Das Sterben ins Leben lassen

Das Leben bis zum letzten Augenblick genießen, ist ein Wunsch, den viele in sich tragen. Für Menschen, die unheilbar erkrankt sind, sieht die Wirklichkeit meist anders aus. Die verbleibende Zeit dennoch lebenswert zu gestalten, dazu trägt seit 30 Jahren das Palliativzentrum in Göttingen bei.

Helle, breite Flure, lichtdurchflutete Zimmer mit kleinen Terrassen und Blick in die Natur. Leise, melodische Klaviertöne ziehen durch die Gänge und durch die offenen Türen der Patientenzimmer. Aus der Gemeinschafts­küche hört man Stimmengewirr und Lachen. Wer durch den gepflegten Garten die Palliativstation der Universitätsmedizin Göttingen betritt, wird erstaunt sein, dass er in einem Krankenhaus ist. Vermutlich wird er eher von einem Gefühl der Geborgenheit überrascht werden. Denn auf dieser Station ticken die Uhren anders. Der hektische Alltag hat seine Macht verloren. Die Menschen, die hier Patienten sind, wissen von ihrer unheilbaren Krankheit – doch ihr Leid, ob körperlich, ­psychisch, seelisch oder spirituell, wird an diesem Ort gemindert.

„Ich war von der ersten Stunde der Planung des Palliativ­zentrums an dabei. Damals hieß es: Ärmel hoch! Es kann ja nur etwas Gutes dabei herauskommen“, erzählt Veronika Frels, die 2002 den Förderverein für das Palliativzentrum der UMG gründete. Seitdem ist sie Vorsitzende und engagiert sich ehrenamtlich und aus vollem Herzen. Wie viel Geld sie über die Jahre durch Spenden und dank zahlreicher Förderer zusammengetragen hat, lässt sich auf die Schnelle nicht errechnen. Aber die finanzielle Unterstützung der Station zum Patientenwohl reicht von ein bis zwei zusätzlichen Pflegekräften über die Einrichtung und Pflege des Patientengartens, vier Autos zur ambulanten Pflege, Sitz- und Aufstehsessel, die Einrichtung eines Wohlfühlbadezimmers, Patientenkühlschränken bis hin zu einer Musiktherapeutin. „Es ist so berührend“, sagt Frels, „wenn man sieht, was mit Menschen passiert, wenn sie Musik hören.“

2020 erhielt Veronika Frels, die hauptberuflich Ge­schäfts­führerin der Larsen-Frels Gewerbe- und Industrie­immobilien ist, für ihre ehrenamtliche Arbeit den Initiativ­preis der Göttinger Litfin-Stiftung. „Der Preis war aber nicht allein für mich, sondern für alle, die mithelfen und uns unterstützen – und so gingen auch die 5.000 Euro direkt an den Verein“, erklärt die Preisträgerin. Denn Geld kann der Verein immer gebrauchen. „Da kann ich für den ganzen Vorstand sprechen: Unser Wunsch wäre, dass es in naher Zukunft flächendeckend Palliativbetten gibt. Weil es ein anderes Sterben ist.“

Doch was bedeutet Palliativmedizin überhaupt? Diese Frage bekommt der Direktor der Klinik für Palliativ­medizin der UMG, Friedemann Nauck, häufig gestellt. Denn nach wie vor gehen viele Menschen davon aus, dass die Palliativmedizin ausschließlich für die letzten Tage oder Stunden des Lebens gedacht ist. Doch ­palliative Behandlung und Begleitung hilft den Patienten auf vielfältige Weise, mit ihrer Krankheit zu leben. Die medikamentöse Einstellung zur Schmerzlinderung ist dabei nur ein Aspekt. Die bereits genannte Musiktherapeutin ist ein anderer wichtiger Bestandteil eines Therapie­konzepts. In der Palliativmedizin Göttingen arbeitet Nauck mit einem multiprofessionellen Team aus Ärzten, Pflegenden, Sozialarbeitern, Seelsorgern, Psychologen, Musiktherapeuten, Physiotherapeuten, aber auch ehrenamtlichen Helfern zusammen. „Es ist so wichtig, dass Sterbende nicht allein gelassen werden – für die Kranken, aber auch für die Angehörigen“, sagt Nauck. Er leitet seit 2006 das Palliativzentrum Göttingen mit der Palliativstation, dem ambulanten Palliativdienst und dem Palliativdienst in der UMG, arbeitet aber bereits seit 1988 als Arzt in diesem Fachbereich. Über die Jahre konnte er beobachten, dass zu den Patienten mit Krebserkrankungen vermehrt Menschen mit Herz-, Lungen- und Nieren­erkrankungen und auch neurologischen Erkrankungen hinzukommen.

Wie schnell eine Krankheit einen Menschen aus dem gewohnten Leben reißen kann, erfahren wir derzeit durch die Pandemie täglich aus den Medien – und häufig sogar im engen Umfeld. Jedoch stellt sich die Frage, ob wir durch die Präsenz von Tod und Sterben am abend­lichen Bildschirm einen anderen Umgang mit dem Tod lernen. „Viele von uns haben die Bilder aus Bergamo mit den vielen Särgen im Kopf. Auch die Situation sterbender Menschen und ihrer Angehörigen in den stationären Alten- und Pflegeeinrichtungen haben wir vollkommen unterschätzt“, sagt Nauck. „Wir hören so zwar mehr über den Tod, aber wir lernen dadurch nicht mehr über dem Umgang mit ihm.“ Sterben, so ergänzt der Professor, findet gerade in Corona-Zeiten hinter verschlossenen Türen statt, sodass weder die Sterbenden noch die Angehörigen Abschied nehmen können. Wem ist dabei bewusst, dass bei einem verstorbenen Menschen meist fünf oder mehr Menschen deutliche Trauer leiden? Zumindest das ist etwas, was uns Corona lehrt: Nichts scheint schlimmer zu sein, als allein sterben zu müssen.

Und gerade unter diesem Aspekt wird deutlich, wie wichtig die Arbeit des Fördervereins für das Palliativzentrum Göttingen ist. Durch ihn wurden schon viele letzte Wünsche erfüllt. Zum Beispiel wurden Menschen, die ihre Haustiere ein letztes Mal sehen wollten – was durch die spe­zielle Lage der Palliativstation im Klinikum möglich ist – von Hund, Katze und sogar schon einmal von einem Pferd besucht. Ein Mann, der seit drei Jahren mit seiner Krebserkrankung kämpfte, sagte zu Veronika Frels: „Wissen Sie, ich habe in den anderen Kliniken immer gleich gefragt: Wann komme ich denn wieder raus? Und hier frage ich: Wie lange darf ich bleiben?“ Und eben jener Patient, der wegen seiner Tumore im Rücken nicht mehr laufen konnte, stand zehn Tage später beim Sommerfest der UMG – zwar mit einem Stock in der einen, aber auch mit einer Bratwurst in der anderen Hand – im Garten des Klinikums. „Das sind so Dinge, die man nie vergisst“, sagt Frels mit Rührung in der Stimme. Auch Nauck kennt diese Momente: „Für mich war ein Arbeitstag ein guter Tag, wenn mir Patienten auch angesichts der Situation, bald sterben zu müssen, ein Lächeln geschenkt haben. Wenn ihre Schmerzen und die anderen körper­lichen und seelischen Belastungen gelindert sind.“

Ob es ein Großteil der Menschen irgendwann schaffen wird, mit dem Sterben und dem Tod als Teil des Lebens umzugehen, bleibt abzuwarten. Wir müssen es aktiv angehen, wenn wir daran etwas ändern wollen. Denn in den seltensten Fällen sterben Menschen heutzutage zu Hause im Kreis ihrer Angehörigen. Und das, obwohl sich die meisten genau das wünschen würden. Und auch darum ist die Arbeit all jener, für die Veronika Frels und Friedemann Nauck in diesem Artikel nur stellvertretend stehen, kaum hoch genug zu schätzen. Es soll aus diesem Grund hier nicht unerwähnt bleiben, wie wichtig Spenden für das Wohlergehen der Erkrankten im Palliativ­zentrum, aber auch in der ambulanten Pflege, den Pflege­heimen und den Hospizen sind. „Uns haben schon oft Menschen in ihrer Erbschaft bedacht. Oder auch Jubilare, die keine Geschenke wollten, sondern lieber um Spenden für unseren Verein baten“, sagt Frels. Und noch gibt es einiges zu tun, um den Wunsch einer flächen­deckenden Palliativmedizin für alle Patienten, die diese benötigen, zu verwirklichen.

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