelingt es Anfang der 1960er sogar, das Bosch-Werk nach Göttingen zu holen, doch ist der Arbeitsmarkt damit effektiv ausgeschöpft. Da auch die finanziellen und vor allem räumlichen Spielräume der Stadt weiterhin begrenzt sind, zieht es in diesen Jahren rund ein Dutzend lokaler Unternehmen in die angrenzenden Gemeinden Geismar, Grone, Rosdorf und Weende. Dennoch beschließt der Stadtrat im März 1963, zukünftig keine aktive Wirtschaftsförderung mehr zu betreiben.

1958 – 1972: Stadt und Universität gemeinsam stark

Die 1960er-Jahre sind vor allem vom Ausbau der Universität geprägt  –  einschließlich des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation sowie der Universitätsklinik. Nicht zuletzt aufgrund der Planungen für die zukünftige Schnellfahrstrecke gewinnt die aktive Wirtschaftsförderung Anfang der 1970er-Jahre wieder an Bedeutung. Nachdem diese zwischenzeitlich durch das Liegenschaftsamt und einen externen Dienstleister verantwortet wurde, wird 1978 erstmals eine eigene Referentenstelle für Wirtschafts­förderung geschaffen. Diese zweite Professionalisierungsphase der Göttinger Wirtschaftsförderung zeichnet sich vor allem durch eine persönliche Betreuung der lokalen Wirtschaft und der wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen sowie durch ein vielfältiges ­Informationsangebot aus. Im Fokus stehen insbesondere privat­wirtschaftliche Ausgründungen aus der Wissenschaft.

 

1988 – 1990: Zweigleisig in die Wirtschaftsförderung

Zu Beginn der 1990er-Jahre wird die dritte Professionalisierungsphase der Göttinger Wirtschaftsförderung eingeleitet. Nachdem bereits 1988 das Amt für Stadtentwicklung, Wirtschafts- und ­Be­schäftigungsförderung eingerichtet wurde, wird am 16. November 1990 die GWG Gesellschaft für Wirtschaftsförderung Göttingen gegründet. Dass es zu diesem Dualismus kommt, ist das Ergebnis der langjährigen Förderung von akademischer und wirtschaftlicher Kooperation: Die GWG wird gegründet, um kurzfristig auslaufende Fördermittel des Landes Niedersachsen für das geplante Institut für Bioanalytik zu sichern.

1989 – 1995: Neue Möglichkeiten im vereinten Land

Mit der 1990 vollzogenen Wiedervereinigung findet sich Göttingen im geografischen Zentrum Deutschlands wieder. Der damit einhergehende Abzug der Bundeswehr und die Eröffnung des ICE-Bahnhofes stellen die Stadt vor neue Herausforderungen: Die notwendige Konversion der Zieten-Kaserne und die Entwicklung der sogenannten Bahnhof-Westseite mit dem Industriedenkmal Lokhalle gehören zu den großen lokalpolitischen Herausforderungen der 1990er-Jahre. Mit der Konzeption und Umsetzung dieser Projekte wird die GWG betraut, deren Aufgabenspektrum sich in den frühen 1990er-Jahren sukzessive erweitert. Zum 1. Januar 1995 übernimmt die GWG die alleinige Wirtschaftsförderung für die Stadt Göttingen. Zu den seitdem erreichten Meilensteinen gehört allen voran, dass das einmalige Baudenkmal Lokhalle erhalten und zur größten Veranstaltungslocation in der Region um- und ausgebaut werden konnte. Auch die positive Entwicklung des Güterverkehrszentrums mit zwei Standorten rund um den Alten Güterbahnhof und den Siekanger ist auf die GWG zurückzuführen. Das mehrfach erweiterte Institut für Bioanalytik bildet die Grundlage für den heutigen Science Park und unterstreicht die Möglichkeiten, die sich für die mittlerweile durch Sartorius im DAX vertretene Stadt Göttingen aus einer vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Wissenschaft ergeben.

Und so geht es weiter …

Auch in der Zukunft wird die GWG einen wichtigen Beitrag zur positiven Entwicklung der Stadt leisten, um das von Professor Stefan Hell eindrücklich beschriebene lokale Potenzial auch im 21. Jahrhundert zu nutzen und dem Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort Göttingen neue und erfolgreiche Kapitel hinzuzufügen. ƒ

Illustrationen: Tanja Wehr
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