Es lebe die ,Tote Oma‘

Zu Gast bei Sternekoch Robin Pietsch im Harz

„Wie schrecklich leer es ist“, sagt Robin Pietsch und seufzt, während er den Blick durch sein derzeit aufgrund von Corona geschlossenes Restaurant schweifen lässt, das mit so angenehm gemütlicher Atmos­phäre daherkommt. „Sonst ist es hier voller Gäste, die sich amüsieren …“ Aber er ist zuversichtlich. Hatte er sich beim ersten Lockdown noch der Aktion ‚Kochen für Helden‘ angeschlossen und mit seinen Köchen umsonst für Helfer – zum Beispiel im regionalen Krankenhaus – gesorgt, renoviert und gestaltet er jetzt über den Winter seine zwei Lokale um und blickt optimistisch nach vorne. Denn für eine positive Veränderung braucht es meist nicht viel.

„Mit so wenig wie möglich so viel wie möglich machen“, bringt Pietsch sein Lebensmotto und das seiner Küche gleichermaßen auf den Punkt. Wenig bedeutet für ihn maximale Qualität. Der 32-Jährige ist Sternekoch im nah an Südniedersachsens Grenze gelegenen ­Wernigerode – und damit der einzige Sternekoch in Sachsen-Anhalt. Seine beiden Restaurants, das ,ZeitWerk‘ und das ,Pietsch‘ haben je einen Stern. Das ,Pietsch‘ erhielt ihn schon acht Monate nach der Eröffnung.

Wernigerode ist eine schön renovierte Stadt im Harz mit bemerkenswerten Fachwerkhäusern und einem mittelalterlichen Rathaus – aber man vermutet dort keine Sterneküche. Beim Flanieren über die Breite Straße fällt als Erstes das Schnitzelhaus auf, keine Über­raschung. Tatsächlich gibt es hier aber einen kulinarischen, auch internationalen Tourismus, nämlich den zu Robin Pietsch. Der unterschrieb mit damals 21 einen Mietvertrag für ein Fachwerkhäuschen in einer der Nebenstraßen und nannte es ,ZeitWerk‘. Zuvor hatte er in Wernigerode eine Konditorlehre absolviert und danach eine Kochlehre in Ilsenburg, einem kleinen Ort in der Nähe. Er selbst lebte bis vor einem Jahr in seinem Geburtsort Blankenburg, auch gleich um die Ecke, bis er ein Häuschen ­direkt in Wernigerode bezog. „Ich stehe mit beiden Beinen auf dem Boden“, sagt Pietsch über sich selbst – und diese Beine stehen auf Harzer Erde.

Genau da ist seit ein paar Jahren auch Pietschs Küchenkonzept im ,ZeitWerk‘, nämlich den Geschmack und die Rezepte seiner Heimat in seine eigene Küchensprache zu übersetzen. „In der ersten Zeit habe ich anders gekocht, meine Zutaten dekonstruiert, Schäumchen gezogen und Konsistenzen bis zur Unkenntlichkeit verändert“, erzählt der Gastronom. „Aber irgendwann fühlte ich mich damit nicht mehr wohl.“ Seine wichtigste Gesprächspartnerin über das Kochen war und ist bis heute seine Oma Christa. Der erzählte Pietsch immer von seiner Art der Küche und sie von ihrer – und vor allem kochte sie für ihn.

Sein Lieblingsgericht – ihre Möhrensuppe –, die er bis heute nicht nachkochen kann, und das Gemüse aus ihrem Garten, das sie noch immer persönlich im Restaurant vorbeibringt, sind vermutlich auch ein Anstoß für sein neues Konzept gewesen. Die Gemütlichkeit dieser Situation – nämlich mit Oma Christa zu reden, das Gefühl von Heimkommen, die Schuhe auszuziehen und sich danach auf das Sofa zu legen – addierte der sehr reelle und lebensbejahende Koch ,zur Suppe‘. „Ein Rezept, das man ,eigentlich‘ nicht kopieren kann“, sagt Pietsch und fasst damit sein Restaurant­konzept zusammen.

Aus dem persönlichen Zweifel am Küchenstil folgte ein Umbau des Restaurants und eine 14-tägige ­Suche nach Harzer Rezepten und ihrer zeitgemäßen Umsetzung. Pietsch und seine Kochbrigade recherchierten und probierten aus. Heraus kamen typische Gerichte wie ,Tote Oma‘ – traditionell bestehend aus Blutwurst und Kartoffeln. Im ,ZeitWerk‘ sind Blutwurst mit Majoran und Apfel die Basis, darauf kommt ein Schaum aus ungeschälten Pellkartoffeln, die in Sahne gegart sind. ,Hackus und Knieste‘ – eigentlich ganz simpel Hack mit Ofenkartoffeln. Pietsch aber nimmt Tatar vom Rinderfilet, Grenaille-Kartoffeln und viele Kräuter. Seine ‚Harzer Platte‘ nennt er ‚Brotmahlzeit‘ – sie besteht aus luftgetrocknetem Schinken, Rahm, selbst gebackenem Brot, gepickelten Radieschen und Rettich … Wer mehr Rezepte des Sternekochs kennenlernen möchte, kann ihm übrigens auch jeden Freitag im Radio MDR Sachsen-Anhalt zuhören.

Nachdem in Wernigerode die neue Ausrichtung der Küche bekannt wurde, brachten die einheimischen Gäste DDR-Rezepte mit. Die wurden damals in Kladden ver­öffentlicht und stehen jetzt als Sammlung in Pietschs Büro. in dem Restaurant im ersten Stock mit dem vielen Holz und seinen hellen Wänden ist es heimelig. In den Beistell­tischen ist ein Band mit schwarzen, glänzenden Steinen eingelegt, die aus dem Harzer Fluss Bode stammen.

Modern und unmodern zugleich sind die Konservierungsmethoden in der neuen Küche. „Wir kochen viel ein. Als wir damit begannen, habe ich unzählige Weckgläser gekauft und dafür viel Geld ausgegeben“, erzählt der Sternekoch. Das ,ZeitWerk‘ weckt ein, trocknet und fermentiert. „Wenn ich hier von regionalen Anbietern Spargel bekomme, kaufe ich den und konserviere ihn für das ganze Jahr.“ Ein Gericht, das dabei herauskommt, ist fermentierter Spargel mit pulverisierten Fichtenspitzen. „Das ist auch der Harz.“ Das Motto lautet, so lokal und puristisch wie möglich. Eine Einschränkung für den regionalen Ansatz ist die Verfügbarkeit von Rohstoffen. Glücklicherweise gibt es in der Region eine innovative Gärtnerei, die viele Kräuter und Gemüse zieht, die seiner Sterneküche Anregungen bietet. „Die ganze Küche ist zwei- bis dreimal im Jahr dort, um zu kosten, neue Sorten kennenzulernen und Gerichte zu entwickeln.“

Anfangs war Robin Pietsch sehr konsequent und wollte weder Salz noch Pfeffer benutzen, da es die im Harz nicht gibt. Anstelle von Salz dörrte und pulverisierte er Staudensellerie, der dabei eine eigene Salzigkeit ent­wickelt. Inzwischen sieht er das entspannter und nimmt Meersalz.

Entspannter und neugieriger geht er auch mit seinem neuen Restaurant, dem ,Pietsch‘ um, das 2019 eröffnete. Dort vereint er französische Küche und ­andere internationale Einflüsse, die er schätzt, mit der japanischen Kaiseki-Küche, der Hochküche Nippons. Sie steht für Qualität und die perfekte Einfachheit, die das Produkt in den Mittelpunkt stellt. Ihre Philosophie deckt sich mit den Vorstellungen des Gastronoms. „Aber es ist nicht das Original, sondern meine Interpretation.“ Und auch hier gilt sein Prinzip, aus Wenigem das Beste zu machen. Ein Gericht unter vielen in der Menüfolge von zwölf Gängen ist die ,mit Dashigelee gefüllte Kapuzinerkresseblüte‘, ein anderes ist ,Kabeljau mit Kombu Beurre Blanc und Kaviar vom Stör‘. Er und vor allem seine Mitarbeiter haben sich intensiv mit dieser ausgefallenen Art des Kochens beschäftigt. Auch das hat er lernen müssen in der Zeit der Expan­sion: seinem Team zu vertrauen. Die Gäste sitzen an einem Holztresen vor der offenen Küche – ein schlichtes, urbanes Konzept. Den Tresen hat ein Freund getischlert, und Robin Pietsch hat ihn selbst gemauert: „Das habe ich wohl von meiner Familie mitbekommen: Mach lieber ­alles selber!“ Und das ist wohl nicht das Einzige: Seine Eltern kommen ebenfalls aus der Gastronomie. Die Mutter ist Restaurantfachfrau, sein Vater hat Koch gelernt.

Und so verbringt Pietsch auch viel Zeit im Büro und kümmert sich selbst um die Finanzen. Er beschäftigt insgesamt 16 Mitarbeiter, für die er sich stark verantwortlich fühlt – auch wenn sie zurzeit in Kurzarbeit stehen. Seine beiden Restaurants hat er vor Corona gut organisiert. In jedem von ihnen stehen ein Souschef und ein Sommelier. Beide Lokale bieten gesetzte Menüs, die pünktlich beginnen. Bis dann sollten sich die Gäste eingefunden haben. Das ist einerseits für die Küche gut machbar, andererseits bietet es tagsüber die nötige Zeit, die raffinierte Einfachheit der vielen kleinen Gerichte gut vorzubereiten. Die Filigranität der vielen kleinen Gänge profitiert auch von Pietschs ursprünglicher Konditorlehre.

Auf die beiden Sterne ist der junge Koch stolz und teilt sie gerne mit seinem Team. „Das bedeutet natürlich eine Verpflichtung, aber es ist auch Ansporn.“ Wenn er in der Küche ist, steht manchmal der kleine Stern daneben. Dann sagt er sich: „Heute musst du wieder alles geben.“ Und ein bis zwei ­kleine Sterne mehr in der Küche hätten auch Platz. Inzwischen besucht der Gastronom in seiner wenigen Freizeit auch andere Sternelokale. „Das habe ich vorher nicht gemacht.“ Zu seinem Erfolgsrezept gehört neben seinem Selbstvertrauen und seinem gesunden Ehrgeiz auch der Sinn für guten Service und Inszenierung. Wenn das Harzer Menü im ,ZeitWerk‘ serviert wird, machen das alle Köche gleichzeitig. Einer von ihnen klatscht dann in die Hände und erläutert den Gang. Im ,Pietsch‘ sitzen die Gäste frontal vor den Köchen und sind auf der Webseite schon darauf vorbereitet worden, dass dieser Abend wie ein Theaterbesuch ist und vier Stunden dauert.

„Ich mache das, was ich für mich für richtig halte“, sagt Robin Pietsch. Das gilt auch für seine Heimatverbundenheit. Er hat diese Region beruflich nie verlassen. „Ich habe hier alles, was ich brauche. Ich bin gern hier und habe nie daran gedacht, wegzugehen – wenn auch die ersten fünf Jahre mit dem Restaurant schwierig waren.“ Wenn er einmal alles geschafft hat, von dem er träumt, und das ist noch viel, dann kann er sich vorstellen, ein kleines Mittagsrestaurant mit nur drei guten Wohlfühlgerichten zu eröffnen, zum Beispiel mit Möhrensuppe. Wie das wohl heißen soll? „Oma Christa!“

Foto: Ben Kruse

Tote Oma

Zutaten:
Rotwurst
Schaum
Salat

Tote Oma (Rotwurst):
ca. 200g Rotwurst / Grützwurst
1 Apfel
1 kleine Zwiebel
Majoran frisch
Zucker & Salz

Gewürfelte Zwiebeln und Apfel in einer Pfanne anbraten, Grützwurst grob geschnitten zugeben, weiter schwitzen und abschmecken mit gehacktem Majoran, Salz und Pfeffer.

Pellkartoffel Schaum:
ca. 125g kleine Kartoffeln (Grenaille)
ca. 200 ml Sahne
1 EL Butter
Muskat, Salz, Pfeffer

Kartoffeln mit Schale grob Würfeln und in der Sahne/Butter – Mischung weichkochen. Mit einem Pürierstab fein mixen. Abschmecken mit Salz, Pfeffer und Muskat. Durch ein feines Sieb in einen Sahnesiphon geben.

Salat:
1 Teil Weißweinessig
2 Teile Honig
3 Teile Öl
Salz, Pfeffer
100g Gartenkräuter von Oma

Essig, Honig und Öl verrühren, abschmecken mit Salz und Pfeffer. Kräuter putzen und darin marinieren.

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