Ohne Netz und doppelten Boden – bei Harzdrenalin wird nichts ausgelassen, um die eigenen Grenzen zu erleben. Ein Selbsterfahrungstrip mitten im Harz.

Der Puls liegt bei gefühlten 160 Schlägen. Mein ganzer Körper ist angespannt, ich bin nervös, unruhig. Von einem flauen Magengefühl zu sprechen, wäre ein heftiges Understatement. Nein, mein freier Fall von der Titan-Hängebrücke steht nicht unmittelbar bevor – er liegt drei Stunden zurück. Adrenalinausstöße provozieren? Das können sie bei Harzdrenalin! ,Gigaswing‘ lautet das Wort, das auch Tage später noch Panikgefühle auslöst. Der Pendelsprung 75 Meter in die Tiefe ist die ultimative Herausforderung und ein Muss für Adrenalinjunkies. Ich dagegen bin mir noch nicht sicher, ob der Sprung es in die top Drei meiner schlimmsten Erlebnisse schafft oder ob ich ihn guten Gewissens weiterempfehlen kann. Getreu dem Motto: „Musst du mal gemacht haben.“ Was definitiv in die zweitgenannte Kategorie fällt: ein Besuch bei Harzdrenalin.

Denn dort wird weit mehr angeboten als Nahtoderfahrungen. Allein der Ausblick von der weltweit größten Hängebrücke ihrer Art, der 485,5 Meter langen, 100 Meter hohen und 120 Tonnen schweren ,Titan RT‘ und die idyllische Natur rundherum sind die Reise wert. Komplettes Kontrastprogramm zur Hektik und Lautstärke der Großstadt. Abschalten für einen Tag ist hier problemlos möglich, sofern der Kontakt mit Freifalleinrichtungen vermieden wird. Aber dazu später mehr.

2011 gründeten die Brüder Stefan und Maik Berke Harzdrenalin. Zuvor waren beide als Handwerker tätig und häufig auf Montage unterwegs, getrennt von ihren Familien. Stefan Berke erinnert sich: „Wir fragten uns, ob das das Leben sein soll, was wir führen wollen?“ Die Antwort: Das war es nicht. Also tüftelten sie ein Konzept aus. Ein Kontrastprogramm zu den bestehenden Tourismusangeboten im Harz sollte es werden. „Den Gästen sollten noch nie dagewesene Events geboten werden, bei denen sie spüren, dass sie willkommen sind und an denen sie Spaß haben“, erzählt Stefan Berke.

Zur Umsetzung bedurfte es aber der Geduld und vor allem vielen Geldes. Allein in die im vergangenen Jahr eröffnete Hängebrücke, auf der bis zu 210 Besucher gleichzeitig Platz finden, flossen gut 3,5 Millionen Euro. Drei Banken überzeugte Harzdrenalin, das Vorhaben zu unterstützen – jeweils gespeist aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung. Eine Investition, die sich schnell bezahlt machte: Noch im Jahr der Eröffnung gewann Harzdrenalin mit ihrer Titan RT beim Innovationspreis des Landkreises Göttingen 2017 in der Kategorie ,Bewerber über 20 Mitarbeiter‘ den zweiten Platz.

„Ausdauer war gefragt – finanziell, aber auch nervlich“, erzählt Stefan Berke. „Wenn man aufhört, als Handwerker zu arbeiten, und immer gutes Geld verdient hat, ist es nicht einfach, eine Firma aus dem Nichts zu schaffen. Es kannte uns niemand, und wir haben alles auf eine Karte setzen müssen.“ Nur seinem damaligen Banker sei es zu verdanken, dass sie nicht schon vor Beginn pleite waren. Es gab ja keine Einkünfte mehr, und alle Kredite für Megazipline, Wallrunning und Segway mussten schon getilgt werden. „Da die Planungs- und Bauphase aber Jahre dauerte, wurde das Eis mehr als dünn. Dies haben wir zum Glück hinter uns gelassen“, sagt der Gründer heute zufrieden.

Genaue Besucherzahlen nennen die Brüder nicht, sie seien jedoch sehr zufrieden. Auch im Winter kommen demnach flug-, lauf- und sprungbegeisterte Gäste in die Nähe von Wendefurth bei Elbingerode. Das Geschäft in einer der schönsten Regionen Deutschlands floriert, das Konzept scheint aufzugehen. „Europaweit findet man keine Stelle, wo mehr Rekordaction-Angebote so gebündelt sind“, sagt Berke überzeugt von der eigenen Idee.

Und damit hat er höchstwahrscheinlich recht. Besonders der Flug an der Megazipline erhält auf einer Bewertungsskala 4,9 von fünf Sternen. Was auf den ersten Blick auch etwas waghalsig erscheint, entpuppt sich als eine der angenehmsten Formen des Reisens überhaupt. Gemeinsam mit faktor-Chefredakteurin Elena Schrader soll ich auf Europas größter Doppelseilrutsche über die Rappbodetalsperre fliegen. Ein Schild am Startturm mit der Aufschrift ,Point of no return‘ suggeriert zunächst ein actiongeladenes Erlebnis, das Zartbesaitete möglicherweise an ihre Grenzen führt. Das kann getrost vergessen werden. Jegliche Aufregung vor dem Flug ist unbegründet. Reise position: in der Horizontalen an einem Stahlseil befestigt. Flughöhe: 120 Meter. Reisegeschwindigkeit: bis zu 90 Stundenkilometer. Das klingt schnell, fühlt sich aber nicht so an. Es gleicht viel mehr einem Gleiten. So ähnlich müssen sich Albatrosse fühlen. Genial. Die Aussicht ist fantastisch, der Flug bietet Spaß pur.

Aufmerksame Leser erinnern sich nun aber an die fehlenden 0,1 Sterne. Weswegen? Weil der Zipflug leider nur eine Minute dauert, die sich zudem noch deutlich kürzer anfühlt. Ein Kompliment, das als Kritik verpackt ist. Unten angekommen, meint die ebenfalls restlos begeisterte Chefredakteurin: „Das ist auch etwas, das alte Leute machen können.“ Daher: Fühlen Sie sich angesprochen, und probieren Sie es aus!

Zur ungehemmten Endorphin-Ausschüttung meinerseits kommt es dennoch nicht. Es gibt schließlich noch den Elefanten im Raum. Sein Name: Gigaswing. Eigentlich bin ich kein übertriebener Angsthase, und gänzlich abgeneigt bin ich dem Pendelsprung daher nicht. Doch einen anderen Wagemutigen bei dessen Absturz zu beobachten, ändert meine Meinung schlagartig. Ja, das ist verdammt hoch. Ja, das geht verdammt schnell. Mir schwant: Beim Gigaswing zu partizipieren, muss wie die Teilnahme an einem Kuchen-Wettessen sein, bei dem man nach dem ersten Bissen feststellt, dass die Kuchen mit Bienen gefüllt sind. „In Brasilien stürzt man sich noch aus viel größerer Höhe“, versucht sich faktor-Fotograf Alciro Theodoro da Silva an einer semieffektiven Beruhigungstaktik. Und das „Wird-schon-nicht-so-schlimmwerden“ von der Chefredakteurin…? Nein, mir ist klar: Gigaswing ist wie die gerade noch rechtzeitige Ankunft am Abfluggate, um dort festzustellen, dass man sein Portemonnaie zu Hause vergessen hat. Mit dem Unterschied, dass es für mich keinen Weg zurück gibt. Ich muss fliegen.

Direkt unterhalb der Brücke werde ich darauf vorbereitet, schlüpfe in die Ausrüstung und werde am Sprungturm verankert. Mir wird erklärt, wie der technische Aufbau ist. Ich kann nichts davon aufnehmen. Gehirn im Autopiloten. Die Beine werden weich, mein Gesicht verliert jegliche Farbe, das Herz ist drauf und dran, mir aus der Brust zu springen. Die finalen Schritte in Richtung Kante tippele ich. Längst hänge ich an einer Schiene unter der Titan RT. Dann werde ich hinausgefahren, verliere den Boden unter den Füßen. Ich will nicht. Ich muss. Augen zu. Jemand zählt den Countdown. „3, 2, …“ Bei „1“ denke ich mir: „Gleich ist es vorüber, wird schon nicht so schlimm“, um Zehntelsekunden später zu realisieren: Es wird hundertmal schlimmer.

Die Fallbeschleunigung ist unbeschreiblich schnell. Der freie Fall kommt einer Explosion à la ,Mentos in Cola-Flasche und kräftig schütteln‘ gleich. Ich drehe mich, habe das Gefühl, mich zu überschlagen. Dabei schreie ich die erste Silbe von fak-tor. Dann ist es schon vorbei. Ich schwinge aus. Das Tempo verlangsamt sich rapide. Die Anspannung fällt schlagartig ab. Während ich über dem Wasser auspendele, entspanne ich regelrecht. Hier unten ist fast vollkommene Ruhe. Aber nicht so schnell. Es geht immerhin wieder nach oben – in erschreckender Langsamkeit. Mit jedem Meter, den ich Richtung Brücke gezogen werde, steigt meine Pulsfrequenz exponentiell an. „Bitte nicht wieder runterfallen“, schießt es durch den Kopf. Ich fange an, mit den Beinen zu zappeln. „Holt mich rein“, rufe ich einem der Angestellten zu. Und dann: Endlich wieder fester Boden unter den Füßen. Es benötigt bestimmt eine Minute, ehe ich wieder annähernd Herr meiner Sinne bin. Zwar bin ich schon froh, das Wagnis eingegangen zu sein (mit der Schmach, sich nicht zu trauen, kann der geübte Narzisst nicht umgehen), bin aber andererseits auch überzeugt, dass ich so etwas in dieser Form nie wieder brauche. Jegliche Fallschirm­ und Bungee­ Pläne werden prompt ad acta gelegt.

Feierabend habe ich allerdings noch nicht. Zum Abschluss steht das Wallrunning an. Per Seil doppelt und dreifach gesichert geht es in Bauchschläferposition eine 43 Meter hohe Staumauer hinab. Dabei gibt es zwei knifflige Momente. Der erste: wenn sich das Tor am Gipfel der Steilwand öffnet und einen Blick in die Tiefe freigibt. Es geht schon wieder nach unten. Der zweite: sich eigenständig nach vorne kippen zu lassen, um die Mauer herunterlaufen zu können. Das hat nichts mit freiem Fall zu tun, setzt aber dennoch die Überwindung voraus, sich trotz zigfacher Sicherung kopfüber ins Ungewisse zu stürzen. Aber dann ist es bereits geschafft.

Von hier an wird es spaßig für alle, die nicht noch unter dem Einfluss eines soeben erlittenen freien Falls stehen. Die Wand kann in unterschiedlichem Tempo abgelaufen werden. Einige benötigen Sekunden, andere hängen dort länger als die großelterliche Wandtapete. Was ihnen nicht zu verdenken ist, denn sich von der Wand kräftig abzudrücken, um einen Moment zu schweben, bringt verdammt Laune.

Noch glücklicher macht mich dann nur die Ankunft am Boden. Für heute war das genug Adrenalin. Und auch für morgen. Und die kommende Woche. Aber später mal wieder herkommen, das kommt infrage. Freunde zum Gigaswing zu nötigen und ihnen selbst genüsslich von der Hängebrücke zuzusehen.

Foto: Alciro Theodoro da Silva
Zum Autor

Der freie Fall von der ,Titan RT‘ ist nicht die erste Grenzerfahrung, der sich faktor-­Tester Rupert Fabig ausgesetzt hat. Als Autor der Serie ,fab geht ab‘ wagte sich der Redakteur in Diensten des Göttinger Tageblatts im Selbstversuch an mehr (Rollkunstlaufen) oder minder (Triathlon) ausgefallene Sportarten. Der gebürtige Leinefelder berichtete jahrelang redaktionell über die Göttinger Sportszene, speziell die BG Göttingen in der Basketball­ Bundesliga. Inzwischen lebt der sport­ und kulinarikbegeisterte 28­Jährige in Hamburg, wo er als Pressesprecher des Basketball­-Zweitligisten Hamburg Towers arbeitet.

 

TOP

entdeckt, entwickelt & erzählt Erfolgsgeschichten