Neue Arbeitsmodelle in Göttinger Unternehmen

Zufriedene Mitarbeiter gleich zufriedene Kunden – und beides zusammen bedeutet mehr Umsatz. Eine einfache Formel, die auch ein Teil der Antwort auf den omnipräsenten Fachkräftemangel sein kann. Doch da, wo Mitarbeiter fehlen, wird oft gerade der erste Teil der Formel vernachlässigt.

Wer heute als Arbeitgeber bestens ausgebildete Mitarbeiter anlocken und halten will, muss weit mehr bieten als ein gutes Gehalt – er muss auf die Bedürfnisse der Mitarbeitenden eingehen: Der Trend geht hier zur Flexibilisierung und Individualisierung. Vor allem Aspekte wie flexible Arbeitszeiten spielen heute im Büro und – wo es möglich ist – im Homeoffice eine wesentliche Rolle, um Arbeit mit Familie oder Freizeitbeschäftigungen zu vereinbaren.

Ausgehend von einer 40-Stunden-Woche gibt es inzwischen Modelle, nach denen an vier Tagen jeweils zehn Stunden gearbeitet werden kann und wenn möglich auch Unterbrechungen oder spätere Anfangszeiten möglich sind, um beispielsweise die Kinder zur Schule bringen zu können. Deutlich weiter geht der Ansatz, bei der Einführung der

Vier-Tage-Woche die tägliche Arbeitszeit nicht zu verlängern. Statt also wöchentlich 40 nur noch 32 Stunden zu arbeiten – womöglich sogar noch ohne Gehaltseinbußen! Welche Herausforderungen bringen solche Umstellungen mit sich? Ist das in der Praxis ohne Verluste umsetzbar? Können kleine und mittelständische Unternehmen das überhaupt stemmen?

Vier-Tage-Woche bei ELBS

Ein Blick in die Region zeigt: Es tut sich was. Wohl eine der radikalsten Formen der Umstellung wagte Rocco Funke. Im Jahr 2021 wurde dieser mit 49 Jahren nochmal Vater und versprach seinem Sohn kurz nach der Geburt: „Ich werde dich ins Leben begleiten. Wenn du 25 Jahre alt bist, werde ich noch gesund sein.“ Als Inhaber des in Hundeshagen im thüringischen Eichsfeld angesiedelten Unternehmens ELBS ein mutiges Versprechen, das große Herausforderungen mit sich bringt. Denn mit fünf Mitarbeitern kümmert sich der Leckorter in Notfällen auch an Wochenenden um Schäden an Rohrleitungen. Ein oft stressiger und zeitintensiver Job. Doch Funke will natürlich zu seinem Versprechen stehen.

Genau da kommt ihm zugute, dass er schon immer auf mitdenkende Mitarbeiter setzt. Als durch eine spontan eigeninitiativ gestraffte Arbeitswoche alle Aufträge bereits an einem Donnerstag abgearbeitet und die Kunden begeistert waren, gab Funke seinen Mitarbeitern am Freitag frei. „Das machte mich neugierig. Wir haben gemeinsam überlegt, wie wir noch effektiver werden können“, erzählt der Diplom-Ingenieur. Heraus kam eine inzwischen etablierte Vier-Tage-Woche, die nur Gewinner kennt: Die Mitarbeiter haben bei vollem Lohnausgleich ab Freitag Wochenende, es sei denn, es stehen Notfalleinsätze an. Die Kunden treffen auf stets freundliches, zufriedenes und hoch motiviertes Personal, und – Versprechen erfüllt – der kleine Finus kann ab Freitag mit einem sehr viel entspannteren Papa spielen.

„Wir haben Zeitfresser minimiert und mit externer Unterstützung die internen Abläufe optimiert. Und ob Sie es glauben oder nicht: Wir machen an vier Tagen jetzt doppelt so viel Umsatz wie vorher an fünf!“, sagt Funke hochzufrieden.

Er sei sogar so begeistert, dass er seinen Mitarbeitern gern weitere Vorteile biete: Sie fangen morgens erst an, wenn die Kinder in der Schule sind und können sogar spontan frei nehmen, wenn etwas Wichtiges zu erledigen ist – ein solcher ,Emoji-Tag‘ zählt nicht als Urlaubstag. Seine Mitarbeiter seien „emotional gesund“, und das zeigt sich auch im extrem niedrigen Krankenstand. Das erfolg- reiche Gesamtpaket zog bereits neue Fach- kräfte an, und inzwischen hält Rocco Funke sogar in anderen Unternehmen und bei Unternehmerverbänden Vorträge über ,seinen Weg‘. In Zukunft möchte er sein Wissen auch an Meister- oder Hochschulen, IHK und Innungen weitergeben.

Unternehmen in Verantwortungseigentum: Arineo

Ein erfolgreiches Beispiel – das auch zum Motto ,Arbeitszeit ist Lebenszeit‘ von Martin Renker passt. Der Arineo-Geschäfts- führer weiß, wie schwierig es ist, gute IT-Fachkräfte zu finden. Doch das fünfköpfige Geschäftsführungsteam setzt auf eine gute Work-Life-Balance. Klassische Führungskräfte gibt es nicht, es gilt das Prinzip Selbstorganisation. „Menschen wollen keine unnötigen Nervereien oder Hierarchiekämpfe. Wir sorgen in unserer Organisation gemeinsam für ein gutes Umfeld – die Leute sollen bei uns bleiben wollen“, sagt Renker und bringt damit die Aufgabenstellung bei der Personalgewinnung und -bindung auf den Punkt. Bei einer Fluktuationsrate von nur drei Prozent und 70 Neueinstellungen in den ersten zehn Monaten des aktuellen Jahres möchte man mehr über die Philosophie des inzwischen über 330 Mitarbeiter beschäftigenden IT-Dienstleisters wissen.

Arineo ist laut Renker ein „eigenständiges Unternehmen in Verantwortungseigentum“, das über seine Gewinne frei verfügen kann und ab 2024 allen Mitarbeitern gehören wird. Jeder hat ein Arbeitszeitkonto, Überstunden werden ausgezahlt oder in Freizeit abgegolten. Feste Arbeitszeiten oder Arbeitsorte gibt es nicht. „Wichtig dabei ist nur: Wann wer wo arbeitet, muss im jeweiligen Team abgestimmt sein“, sagt Renker. Von Kollegen vermittelte Einstellungen werden zudem honoriert. Die Prämien dafür wandern in einen Topf, über dessen Verwendung alle abstimmen. Die Summe wurde etwa 2021 für die Opfer der Flutkatastrophe gespendet, aber auch zusätzliche Betriebsfeiern oder -ausflüge sind möglich.

Das alles führt dazu, dass die Mitarbeiter auch eigene Bekannte zu Arineo „locken“, in sozialen Netzwerken für ihren Arbeitgeber werben oder gar „beim Friseur über uns sprechen“, berichtet Renker begeistert. „Genau so gelangte kürzlich eine Bewerbung zu uns.“ Bei all dem Optimismus vergisst er aber die zunehmenden Schwierigkeiten auf dem Fachkräftemarkt nicht: Er weiß, mit dem Ausscheiden der Baby-Boomer-Genera- tion wird die Nachfrage nach IT-Experten weiter steigen.

Work-Life-Balance bei Quattek und Partner

Auf Work-Life-Balance setzt man auch bei Quattek und Partner. Die 97 Mitarbeiter der Steuerberatungsgesellschaft profitieren von regelmäßigen Gesundheitsangeboten wie Massage oder Yoga sowie von flexiblen und familienfreundlichen Arbeitszeiten. „Gerade Letzteres spielt bei uns eine wichtige Rolle, da wir viele junge Frauen mit Familie beschäftigen“, sagt Steuerberaterin Miriam Engel und betont die Bedeutsamkeit dieses Aspekts. So profitieren diese zum Beispiel auch von der gemeinsam mit dem ASC Göttingen installierten Kinderferienbetreuung. Im eigenen monatlichen TÜV (= teamübergreifende Veranstaltung) wird das Gemeinschaftsgefühl zudem bei Kaffeeseminaren oder gemeinsamem Grillen gestärkt. Seit Corona ist laut Engel auch das Homeoffice ein wichtiger Punkt: „Wir setzen das sehr individuell anhand der Bedürfnisse der Einzelnen um.“

Natürlich ist aber auch Quattek und Partner stets auf der Suche nach neuen, versierten Steuerfachleuten. Quereinsteiger haben hier gute Chancen. „Wir setzen auch auf in Rente gehende Kollegen“, sagt Miriam Engel. „Sie können bei uns quasi ,nebenbei‘ ihre Lieblingsmandanten weiterbetreuen. „Das ist wichtig, um die Erfahrung und das Know-how der Menschen weiter nutzen und geben zu können.“

All diese neuen Arbeitszeitkonzepte können individuell auf Unternehmen zugeschnitten werden und so in der Praxis funktionieren. Mitarbeiter sollten dafür teamfähige, verantwortungsbewusste und strukturierte Personen sein. Dem Arbeitgeber sollte klar sein: Zufriedene Mitarbeiter sind die besten. Geld ist dabei längst nicht mehr alles, immer mehr kommt es auf die Verbindung von Beruf und Freizeit an. Da heißt es auf beiden Seiten: flexibel sein. Das können – wie die regionalen Beispiele zeigen – kleine und mittelständische Unternehmen (mindestens) genau so gut wie die großen. ƒ

Mögliche Arbeitszeitmodelle

Teilzeit

Längst nicht mehr das Modell nur für Mütter! Entsprechend einer am Personalbedarfsplan orientierten individuellen Regelung arbeitet der Mitarbeiter eine festgelegte Wochenstundenzahl, die in vielen Branchen auch an saisonale Schwankungen angepasst werden und mit einem Stundenkonto verbunden werden kann.

Job Sharing

Zwei Fachkräfte teilen sich einen Arbeitsplatz – das kann eine Win-win-Situation sein: Im Idealfall bekommt der Arbeitgeber so mehr Ideen und doppelte Motivation und Erfahrung, muss aber nicht mehr Gehalt zahlen. Eine effiziente Lösung, wenn sich auf die Vollzeitstelle nur geeignete Kandidaten in Teilzeit bewerben.

Arbeiten nach Renteneintritt

Viele Senioren wollen (oder müssen aus finanziellen Gründen) auch nach Erreichen des Renteneintrittsalters arbeiten. Ihre Erfahrungen können sie beispielsweise an Auszubildende weitergeben, und die oft über Jahrzehnte aufgebauten Netzwerke werden weiter genutzt.

Homeoffice

Das wohl bekannteste Modell hat gerade in Pandemiezeiten deutlich an Bedeutung gewonnen. Häufig werden Kernzeiten vereinbart, um auch im heimischen Büro erreichbar zu sein. Das Homeoffice ist ideal, um Familie und Beruf zu vereinen, birgt aber auch die Gefahr, Job und Privates nicht mehr trennen zu können.

Sabbatical

Wer hätte nicht gerne mal länger als drei Wochen frei? Mehrere Monate bis zu einem Jahr Auszeit, um anschließend erholt und motiviert und vielleicht sogar weitergebildet zurückzukehren – das geht mit dem Sabbatjahr. Arbeitnehmer und Arbeitgeber können zur Umsetzung ein individuelles Modell aushandeln. Dies kann über ein Überstundenkonto, Gehaltsverzicht und/oder das Ansparen von Urlaub funktionieren.

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