Als Intendant der Gandersheimer Domfestspiele will Achim Lenz wieder Leben in die Provinz bringen. Der Schweizer erzählt, warum ihm das deutsche Publikum das liebste ist und welche Rolle Emotionen bei ihm spielen.

Es ist ein trüber und kalter Tag in Südniedersachsen. Erst wenige Wochen schreiben wir das Jahr 2018. Für den zufällig vorbeikommenden Besucher liegt das kleine Städtchen Bad Gandersheim noch im Winterschlaf. Man findet leicht einen Parkplatz. Ein paar Passanten eilen vorbei. Es ist Vorsaison.

1. Akt:

Die Büroräume, in denen die Gandersheimer Domfestspiele geplant, organisiert und koordiniert werden, wirken eng und gemütlich. In dem Gemeinschaftsbüro der Mitarbeiter stehen große volle Schreibtische. Es ist warm – wohl auch durch die herzliche Begrüßung. Achim Lenz, seit vergangenem Jahr Intendant der Domfestspiele, hat sein eigenes Büro. Ein großer Schreibtisch und ein Tisch mit sechs Stühlen füllen den Raum.

Rückblickend ist nicht mehr ganz auszumachen, ob er tatsächlich in großer Theatergeste – die Arme ausbreitend zur Begrüßung – hinter seinem Schreibtisch hervorkam oder ob die Erinnerung Fehlendes ergänzt hat. Spitzbübische, lachende Augen und ein sympathischer Schweizer Tonfall. „Man ist hier an einem guten Ort“, erzählt er auf die Frage, warum es ihn nach Bad Gandersheim verschlagen hat. Die Domfestspiele feiern in diesem Jahr Jubiläum: ihre 60. Spielzeit, sodass Lenz für eine durchaus traditionsreiche Freilichtbühne die Verantwortung übernommen hat. „Es ist eine spezielle Gegend“, sagt er. „Und das Spezifische ist in meinen Augen ein gutes Merkmal, um etwas Gutes hervorzubringen.“

Lenz redet mit intensiver Mimik und großen Gesten. Er redet viel und ist beseelt von dem Gedanken, hier an diesem Ort etwas zu bewegen und nicht allein die Festspiele irgendwie am Leben zu erhalten. „Ich möchte die Menschen emotionalisieren. Ich möchte Theater erlebbar machen“, so der 40-jährige Intendant und Regisseur vieler Inszenierungen. Er möchte mehr, möchte, dass es nicht nur vier Monate im Jahr sind, in denen das Theater in die Stadt kommt, und hat sich damit einer großen Aufgabe gestellt. Aber die darf man ihm getrost zutrauen.

Am Tisch sitzt ein Mann, der Geschichten erzählen kann, der in einem Gespräch ganz bei seinem Gegenüber ist und der dennoch den betriebswirtschaftlichen Auftrag im Blick behält. Er schaut einem in die Augen, hört zu und reagiert sofort auf die gestellten Fragen. Seine Stimme benutzt er als wirkungsvolles Instrument. Da wird er in einem Moment laut und zitiert aus Schillers ,Kabale und Liebe‘ – nur, um danach wieder in einen sanften Ton zu fallen. Lenz weiß, wie er überzeugt und mögliche Investoren für sein Theater begeistern kann: „Dazu gehört zum einen, die Leute zu emotionalisieren, aber auch, sie zu verunsichern. Da sind wir Theaterleute gut drin.“

2. Akt:

Rückblende. Für das Stammpublikum der Domfestspiele war Achim Lenz kein neuer Protagonist, als er die Bühne betrat. Bereits 2009 inszenierte er hier den ‚Don Juan‘ von Molière und in der folgenden Spielzeit ‚Pippi Langstrumpf‘ von Astrid Lindgren. Seit 1982 gibt es jedes Jahr ein Kinder- und Familienstück im Programm: „Es ist immens wichtig, dass diese Stücke nicht über die Köpfe der Kinder hinweg inszeniert werden. Da muss man ein gutes Händchen haben“, sagt Lenz. So hat er bei seiner ‚Pippi‘ einen Abenteuerspielplatz mit Kuscheltieren eröffnet. Lachend erinnert er sich, wie er mit diesem Stück auch die Erwachsenen eingefangen hat.

Überhaupt ist Lenz von dem Publikum, das ihm hier an diesem Ort, aber auch anderswo an den Theatern in Deutschland begegnet, sehr beeindruckt. „Ich liebe das Publikum hier in Bad Gandersheim. Was das einem als Künstler zurückgibt, ist ein Traum“, sagt er und ist begeistert, wie enthusiastisch die Deutschen sind – im Gegensatz zu den Menschen in seiner Schweizer Heimat. „Die Deutschen, das ist so eine ganz andere Kultur. Die stehen gern auf“, sagt er lachend und erzählt, dass einem Standing Ovations in der Schweiz nur äußerst selten passieren würden. Bad Gandersheim ist für ihn in vielerlei Hinsicht besonders: Das mittelalterliche Flair, die Stiftskirche als Kulisse und Roswitha von Gandersheim, „die wir hier jeden Tag neu verkaufen müssen“. Roswitha, der ersten deutschen Dichterin (um 935 geboren) zu Ehren, wird jedes Jahr der Roswitha-Ring verliehen. Mit ihm wird eine Darstellerin des Ensembles für ihre heraus ragenden darstellerischen Leistungen in der Festspielsaison ausgezeichnet.

Lenz selbst steht nicht auf der Bühne. Bevor er die renommierte Folkwang Universität der Künste besuchte, um dort Schauspielregie zu studieren, habe er „ja mal ein wenig gespielt“, sagt er und fügt kein bisschen wehmütig hinzu: „Aber ich war ein schlechter Schauspieler.“ Gute Schauspieler müssten über ein Talent verfügen, das ihm nicht gegeben sei. Er sei zu stark im Denken. „Schauspieler geben in dem Moment des Spiels das reflexive Denken zugunsten des Augenblicks auf. Das ist ein Moment, in dem man einfach nur ist“, so Lenz. Doch auch, wenn er kein Schauspieler geworden ist, so zeichnet ihn das Künstlerische dennoch aus. Leidenschaftlich erlebt man ihn als jemanden, der seine Gefühle offenbart, ebenso wie den Zwiespalt, den die Kunst gern provoziert. „Ich liebe die Schauspieler. Ich liebe diese Menschen. Aber ich hasse sie auch.“

3. Akt:

,Läuft bei uns‘ – so lautet das Motto der diesjährigen Spielzeit. Bewusst offen und doch provokant hat Lenz dieses dem Jubiläumsjahr vorangestellt. Und natürlich schaut man einmal mehr auf den Spielplan: Was sind da die geplanten Höhepunkte? Als Intendant hat er viele Aspekte zu berücksichtigen. Die Spielzeit ist kurz, und er ist für konstante beziehungsweise steigende Besucherzahlen verantwortlich. In den letzten Jahren besuchten pro Saison über 50.000 Zuschauer die Domfestspiele. Eine ungeheure Zahl, wenn man bedenkt, dass Bad Gandersheim nur etwas mehr als 10.000 Einwohner hat. Und damit stellt sich sofort eine weitere Frage: Wie kann man den Wünschen all dieser Menschen gleichermaßen gerecht werden? – „Das darf man nicht pauschalisieren. Es geht mir nicht darum, Wünsche zu erfüllen, es steht auch hier im Vordergrund, zu emotionalisieren“, erklärt Lenz erneut. „Ich versuche etwas zu zeigen“, sagt er. „Theater hat immer etwas mit Zeigen zu tun.“

Gezeigt wird mit der Auswahl der Stücke, dass man einen Spagat beherrschen muss, der von einem hohen Anspruch an die Inszenierung bis zu einem Ich-möchte-hier-einfach-nur-eine-schöne-Zeit-verbringen geht. „Das reicht von arte bis zu RTL2. Wir können das leisten. Ich habe kein Problem damit, auch RTL2 zu machen“, und Lenz geht sogar noch einen provokanten Schritt weiter: „Ich glaube an gutes RTL2.“

Seit er denken und fühlen kann, begleitet ihn die Leidenschaft fürs Theater. Lenz inszenierte als Regisseur alles: von antiken Dramen bis hin zu modernen neuen Stücken, die ganz konkret auf unsere Gegenwart Bezug nehmen. Neues ausprobieren, um den Menschen mit Theater auf allen Ebenen begegnen zu können, das ist sein Ziel. Für Bad Gandersheim heißt das seit 2017, dass es zusätzlich zur Hauptbühne vor der Stiftskirche noch eine Nebenspielstätte im Kloster Brunshausen gibt. Die Stückauswahl spiegelt den Sinn für Humor des Wahldeutschen wider. „Dieses Jahr bieten wir ein Beiprogramm zur Fußball-WM an“, sagt er und lächelt verschmitzt. ‚Die Maradona Variationen‘ sind eine Hommage an die Fußballlegende, und ‚Bier für Frauen‘ zeigt schonungslos witzig, wie die Grammatik von Frauen bei steigendem Bierkonsum abnimmt. „Wenn der Deutsche dann traurig ist, weil er im Achtelfinale gegen die Schweiz rausgeflogen ist, kann er zu uns kommen und da reingehen.“ Noch mehr Schweizer Humor mit einem Augenzwinkern.

4. Akt:

Fast möchte man sagen, zum Glück haben die Gandersheimer Domfestspiele einen humorvollen und optimistischen Intendanten verpflichten können. Die wirtschaftliche Situation, die Infrastrukturen und die Organisation der Proben erinnern in ihren Abhängigkeiten an Jenga, jenes Spiel, das nur derjenige gewinnen kann, der es schafft, alle möglichen Fallstricke rechtzeitig zu erkennen, und der so den Turm nicht zum Einsturz bringt.

Nachdem Bad Gandersheim 2010 den Zukunftsvertrag unterzeichnet hatte, änderte sich auch für die Festspiele einiges. 2011 wurde eine gGmbH, also eine gemeinnützige GmbH gegründet, die 75 bis 80 Prozent der benötigten Gelder selbst erwirtschaften muss. Da heißt es Klinken putzen und – wie Lenz immer wieder so schön sagt – ‚emotionalisieren‘. „Das ist meine Aufgabe als Intendant: Ich mache gefühlt nichts anderes, als in der Gegend rumzufahren und mit Leuten Gespräche zu führen“ – und das, wie er betont, sehr gern. Neben dem Künstlerischen ist das betriebswirtschaftliche Interesse schon immer da gewesen: „Ich bin ein Player“, sagt der Schweizer mit Überzeugung. Mag sein, dass er dadurch künstlerische Einbußen machen muss, wobei die Begabtenstipendien, Förderpreise und Auszeichnungen für seine Inszenierungen etwas anderes vermuten lassen.

Die Liste der Unwägbarkeiten für die Domfestspiele soll in den nächsten Jahren kürzer werden, so der Plan. Da ist zum Beispiel die Sache mit den Proberäumen. Wo spielt und probt man, wenn in der Stadt kein Raum zur Verfügung gestellt werden kann? Oder wo gehen die Besucher in Feststimmung essen? Und wo übernachten die Menschen, wenn sie den Abend nach der Vorstellung mit einem Glas Wein ausklingen lassen möchten? Gibt es genügend Parkplätze? Als Intendant kann er für gelungene Aufführungen und ein super Ensemble sorgen, aber, und da findet er deutliche Worte: „Ich kann noch so gutes Theater machen, wenn die Festspielbesucher hier nichts zu essen und zu trinken kriegen, finden sie das hier auch scheiße.“

5. Akt:

Doch Lenz ist nicht Intendant geworden, um in das Lied der großen Depression einzustimmen. Er will verändern: „Hier kann etwas entstehen in der Zeit der Festspiele und auch darüber hinaus. Das war mein Ansinnen, als ich hier angefangen habe.“ Und einiges hat er in seinem ersten Jahr schon optimieren können. Zwei ganzjährige Stellen hat er geschaffen: eine für Theaterpädagogik und eine weitere für Marketing und Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Nun will er noch mehr Investoren begeistern und mit auf seine Reise nehmen: „Denn Investitionen in Kultur lohnen sich immer – um Menschen wieder näher zusammenzubringen, um sie auf anderen, neuen Wegen in der Region zu vernetzen, um Kreativität freizusetzen und Innovationen zu fördern.“

Wer sich als Förderer der Domfestspiele einbringt, wird Teil der Gemeinschaft und kann das Flair hautnah miterleben, ob zur Premierenfeier oder bei einem Abendessen mit den Darstellern oder einer persönlichen Einführung in die Stücke durch den Intendanten selbst. Lenz weckt Emotionen.

Foto: Alciro Theodoro da Silva
TOP

entdeckt, entwickelt & erzählt Erfolgsgeschichten