Die ersten Gründerzeiten in Göttingen waren eindeutig geprägt von einer Branche: der Feinmechanik. Und von einigen herausragenden Mechanikern – die ihre Spuren bis heute hinterlassen haben.

Die Feinmechanikindustrie beschäftigt in der Region Südniedersachsen mehr als 6.000 Menschen und macht über zehn Prozent der Göttinger Wirtschaftsleistung aus. Damit gehört sie zu den wichtigsten Arbeitgebern und Steuerzahlern in der Region. Doch wie kam es dazu, dass sich gerade hier eine Feinmechanikindustrie herausbildete? Wer waren die Protagonisten der damaligen Gründergeneration? Und was lässt sich womöglich aus ihren Gründungsgeschichten lernen?

Ein Blick in das Industriegebiet Grone gibt erste Antworten. Sechs Straßen wurden dort nach Persönlichkeiten benannt, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre Unternehmen in Südniedersachsen gegründet hatten: die Adolf-Hoyer-Straße, die August- Spindler-Straße, die Florenz-Sartorius-Straße, die Wilhelm-Lambrecht-Straße, die Ernst-Ruhstrat-Straße und die Rudolf-Winkel-Straße. Die Geschichte der Göttinger Feinmechanik beginnt jedoch mehr als hundert Jahre zuvor. Die 1737 eröffnete Universität und ihre 1751 eingerichtete Sternwarte legten den Grundstein für die Göttinger Feinmechanikindustrie. Die ersten Naturwissenschaftler an der Georgia Augusta mussten noch auf aus England importierte Messgeräte zurückgreifen. Mit der steigenden Nachfrage für immer präzisere Messinstrumente entstanden die ersten mechanischen Werkstätten in Göttingen. Als Carl Friedrich Gauß (1777-1855) und Wilhelm Weber (1804-1891) im Jahr 1833 den ersten elektromagnetischen Telegrafen konstruierten, war die hiesige Feinmechanik durchaus etabliert.

Den entscheidenden Durchbruch stellte aber die Eröffnung des Bahnhofs im Jahr 1854 dar. Denn mit dem Anschluss Göttingens an das Eisenbahnnetz waren die Weichen für die Industrialisierung und das mit ihr einhergehende Bevölkerungswachstum gestellt. Die Industrialisierung war der eigentliche Motor für den um 1850 einsetzenden Aufstieg der Feinmechanik. Bis dahin beschränkte sich der Absatzmarkt für feinmechanische und optische Messgeräte vor allem auf die Wissenschaft. An die Stelle der Universitäten trat zukünftig vermehrt die aufstrebende Chemie-Industrie, die auf immer genauere Messgeräte in immer höheren Stückzahlen angewiesen war. Hierin erkannte die erste Gründergeneration um Rudolf Winkel, Wilhelm Lambrecht und Florenz Sartorius augenscheinlich ihre Chance, nicht nur selbstständige Handwerksmeister zu werden, sondern eigene Unternehmen aufzubauen.

 

Rudolf Winkel – der autodidaktische Tüftler

Der gebürtige Göttinger Rudolf Winkel (1827-1905) begann 1841 eine vierjährige Maschinenbaulehre in Hamburg. Anschließend verschlug es ihn in eine Maschinenfabrik in Hannover, bevor er zurück nach Göttingen kam und in einer hiesigen Werkstatt erste feinmechanische Erfahrungen sammelte. Es folgte eine mehrjährige Wanderschaft, die ihn auch nach Böhmen und Österreich führte. 1855 kehrte er nach Göttingen zurück, fing in einer der örtlichen Werkstätten an, und machte sich schließlich zwei Jahre später selbstständig. Im Grätzelhaus in der Goethe-Allee errichtete er seine eigene Werkstatt.

Mitte der 1860er-Jahre beschäftigte sich Winkel erstmals mit Mikroskopen, als eine Seuchenepidemie im südhannoverschen Raum für eine erhöhte Nachfrage sorgte. Seine Erfahrungen aus der Lehrzeit waren hierbei von besonderer Bedeutung, denn der Autodidakt musste sämtliche Maschinen erst selbst konstruieren. Der schnell einsetzende finanzielle Erfolg bestätigte ihn und er konzentrierte sich von nun an auf Mikroskope.

Nur wenige Jahre später erreichte Winkel 1870 mit seinen ersten größeren Mikroskopen die Marktreife. Der weit über die Grenzen Göttingens anerkannte Mathematikprofessor Johann Listing (1808-1882) wurde beauftragt, die Winkel’sche Konstruktion mit den damals technisch überlegenen englischen Mikroskopen zu vergleichen. Das Ergebnis fiel äußerst positiv aus, und mit diesem akademischen Prädikat stand dem Siegeszug der Göttinger Mikroskope aus dem Hause Winkel nichts mehr im Weg.

 

Wilhelm Lambrecht – der vermarktende Mechaniker

Wilhelm Lambrecht (1833-1904) begann seine feinmechanische Karriere in Einbeck, wo er seine Schul- und Ausbildungszeit verbrachte und 1859 seine erste Werkstatt eröffnete. Davor verschlug es ihn während seiner Wanderzeit in die Telegraphenbauanstalt von Siemens und Halske nach Berlin und anschließend bis nach Paris. 1864 verlegte er seine mechanisch-optische Werkstatt in die Weender Straße, wo er enge Kontakte zu den Göttinger Naturwissenschaftlern knüpfte. Mit dem Astrologen und Meteorologen Wilhelm Klinkerfues (1827-1884) verband ihn eine mehrjährige Geschäftsbeziehung.

In demselben Jahr, als das Deutsche Kaiserreich ausgerufen und die Gründerzeit eingeleitet wurde, beteiligte sich Lambrecht an einer Gesellschaft, die einen von Klinkerfues 1871 entwickelten elektrischen Zünder für Straßenlaternen vermarkten wollte. Lambrecht schloss seine Werkstatt in Göttingen, um zuerst nach Hannover und später nach Österreich zu ziehen und dort die Zünderproduktion aufzubauen. Der Wiener Börsencrash von 1873 beendete allerdings nicht nur die Gründerzeit, sondern auch Lambrechts zündende Ambitionen. Doch Lambrecht ließ sich vom großen ,Gründerkrach‘ nicht entmutigen, zog seine Lehren aus dieser Erfahrung und kehrte 1874 nach Göttingen zurück.

Kurz darauf tat er sich abermals mit Wilhelm Klinkerfues zusammen, nachdem dieser einen neuartigen Feuchtigkeitsmesser konstruiert hatte. Eigentlich sollte Lambrecht das für den wissenschaftlichen Markt bestimmte Gerät nur produzieren, entwickelte es stattdessen aber weiter und vermarktete es als ,Klinkerfues Patent-Hygro meter‘. Während Klinkerfues sich getäuscht sah und einen mehrere Jahre andauernden Streit begann, war dies für
Lambrecht der unternehmerische Durchbruch.

 

Florenz Sartorius – der Erfahrene mit einer konkreten Idee

Dem Göttinger Uhrmachersohn Florenz Sartorius (1846-1925) wurden die feinmechanischen Fähigkeiten quasi in die Wiege gelegt. Nachdem er seine vierjährige Ausbildung beim Göttinger Universitätsmechaniker Apel mit der Gesellenprüfung beendet hatte, begab er sich zur Weiterbildung auf Wanderschaft. Erste Erfahrungen sammelte er in einer Gießener Firma, die Waagen herstellte. Anschließend besuchte er Vorlesungen bei Wilhelm Weber und Friedrich Wöhler – erneut in Göttingen –, bevor es ihn zu Siemens und Halske nach Berlin und einer weiteren Station in Hamburg verschlug. Im Alter von 26 Jahren kehrte er dann endgültig in seine Heimatsstadt zurück, um sich selbstständig zu machen. Seine 1870 in der Groner Straße eingerichtete Werkstatt F. Sartorius kann als Beginn des heutigen Sartorius- Konzerns angesehen werden.

Die Grundlage für seinen Erfolg legte eine von ihm entwickelte Präzisionswaage aus Aluminium, welche den zeitintensiven Wiegeprozess maßgeblich reduzierte und in der wachsenden chemischen Industrie reißenden Absatz fand. Sartorius konnte bei der Entwicklung dieser Waage auf seine vielfältigen Erfahrungen während seiner Wanderjahre und die technische Unterstützung des Göttinger Professors Friedrich Wöhler zurückgreifen. Doch neben seiner fachlichen Kompetenz und dem persönlichen Netzwerk zeichnete sich Florenz Sartorius durch einen ausgesprochenen Geschäftssinn aus: Nachdem seine Waage auf der Bremer Gewerbeausstellung von 1874 die höchste Auszeichnung erhalten hatte, ließ er seine Konstruktion patentieren und fortan international vermarkten.

Was lässt sich aus den Erfahrungen der feinmechanischen Gründergeneration lernen? Alle drei Unternehmensgründer absolvierten eine technische Ausbildung und sammelten vor ihrer Unternehmensgründung einschlägige Berufserfahrungen. Sie sahen die technischen Herausforderungen ihrer Zeit, vertrauten in die eigenen Lösungsvorschläge und ließen sich von Rückschlägen nicht beirren. Außerdem erkannten sie die Notwendigkeit, ihre Produkte zielführend vermarkten zu müssen. Um ihre Unternehmen bekannter zu machen, publizierten sie unabhängige wissenschaftliche Testergebnisse, veröffentlichten regelmäßig neue Preislisten bzw. Produktkataloge, investierten in Markenbildung oder besuchten nationale und internationale Gewerbeausstellungen. Kurz gesagt: Sie setzten auf noch heute verbreitete Methoden des Marketings, indem sie eine gezielte Produkt- und Preispolitik führten, ihre Verkaufskanäle optimal auswählten und zielgerichtet Öffentlichkeitsarbeit betrieben.

Auch die zweite Generation rund um die Gebrüder Ruhstrat sowie das Gründerduo Adolf Hoyer und August Spindler verfolgten ähnliche Herangehensweisen. Der Erfolg gab ihnen recht, denn die von ihnen gegründeten Unternehmen bzw. deren Nachfolger sind noch immer in Göttingen präsent.

Der Beruf des Feinmechanikers

Als die Universitätssternwarte Mitte des 18. Jahrhunderts eröffnet wurde, existierte das Berufsbild des Feinmechanikers noch nicht. Doch die überwiegend aus England importierten Messinstrumente mussten regelmäßig angepasst, gewartet und auch repariert werden. Die eigens hierfür angestellten Universitätsmechaniker rekrutierten sich anfänglich vor allem aus dem Uhrmachergewerbe. Denn deren handwerkliche Fähigkeiten entsprachen am ehesten den neuen und stetig steigenden feinmechanischen und optischen Anforderungen.

In der Folgezeit entstand ein reger Austausch zwischen den Wissenschaftlern und den Universitätsmechanikern. Die Mechaniker besuchten zum Teil die naturwissenschaftlichen Vorlesungen, um sowohl ihr technisches als auch
theoretisches Verständnis zu steigern. Außerdem konnten sie somit ihre Kontakte zu den Universitätsprofessoren
vertiefen und deren immer anspruchsvollere Messkonstruk tionen besser umsetzen.

Darüber hinaus begaben sich junge Handwerksgesellen auf die Walz, um in der Fremde neue technische Kenntnisse zu erlernen, diese später in ihren eigenen Werkstätten erst zu kopieren, dann weiterzuentwickeln und schließlich auch über die Grenzen Göttingens hinaus zu verkaufen.

Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts ließen sich bereits sieben mechanische Werkstätten in Göttingen nieder und bildeten ihrerseits Feinmechanikernachwuchs aus.

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