Der Mitreißer
Bernd Wollnik, einer der derzeit gefragtesten Humangenetiker weltweit und neu am Institut für Humangenetik und Herzzentrum der Universitätsmedizin Göttingen, über die kleinste Schatzsuche der Welt.
Sein Traum ist es einmal gewesen, ein einziges Gen zu finden, dessen Fehlfunktion zu einer erblichen Erkrankung führt. Sein Herz schlägt für den Wunsch, das scheinbar Unmögliche zu schaffen. Heute ist Bernd Wollnik Professor der Humangenetik und zählt mehr als 50 identifizierte Gene auf seiner Liste. Der Weg führte ihn aus dem Rheinland in die Mitte Frankreichs, an die norddeutsche Küste und sieben Jahre nach Istanbul. Jetzt übernimmt er als Direktor die Humangenetik am Göttinger Herzzentrum. Noch immer rast das Herz des 49-Jährigen bei dem Gedanken, ein neues Geheimnis aufzudecken. Tag und Nacht. Eine große Tasse mit heißem Kaffee dampft vor ihm. In der Hand eine Tageszeitung, in den Ohren das Gewusel und Gerede der Nachbartische. Im Kopf? „Gene!“, sagt Bernd Wollnik. Er liebt diese Atmosphäre, diese Stimmung, wenn Menschen um ihn herum sind. „Dann werde ich kreativ und habe die besten Ideen.“ Entspannung nennt er es, wenn er seine Gedanken sich selbst überlassen kann. Dass diese sich weiterhin um die Forschung drehen, sei Herzenssache.
Forschung am wichtigsten Organ
Kein Organ ist so mächtig wie das Herz. Arbeitet es nicht, stirbt der Mensch. Schätzt er es nicht, bleibt es stehen. Herzenssachen. Das sind Dinge, die uns wichtig sind. So wichtig wie das Leben, das Überleben. Als Wollnik mit dem Medizinstudium begonnen hat, war ihm klar: Es muss etwas für ihn Wichtiges sein. Er promovierte mit einer Arbeit über das Genexpressionsmuster bei Herzhypertrophie und forschte in einem Freisemester mit führenden Herzexperten in Paris. Heute ist er einer der gefragtesten Humangenetiker weltweit. Und er erzählt gerne von seiner Arbeit, egal wem, egal wo.
Das Labor ist alt, und die Instrumente nützlich. Klare und bunte Flüssigkeiten werden von Plastik in den Schränken gehalten, mit Filzstift steht darauf, was drin ist. Bernd Wollnik ist dort nicht mehr oft. Bald ziehen sie um – das Institut für Humangenetik Göttingen, das Team und er, der neue Direktor. „Ich arbeite eigentlich nur noch am Computer“, gibt er zu. Während die Kollegen, von denen ihm viele aus Köln nach Göttingen gefolgt sind und noch folgen werden, mit Pipetten und Reagenzgläsern genetische Ketten lösen und die kleinsten Bestandteile des Lebens entschlüsseln, sucht der Professor am Schreibtisch nach dem einen Gen, das alles verändert. Dort füttert er Computersimulationen mit aufwendigen Daten. Über 50-mal hatten er und sein Team bisher Erfolg. Er kann gar nicht anders. Er will gar nicht anders. Zu Hilfe kam ihm dabei eine Revolution in der Forschung, das ,Next Generation Sequencing‘. „Wir forschen heute nicht mehr komplett ins Blaue, sondern können die Gesamtheit aller Gene anschauen und testen“, erklärt Wollnik in Kürze. Das ist nicht nur schneller als früher, sondern auch deutlich effektiver. Die Humangenetik blüht, und Wollnik ist mittendrin.
Wichtige Jahre in Istanbul
An den Nachbartischen wird es leiser, wenn Wollnik über seine Arbeit redet. Göttingen ist eine Stadt voller Studenten: neugierige Menschen, die wissen wollen, wie das Leben funktioniert. Das Café ist eng und eingerichtet wie ,Muttis Stube‘. Kein Stuhl gleicht dem anderen, die Wände zieren Blümchentapete und massive Bilderrahmen. Das einzige Licht fällt durch ein großes Schaufenster, Bernd Wollnik wirkt erhaben, wie er da sitzt im Anzug und mit den Dingen, von denen er spricht. Das Durcheinander der Stimmen, das er gerade erlebt, ist nichts im Vergleich zu dem, was er in sieben Jahren Istanbul gesehen hat. Seine Forscherkollegen haben ihn für verrückt erklärt, als er sich dafür entschieden hat, mit seiner Arbeit in die türkische Metropole zu ziehen. „Zeitverschwendung sei das“, erinnert er sich an wenige Worte. Heute weiß er: „Das war eine ganz wichtige Zeit in meinem Leben.“ Er habe dort Extreme gesehen und wie damit umgegangen wird. Gelernt, dass alles sich irgendwann fügt. Und dass Zeit alles andere als wichtig ist. „Drei Stunden im Stau von der Arbeit nach Hause, das war nicht ungewöhnlich.“
Seine positive Einstellung zum Leben sei ihm da gerade recht gewesen. „Ich fahre gerne Auto, mich stört das also nicht.“ Wollnik ist jemand, der für seine Sache brennt. Das steckt an. Auch dann, wenn das Thema so komplex ist wie das der Humangenetik. Für ihn ist es ein großes Abenteuer, eine Schatzsuche, in den kleinen Dingen allen Lebens Antworten zu finden, die so groß und wichtig sein können. Kein Stöhnen über schlechte Arbeitsbedingungen, mangelnde Mittel oder schlechte Ergebnisse. Er geht alles mit großer Freude an und erwartet von der Sache nicht viel weniger zurück als die Antwort auf alle Geheimnisse, die in ihr stecken. Seine positive Lebenseinstellung hat ebensolche Folgen. „Ich kann Menschen ganz gut mitreißen“, schwärmt der Wissenschaftler. Und tatsächlich: Viele seiner Kollegen, mit denen er gemeinsam in Köln ein Forscherteam aufgebaut hat, kommen jetzt ebenfalls nach Göttingen. „Für viele ist das ein großer Schritt.“ Auch für ihn. Mit Lebensgefährtin und Kindern wartet in der Universitätsstadt ein neues Leben. Er will etwas aufbauen, dafür wurde er berufen. Ein modernes Institut für Humangenetik an der Universitätsmedizin. Ihm kommt dabei zugute, dass das Feld der Humangenetik gerade boomt.
Sprechstunde für Menschen mit Herzleiden
Nach dem Umzug in ein moderneres Labor will das Team der Göttinger Humangenetik zusammen mit der Kardiologie eine Sprechstunde für jene Patienten anbieten, die mit einem Herzleiden zu kämpfen haben, das genetische Ursprünge hat. Diese Chance, etwas entstehen zu lassen, sowie der Standort Göttingen als Nährboden für neue Ideen und eine Weiterentwicklung der eigenen Forschung seien es am Ende gewesen, die Wollnik zum Umzug bewogen haben. Er weiß aber auch: „Die Genetik ist nicht immer das erste Mittel, die erste Medizin.“
Die Ergebnisse seiner Forschung münden vor allem in eine neue Diagnostik und hoffentlich zukünftig auch in neue Medikamente und Therapieansätze. Die Kombination aus Patientenversorgung und Wissenschaft ist für den Vollblutforscher ideal. Er liebt die Herausforderung, alles Neue und die Möglichkeit der stetigen Weiterentwicklung.
Zwei Stunden hat Bernd Wollnik erzählt. Der Kaffee in der Tasse dampft nicht mehr. Kaum ein Gast hat das Café verlassen. Niemand hat ihn angesprochen, aber jeder hat ihm zugehört. Nicht alles haben sie verstanden. Wie das funktioniert mit dem Identifizieren von Genen. Warum es nicht möglich ist, irgendwann unsterblich zu sein, und auch Wörter wie Desoxyribonukleinsäure, Doppelhelix oder Nukleotid lassen nur schwache Erinnerungen an den Biologieunterricht zu. Eines haben sie alle aber sehr wohl mitbekommen, und das hat sie dazu gebracht, lieber noch einen zweiten ,Latte‘ zu bestellen: Der schlanke Typ mit dem mittellangen schwarzen Haar, dem spitzen Gesicht und der schmalen Brille hat noch einiges vor. Und niemand wird ihm unterstellen wollen, dass er nicht alles dafür in die Waagschale werfen wird, um weiterhin erfolgreich zu sein.
Foto: Alciro Theodoro da Silva
Zur Person Bernd Wollnik ist neuer Direktor der Humangenetik in Göttingen. Der 49-Jährige ist nach Stationen in Istanbul und Köln nun dem Ruf in die Universitätsstadt gefolgt. Ziel ist eine noch engere interdisziplinäre Zusammenarbeit, insbesondere mit dem Göttinger Herzzentrum. Seine Familie ist bereits mit nach Göttingen gezogen, und einige Kölner Kollegen bringt er auch mit. Wollnik liebt das Reisen, vor allem aber das Zurückkehren in den Kreis seiner Familie und engen Freunde.