Trendbeschleuniger Corona-Krise

Aus der Not eine Tugend machen. Die massiven Auswirkungen von Covid-19 haben bestehende Trends in der Arbeitswelt beschleunigt: Mobiles Arbeiten und Mitarbeitergewinnung rücken zunehmend in den Fokus – und zeichnen Top-Arbeitgeber aus.

Bis vor der Krise hat sich der Arbeitsagenturbezirk Göttingen im Regionalbezirksvergleich durch etwas bessere Arbeitsmarktzahlen ausgezeichnet. In den letzten fünf Jahren sank die Zahl der Arbeitslosen im Jahresdurchschnitt von 15.000 auf zuletzt 12.800. „Da hat sich eine Menge getan“, erzählt Klaus-Dieter Gläser, Leiter der Arbeitsagentur Göttingen. In demselben Zeitraum stieg die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse um sieben Prozent auf aktuell 178.000 – und lag damit etwas unter dem Landes- und Bundesdurchschnitt, was der Branchenstruktur geschuldet ist: ein hoher Dienstleistungsanteil und viel öffentlicher Dienst, weniger Industrie. So ist denn inzwischen der größte Wirtschafts­zweig in der Region Gesundheitswesen/Sozia­les, in dem rund 22 Prozent aller Beschäftigten tätig sind. Der Wirtschaftszweig hat in den letzten fünf Jahren das verarbeitende Gewerbe (mit aktuell 21 Prozent aller Beschäftigten) überholt. Gläser spricht von recht stabilen Beschäftigungsstrukturen mit weniger stark ausgeprägten Schwankungen als in anderen Regionen.

Welche Auswirkungen nun Corona hat, lasse sich mit Sicherheit erst 2021 sagen, bis dahin glichen Aussagen über die Folgen einem Blick in die Glaskugel, so Gläser. Ein Indikator ist jedoch die Kurzarbeit im Zeitraum April bis Oktober. Diese wurde von etwa 5.000 Betrieben angezeigt, die in Summe auf eine Mitarbeiterzahl von 60.000 Beschäftigten kommen. „Real haben im April 3.300 Betriebe Kurzarbeitergeld bezogen, wodurch 30.000 Beschäftigungsverhältnisse gesichert werden konnten“, erklärt der Experte. Konkret verteilten sich die Betriebe auf die Bereiche Handel, Kfz (650 Betriebe, 4.400 Beschäftigte), Gastgewerbe (520 Betriebe, 3.250 Beschäftigte), Gesundheitswesen (485 Betriebe, 2.700 Beschäftigte), verarbeitendes Gewerbe (310 Betriebe, 9.000 Beschäftigte). „Anders als die Finanzkrise von 2008/2009 geht Corona durch alle Branchen, und aus meiner momentanen Einschätzung sind die Auswirkungen einmalig und ungleich größer“, sagt Gläser. „So einen Einbruch haben wir noch nicht erlebt.“

Für das Handwerk zieht die Handwerkskammer Hildesheim-Südniedersachsen für die Auftragslage eine vergleichsweise positive Bilanz. „Es ist nach wie vor ein deutlicher Nachfrageüberhang bemerkbar“, sagt Stefan Pietsch, Pressesprecher der Kammer. Stornierungen und Tätigkeitseinschränkungen hätten sich in Grenzen gehalten. Es gebe aber durch die temporären Tätigkeitsverbote bei Friseuren und Kosmetikern, bei Unternehmen mit einem hohen Handelsanteil, etwa im Kfz-Bereich, oder auch bei Betrieben, die wie Tischlereien und Gastronomen vom Messebau abhängig sind, besonders betroffene Bereiche.

Das ist die volkswirtschaftliche Seite, deren Beeinträchtigung jedoch noch niemand seriös beziffern kann. Auf der anderen Seite hat die Krise ein bestimmtes Thema ganz nach oben katapultiert, wenn es um Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt geht – um Trends, die die Arbeitswelt prägen wie sich verändernde Ansprüche von Mitarbeitern, Mitarbeiter­gewinnung und -bindung. Ein Thema, das vorher schon existierte, aber im Vergleich zu heute doch eher halbherzig behandelt wurde: mobiles Arbeiten und damit verbunden eine ganzheitlichere Betrachtung von New-Work-Ansätzen.

Man erinnert sich an den ersten Lockdown Mitte März 2020, als es auf absehbare Zeit keine Webcams mehr zu kaufen gab. Die IT-Abteilungen in Behörden, Unternehmen und Bildungseinrichtungen schoben Überstunden, und quasi über Nacht wurden Konzepte aus dem Boden gestampft, wie Unterricht, Arbeit und Kundendialog unter dem Menetekel der sozialen Distanz ermöglicht werden können. Und bei allem jahrelangen Fluchen über fehlende Internetkapazitäten hat am Ende dann doch weitgehend alles geklappt, wie es sollte – sicher auch, weil es klappen musste.

Bei Sartorius haben schon vor dem Lockdown viele Mitarbeiter das Angebot zur Arbeit aus dem Homeoffice genutzt. „Aber während der Pandemie arbeitet etwa die Hälfte der Mitarbeiter im Homeoffice“, so Timo Lindemann, Unternehmenssprecher bei Sartorius. Ebenso bei Ottobock, wo es einen deutlichen Anstieg von Homeoffice gab. Doch ist das Unternehmen dabei nicht stehen geblieben, im Gegenteil. „Die Beschäftigung mit dem Thema New Work ist durch die Corona-Krise stärker in den Fokus gerückt“, sagt Bianca Holler, Head of Global Human Resources bei Ottobock. „Dabei geht es nicht allein um Homeoffice, sondern vielmehr um einen ganzheitlichen Ansatz zum mobilen und selbstbestimmten Arbeiten, den wir zurzeit in unterschiedlichen nationalen und internationalen Projekten verfolgen.“ Ein eigenes Fernsehstudio soll für Livestreams, Kamingespräche und Videosessions für die interne und externe Kommunikation genutzt werden. Messen finden virtuell statt – ebenso auch vermehrt Bewerbungsgespräche, die auch „bei einem entspannten Spaziergang an der frischen Luft“ durchgeführt werden. Sartorius wiederum bemüht sich unter anderem stark darum, die Digitalisierung des Lernens in der Ausbildung voranzutreiben. „Wir arbeiten an einem Konzept für virtuelle Klassenzimmer, in denen der interaktive Unterricht dem Präsenztraining sehr ähnlich ist“, sagt Lindemann.

Die Mehrheit der Unternehmen, mit denen die IHK seit Pandemiebeginn gesprochen hat, befassen sich inzwischen ausgiebig mit dieser digitalen Transformation jenseits des übergangsweisen Homeoffice. Die Krise habe wie ein Katalysator gewirkt, so Martin Rudolph, Leiter der Göttinger Geschäftsstelle der IHK Hannover. Man merke, dass einiges schneller und effizienter gehe oder lange Dienstreisen ersetzbar sind. „Ich habe in Onlinemeetings selbst beobachtet, dass die Teilnehmer gut vorbereitet sind und sich in ihren Beiträgen auf das Wesentliche beschränken. Sitzungen sind dadurch meist deutlich kürzer“, sagt Rudolph. Es scheint sich in Wirtschaftskreisen durchzusetzen, dass diese Veränderungen zu mehr Flexibilität, mehr Agilität, mehr Selbstbestimmtheit beitragen und über die Pandemie hinaus Bestand haben werden.

Doch trotz der positiven Aspekte der beschleunigten digitalen Transformation ist indes nicht alles gut. Wo bleibt das Soziale? Wo der unkomplizierte Austausch mit den Kollegen auf dem Flur oder in der Küche, das Gefühl von Nähe, das für Menschen wichtig, aber durch Videokonferenzen nicht ersetzbar ist? Nicht ohne Grund zeigen vorläufige Studienergebnisse, dass psychische Belastungen in der Krise deutlich angestiegen sind und vermutlich auch langfristig Spuren hinterlassen werden. „Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass Quarantänemaßnahmen von psychologischen Auffälligkeiten wie Depressivität und Stressreaktionen begleitet werden können“, erklärt Youssef Shiban, Professor für Klinische Psychologie an der Privaten Hochschule Göttingen. „Die zur Eindämmung von Covid-19 eingeführten Maßnahmen könnten somit mit erheb­lichen Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden verbunden sein, die höchstwahrscheinlich weit über die akute Krise hinweg bestehen bleiben werden.“ Und in einer internationalen Studie der Akademie für Arbeitsgesundheit der DPFA-Weiterbildung GmbH in Leipzig zeigte sich, dass insbesondere Umarmungen und persönliche Begegnungen mit anderen von mehr als der Hälfte der Befragten vermisst werden.

Den Personalverantwortlichen ist dieser Umstand durchaus bewusst. Auch wenn aktuell der körperliche Mitarbeiterschutz Vorrang hat und sich Effizienzgewinne durch mobiles Arbeiten zeigen, ist klar, dass das Soziale auch in Zukunft erhalten werden muss. „Die Arbeit zu Hause kann den persönlichen Austausch am Arbeitsplatz nicht vollständig ersetzen“, betont auch Sartorius-Sprecher Timo Lindemann. Bei Ottobock steuert man sogar aktiv der Vereinsamung und Vereinzelung ent­gegen, indem beispielsweise die Teams zeitgleich gemeinsam ihre ‚bewegte Pause‘, eine kleine Fitness­einheit, machen oder Azubis ihre Einführungstage unter anderem Outdoor erhalten.

So lässt sich denn als Fazit ziehen, dass Corona als digitaler Transformationsbeschleuniger wirkt, der die Erkenntnis mit sich gebracht hat, dass mobiles Arbeiten und damit die Eigenverantwortung von Mit­arbeitern kein Problem darstellen. Gleichzeitig zeigt der großflächige Praxistest aber auch die Grenzen der digitalen Distanz auf: alle Technikeuphorie bringt nichts, wenn das Menschliche dabei auf der Strecke bleibt. Da im zunehmenden Bemühen von Unternehmen, sich als gute Arbeitgeber am Markt zu präsentieren, das Wohlfühlen von Mitarbeitern einen hohen Stellenwert einnimmt, wird diese Erkenntnis sicher nicht in Vergessenheit geraten.

TOP

entdeckt, entwickelt & erzählt Erfolgsgeschichten