Jim Dine: I can’t repeat myself

Er ist ein Künstler, der auf der ganzen Welt bekannt ist. Ein Künstler von Weltrang. Und irgendwie ist der gebürtige US-Amerikaner Jim Dine inzwischen auch ein Göttinger. Da scheint es nicht verwunderlich, dass im neu entstehenden Kunstquartier von Verleger Gerhard Steidl auch ein Jim-Dine-Pavillon ein Zuhause bekommt.

Ein Kunstwerk findet seinen Ort. Zwischen Bauzäunen und unwegsamer Fußgängerzone ersteht peu à peu das Kunstquartier, kurz KuQua, rund um die Düstere Straße in der Göttinger Innenstadt. Der Verleger und Mitinitiator dieses Projekts, Gerhard Steidl, hat sich mit dem Quartier für moderne Kunst einen lang gehegten Traum erfüllt. Auf einem Hinterhof, der früher ein Geheimtipp war, wird Anfang des Jahres 2021 ein Kunstwerk als Teil des KuQuas ‚eröffnet‘. Schon jetzt birgt der kleine, kapellenartige Pavillon in seinem Inneren auf kohlegeschwärzten Wänden die Handschrift des Künstlers Jim Dine, dessen Namen er im Übrigen auch tragen wird: Jim-Dine-Pavillon.

Es ist schön, wenn Dinge eine Geschichte haben. Eine Story, die sich wieder und wieder erzählen lässt und die eine Verbindung zwischen Dingen und Menschen schafft: so wie die produktive Freundschaft zwischen Gerhard Steidl und Jim Dine. Die Fotografien des Künstlers waren es, die den Verleger so begeisterten, dass er mit ihm zusammenarbeiten wollte – Steidl druckte Bücher mit Dines Werken und half ihm beim Aufbau von Ausstellungen weltweit. Und an einem regnerischen Tag Anfang September 2020 kam Jim Dine nach Göttingen, um gemeinsam mit seinem zweiköpfigen Team in einem frisch errichteten Pavillon zum fünften und allerletzten Mal die Strophen seines Gedichts ,Poet Singing. The Flowering Sheets‘ an die Wände zu bringen. Die Zeilen sind Teil einer Rauminstallation, die neben der Handschrift fünf Skulpturen aus 400-jähriger amerikanischer Eiche und ein überdimensionales Gipsselbstportrait des Künstlers umfasst. Zu sehen war dieses Gesamtkunstwerk bereits in der Getty-­Villa in Los Angeles, in Walla Walla (Washington), in Basel und Rom. In der italienischen Hauptstadt geschah es denn auch, dass Jim Dine und Gerhard Steidl beieinander standen und Dine sagte: „I can’t do this anymore – so I give it to you, to Göttingen.“

Als der 85-Jährige diese kleine Anekdote mit seiner warmen, etwas rauchigen Stimme erzählt, lacht er herzlich auf. Er sitzt auf einem klapprigen Stuhl vor dem Pavillon und beantwortet geduldig die Fragen. Dennoch spürt man irgendwie, dass es ihn eigentlich zu seiner Arbeit zieht. Sein Zeitplan ist straff. In zwei Tagen wird er bereits wieder auf dem Weg nach Paris sein, wo seine Frau auf ihn wartet. Auch sie ist Künstlerin, Schriftstellerin. Dabei ist es nicht das erste Mal, dass Dine nach Göttingen kam – seit vielen Jahren lebt und arbeitet er immer wieder einige Monate im Jahr in der südniedersächsischen Stadt. „My life is a big holiday“, kommentiert er sein Leben zwischen den Metropolen der Welt und seinen Wohnsitzen in Deutschland, Frankreich und den USA.

Doch noch ist er hier und erzählt, wie er den ,Singing Poet‘ von der Getty-Villa auf sein Anwesen nach Walla Walla brachte – zumindest die Skulpturen. Seine Handschrift an den Wänden in der Villa wurde mit weißer Farbe überstrichen, als wäre dort nie Kunst gewesen. Nur die dazugehörige Videoaufzeichnung erinnert daran, wie der Raum einst aussah.

Und jedes Mal, wenn die Installation auf Reisen ging, fuhren Dine, sein Team und Steidl gemeinsam an den nächsten Ausstellungsort und schufen das Kunstwerk an den leeren Wänden neu. Jedes Mal waren die Räume anders. „Each time is different. Das ist es, was es für mich interessant macht“, sagt Dine. Er hat nicht den Anspruch, sein Werk bis aufs Kleinste zu reproduzieren. Ganz im Gegenteil. „Wir verändern uns ständig“, sagt er und meint: „I can’t repeat myself.“ Immer wird etwas Neues, etwas anderes mit einfließen – etwas, das zuvor nicht da war. Und wiederum anderes, das da war, ist vielleicht verschwunden. Was zählt, ist der Moment. Während wir im Interview sitzen, hat sein Team bereits mit Kohle und Kreide begonnen, die Zeilen des singenden Poeten, in dessen Rolle Dine sich auch sieht, an die Wand zu bringen. Es ist die Rohfassung. Der Künstler selbst wird es sein, der abschließend den Worten eine eigene Bedeutung zuschreibt, indem er verwischt, verschmiert, wegwischt und neu schreibt. Ein Prozess, der Inhalt und Form in Einklang bringt, Lebenserfahrung und Intuition.

In einem langen Leben häuft sich vieles an. Viele Erinnerungen und Geschichten. Vor allem, wenn man wie Jim Dine seit den 1960er-Jahren ein bewegtes Künstlerdasein lebt. Damals war er dabei, als in New York erste Happenings stattfanden und die Pop-Art-Kunst neue Wege aufzeigte. „Das, was ich schon immer war und sein wollte, ist: Künstler sein. Solange ich zurückdenken kann – since I was a little boy“, erzählt er in ruhigem Ton. Kunst ist das, warum er auf dieser Welt ist. Daran gibt es für ihn keinen Zweifel. Unzählige Werke und Einzelausstellungen in den renommiertesten Museen der Welt wie dem Whitney Museum of American Art und dem Guggenheim Museum in New York oder auf der documenta in Kassel zeugen von seinem Schaffensdrang. Seine Werke umfassen Malerei, Grafik, Skulpturen, Lyrik, Fotografie und sogar Bühnenbilder. Rastlos könnte man ihn nennen. Auf www.artnet.de finden sich über 7.000 Werke, darunter viele Bilder seiner berühmten Herzen und das Leitmotiv des Bademantels, das ihn über viele Jahre inspirierte.

Den Eindruck des unermüdlich Schaffenden bestätigt der Verleger Gerhard Steidl aus der jahrelangen gemeinsamen Arbeit. „Bei Jim kommt alles zu 100 Prozent aus dem Herzen und aus dem Bauch“, erzählt Steidl in sachlichem Ton und mit einem leisen Lächeln auf den Lippen. „Er ist mit dem ganzen Körper bei der Arbeit.“

Die Hände und Kleidung von Jim Dine sind dann – wie bei der Arbeit am Pavillon – kohleverschmiert, als würde er die Grenzen zwischen sich und seinem Werk verwischen. Es passt zu dem, was Dine über sich und sein Werk sagt: dass der Orpheus’sche Sänger sehr viel mit ihm selbst und seinem Leben zu tun hat. „That’s the poem of my life“, sagt der Künstler und strahlt dabei eine tiefe Überzeugung aus.

Steidl erinnert sich gern an die gemeinsame Arbeit, die mehr als 25 Jahre zurückreicht. Ihr erstes Buchprojekt war Anfang dieses Jahrtausends ,Birds‘. Seitdem sind im Göttinger Steidl Verlag an die 70 Bücher von Jim Dine erschienen. „Das tollste Projekt in den letzten Jahren war 2018 ‚Hot Dream – 52 Books‘, das aus der Idee entstand, ein Jahr lang jede Woche ein Buch zu produzieren. Und das haben wir dann gemacht“, erzählt Steidl. Als Künstler agiert Dine genreübergreifend, wie die Arbeit an den 52 Büchern zeigt. Bekannt wurde er als Pop-Art-Künstler vor allem auch, weil er Alltags­gegenstände aus ihrem Kontext riss. Doch über die Jahre wandte er sich von dieser Kunstrichtung ab, und seine Kunst wurde metaphorischer und emotionaler.

In dem Projekt ,Hot Dream‘ konnte Dine viele seiner künstlerischen Ambitionen einbringen. Fotografie, Zeichnungen, Abstraktionen, Gedichte, Erzählfragmente. In dieser produktiven Zeit entstanden darüber hinaus auch Rauminstallationen, die Dine direkt in seinem Göttinger Studio umsetzte. Tausende seiner Zeichnungen entstanden über die Jahre hier.

Schicksalsschwer könnte man daher in diesem Zusammenhang die Begegnung von Jim Dine und Gerhard Steidl in den 1980er-Jahren in Berlin bezeichnen. Über einen Bekannten wurde Steidl auf das fotografische Werk aufmerksam und sprach Dine an. Dine war zunächst skeptisch – er kannte diesen Verleger nicht. Doch dann besuchte Steidl den Künstler in seinem Studio in New York, und es entwickelte sich nicht nur eine enge Zusammenarbeit, sondern eine wertschätzende Freundschaft. Inzwischen ist es 17 Jahre her, dass Dine sein Studio in Göttingen bezog, das nur einen Steinwurf vom Steidl Verlag entfernt liegt. Er liebt diese kleine Großstadt: „In another life, I was from here“, sagt er lachend und vielleicht ein wenig augenzwinkernd.

Bereits 2015 entstand die Installation ,House of Words‘: textbeschriebene Tapeten, die von der Decke hängen, und geschriebene Worte an rohen Wänden. Diese Installation zusammen mit einer Performance, bei der Dine die Texte las, war als zweite Ausstellung im Günter-Grass-Haus zu sehen. „Dine ist ein sehr guter Leser seiner Texte“, sagt Steidl. Im Jim-Dine-Pavillon werden die Besucher sich selbst davon überzeugen können, denn das Poem ,Singing Poet‘ wurde in einem Tonstudio in Northeim von Dine eingesprochen. Als leises Wispern, dem singenden Poeten der griechischen Antike gleich, wird die Stimme des Künstlers als Teil der Performance im Jim-Dine-Pavillon zu hören sein.

Zusammen mit dem Kunsthaus, das als Teil des ­KuQua im Frühjahr 2021 eröffnen soll, wird der Pavillon für die Öffentlichkeit zugänglich sein. Zusammen mit dem Günter-Grass-Haus, dem Studio von Jim Dine, dem Steidl Verlag, Räumlichkeiten für Künstler und kleinen Cafés rund um die Düstere Straße und den Nikolai­kirchhof soll hier eine kreative ,Keimzelle‘ entstehen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass den Besuchern hier von Zeit zu Zeit Jim Dine über den Weg laufen wird. Vielleicht bleibt er unerkannt. Aber vielleicht wird ihn auch der eine oder die andere erkennen, nachdem er mit der Schenkung des Pavillons stärker als zuvor in die Öffentlichkeit gerückt ist. Es fällt ein bisschen mehr Glanz auf die Stadt, so scheint es – jetzt, da sie sich in die Liste der Orte einreiht, an denen der große Gegenwartskünstler ansonsten noch seine Spuren hinterlässt: ­Washington, New York, Paris – und Göttingen.

Fotos: Alciro Theodoro da Silva
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