Der Blaumacher

Es klingt wie eine Utopie: eine Wirtschaft, die die Umwelt nicht nur schont, sondern überhaupt nicht mehr belastet – eine Welt, in der es keine Abfälle und keine Armut mehr gibt. Der Ökonom und Gründer der sogenannten ,Blue Economy‘, Gunter Pauli, arbeitet erfolgreich an dieser Idee und schreibt hier über seine Welt von morgen.

In den 1990er-Jahren fragte mich Javier Morales, damals stellvertretender Bürgermeister der Kanareninsel El Hierro, ob ich ihn beim Ankurbeln der lokalen Wirtschaft unterstützen könnte, damit sie eines Tages von Wasser und Öl unabhängig wird. Es dauerte nicht lange, bis – basierend auf Windenergie, Wasserkraft und Schwungrädern – eine Strategie ausgearbeitet war. Eine Strategie, die das Ziel verfolgt, nachhaltig ausreichend Energie und Wasser zur Verfügung zu stellen, um die Landwirtschaft und die lokale Lebensmittelindustrie zu fördern – insbesondere die für Fleisch, Käse und Joghurt. Zu Beginn, im Jahr 1997, lag die Gesamtinvestition für dieses Projekt bei geschätzten 67  Millionen Euro. Allerdings waren Politik und Wirtschaft damals der Meinung, dass eine Investition in dieser Höhe für eine so kleine Insel mit nur rund 100.000 Einwohnern zu hoch sei – und das Projekt auf dem besten Weg sei, ein Millionengrab zu werden.

Stimmt das?

Betrachtet man das Ganze einmal aus einem anderen Blickwinkel, kommt man zu einem anderen Schluss. Zum damaligen Zeitpunkt wandte die Insel rund acht Millionen Euro im Jahr für den Import von Diesel auf, um damit elektrische Energie zu generieren. Interessant, dass dieses ökonomische Energiegewinnungsmodell als normal galt, obwohl Wasser und Energie sehr teuer waren, was wiederum eine Entwicklung der Industrien hemmte. Da braucht es keinen Ökonomen, um festzustellen, dass die Gesamtausgaben für den Diesel-Import für die gesamte lokale Bevölkerung – unter Annahme hoher Risiken – in zehn Jahren bei 80 Millionen Euro liegen würde. Geld, das aus der lokalen Wirtschaft direkt zu den Ölproduzenten fließt. Daher war durchaus die Frage erlaubt: ,Wie kann der Import von umweltbelastenden fossilen Brennstoffen und der Verlust von Millionen als normal betrachtet werden, während die Umwandlung dieser Ausgaben in eine Investition in lokale erneuerbare Energiequellen – die Geld zurück in die Wirtschaft pumpen – als nicht tragbare Belastung angesehen wird?‘

Kurzum: Die Idee, El Hierro zur ersten Insel zu machen, die sich selbst mit Wasser und Energie versorgt, wurde zur Realität. Eine entsprechende Energiegewinnungsanlage wurde 2013 in Betrieb genommen. Wasser und Energie bedeuten Leben für Landwirtschaft und Industrie. Über Jahr- hunderte musste die Insel bezüglich beider Ressourcen dramatische Engpässe erleiden, durch welche die wirtschaftliche Entwicklung gebremst wurde.

Und dann die Wende: Dank der erneuerbaren Energien standen auf der Insel die doppelte Menge Wasser zu den halben Kosten zur Verfügung sowie weitere acht Millionen Euro, die in die örtliche Wirtschaft flossen. Heute verfügt die lokale Lebensmittelindustrie über ein Fleisch-Verpackungsunternehmen, in dem Ziegen- und Schaffleisch verarbeitet werden, eine mit Obstverarbeitung kombinierte Käse- und Joghurtfabrik und ein Weingut, auf dem lokale Trauben zu Wein werden.

Anstatt zu versuchen mit der globalen Wirtschaft mitzuhalten, indem man die Kosten minimiert, die dennoch nie niedrig genug sein können, um ernsthaft wettbewerbsfähig zu werden, reagierten die lokalen Politiker auf die Bedürfnisse der Inselbewohner völlig anders und erreichten mithilfe lokaler Ressourcen eine nennenswerte Wertschöpfung. So stiegen die Beschäftigungsquoten stark an, und zum ersten Mal seit Jahrzenten können sich auf El Hierro Kinder und Enkelkinder eine berufliche Zukunft auf der Insel vorstellen. Das ist die Praxis der blauen Ökonomie: Und sie ist besser als grün.

Seide: Der Konsequenzen nicht bewusst

Es gibt aber noch ein weiteres Beispiel für die blaue Ökonomie. Vor einem Jahrhundert befand sich die Weltproduktionsrate von Seide bei ungefähr einer Million Tonnen pro Jahr. Doch das Aufkommen von Nylon, einem von Wissenschaftlern am Dupont de Nemours entwickelten synthetischen Polymer, läutete das Ende für den Naturstoff Seide ein, der von der Maulbeerbaumraupe produziert wird – einer Schmetterlingsraupe, die die Engländer fälschlicherweise als Wurm bezeichnen. Die traditionellen Ökologie-Ökonomen schalteten sich ein und berechneten den CO2-Ausstoß von einer Million Tonnen Petroleum, die bei der Nylon-Produktion eingesetzt werden, und verglichen diesen mit dem CO2-Volumen, das beim natürlichen Produktionsprozess von Seide entsteht.

Als China vor 5.000 Jahren mit der Landwirtschaft für die Seidenproduktion begann, galt sein Interesse zunächst nicht der Seide selbst, sondern vielmehr der Umwandlung von Savannen in fruchtbare Landstriche. Denn man hatte festgestellt, dass die Raupe, die etwa 50  Prozent der Maulbeerblätter verzehrt, einen für Mikroorganismen so reichhaltigen Mix an Ausscheidungen und verbliebenen Blättern auf dem Boden hinterließ, dass sich ein qualitativ höchst wertvoller Nährboden entwickelte. Unfruchtbare Regionen, die mit Maulbeerbäumen bepflanzt wurden, verwandelten sich innerhalb einer Dekade zu Agrarflächen, die sich für die Bepflanzung mit Wassermelonen eigneten. Damals war nur wenigen Menschen bewusst, dass die Exkremente der Raupen bewirkten, dass Kohlenstoff im Boden fixiert und so schwarze Erde geschaffen wurde, die der Menschheit noch über Jahrhunderte vonnutzen sein würde. Diese Ökosystemleistung war der wahre Erfolg der Maulbeerbaum-Raupe-Symbiose. Seide war nur ein Nebenprodukt.

Doch mit dem Aufkommen von Nylon ersetzten wir nicht nur natürliche Seide durch energetisch sehr ungünstige Petroleum-Erzeugnisse. Nein, noch schlimmer. Dadurch stoppten wir den Prozess, bei dem durch die Einlagerung von organisch gebundenem Kohlenstoff und Stickstoff hochwertiger Nährboden gewonnen wird. Dieser Verlust der oben genannten Ökosystemleistung und der kontinuierlichen Generierung hochwertiger Böden führt zu der Notwendigkeit, verstärkt Kohlenstoff und Stickstoff abzubauen bzw. zu gewinnen. Bis diese Ressourcen erschöpft sind.

Sobald der Gehalt von Kohlenstoff im Boden bei weniger als fünf bis sechs Prozent liegt, sehen sich Landwirte gezwungen, ihre Produktion einerseits durch Bewässerung aufrechtzuerhalten, da kohlenstoffarme Bö-den keine Feuchtigkeit halten können – und andererseits durch die Zugabe von synthetischem Dünger und Stickstoff. Dass dies nur mittels eines massiven Einsatzes von fossilen Brennstoffen realisierbar ist, leuchtet wohl jedem ein. Doch zurück zur Seide: Das Naturprodukt ist widerstandsfähig und überdauert mindestens drei Generationen oder hundert Jahre. Nylon hingegen – symbolisiert durch Damenstrumpfhosen, die schon bei der kleinsten Laufmasche entsorgt werden – ist ein typisches Wegwerfprodukt und wird kaum je recycelt.

Ehrgeizige ,grüne Branche‘

Die wichtigste Frage ist, wie man diesen Trend umkehren kann. Seide hat eine einzig-artige Dehnbarkeit, erlaubt Zellen auf und in ihr zu wachsen und hemmt auf natürliche Weise das Wachstum von Pilzen und diversen Bakterien. Und immer wieder entdecken Forscher neue Fähigkeiten der Seide: Sie kann helfen, Knorpelgewebe zu regenerieren, und könnte die Knie-Endoprothetik revolutionieren, die bislang auf dem Einsatz von  Titan basiert. Zudem bietet Seide die Grundlage für die Nervenregeneration nach Traumata, inkl. dem Potenzial, Menschen mit Tetraplegie – einer Form der Querschnittlähmung – dazu zu verhelfen, wieder laufen zu können.

Während diese Auswirkungen im medizinischen Bereich in einem relativ kleinen Rahmen stattfinden, wird der große Markt in der Kosmetik sein. Denn hier – angefangen bei Rasierschaum für Männer bis hin zu Emulgatoren für Nachtcremes zur Falten-reduktion – sind synthetische Emulgatoren zum Standard geworden, was jedoch die Meere massiv mit Mikrokugeln verschmutzt, die letztlich in unserer Nahrungskette landen. Seide könnte diese biologisch nicht abbaubaren Plastikkügelchen ersetzen, doch dazu würden – pessimistisch geschätzt – zwei Millionen Tonnen Seide benötigt.

All diese Prozesse zu verändern und zu gestalten, wird uns nur gelingen, wenn wir unsere Produktionssysteme und unser Konsumverhalten ändern. Wir müssen von einem System abkommen, in dem alles, was unserer Gesundheit und unserer Umwelt gut tut, teuer ist, und alles, was uns schadet, wenig kostet. An dieser Stelle anzusetzen und nachzubessern, ist die fundamentale Veränderung, die von der blauen Ökonomie vorgeschlagen wird.

Kaffee: schwindelerregende Tatsachen

Ein weiteres Beispiel ist Kaffee. Es demonstriert wieder einmal, wie ignorant wir gegenüber den großartigen Möglichkeiten sind, die vor uns liegen. Kaffee ist ein global gehandeltes Gut. Geschätzte zehn Millionen Tonnen grüner Kaffee bewegen sich um den Globus.

Wer ist sich schon dessen bewusst, dass nur 20.000 Tonnen davon verbraucht werden und schwindelerregende 9.980.000 Tonnen im Müll landen? Die Kaffeeindustrie hat sich für die Verbrennung ausgesprochen – als eine Alternative für fossile Brennstoffe. Doch wir vergessen, dass der Ersatz von fossilen Brennstoffen durch die Kaffee-Reste-Verbrennung lediglich ,weniger Schlechtes‘ bewirkt – viel wichtiger aber ist, dass wir ,mehr Gutes‘ bewirken.

So ist zum Beispiel verarbeiteter Kaffee ideal, um Pilze anzubauen. Dazu muss man sich bewusst machen, dass 60 Prozent der Kosten in der Pilzproduktion in die Sterilisation des Substrats fließen. Hier kommt das Kaffee-Substrat ins Spiel: Nur durch Kaffee-Abfall, der uns jederzeit zur Verfügung steht, könnten wir zusätzliche zehn Millionen Tonnen Protein produzieren. Geschätzte 3.000 Betriebe demonstrieren, dass dies nicht nur eine gute Idee ist, sondern dass dieses Verfahren bereits in die Tat umgesetzt wird. Können wir dies als Erfolg bezeichnen? Nein, ganz und gar nicht, da sich potenziell 25 Millionen Kaffee-Pilz-Farmen in Städten, in Stadtrandgebieten und auf dem Land befinden. Wir haben gerade erst begonnen!

Das gibt zu denken

Es gibt viele Beispiele, die aufzeigen, dass wir durch grundlegende Veränderungen in Umgang und Herstellung in der Lage sind, Leistungen zu erzielen, die lange als nicht realisierbar galten. Der Vorteil bei diesen Beispielen ist, dass viele davon weder neue Technologien oder komplexe Ingenieurleistung erfordern noch große Investitionen. Diese Lösungen sind pragmatisch und können von jedermann umgesetzt werden. Die einzige Möglichkeit, wie wir Geschäfte erfolgreich in Richtung Nachhaltigkeit steuern können, ist, indem wir realisieren, dass dieser Weg nicht schwierig ist, sondern nur anders.

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