Die Herrin der Stifte

Ihr Kapital sind unzählige bunte Stifte – dicke, dünne, breite und pinselartige. Und eine eigene Bildsprache. Tanja Wehr ist mit ihren Visualisierungen weit über die Grenzen Göttingens bekannt, um nicht zu sagen, berühmt.

„Oh, ich kann es kaum glauben, dass ich neben dir sitze. Ich bin dein größter Fan“, sagte vor einigen Jahren bei einer Veranstaltung in Hamburg eine Frau auf dem Stuhl neben Tanja Wehr. „Damals war ich echt überrascht, dass diese Frau tatsächlich mich gemeint hatte“, erzählt Wehr heute, wobei ihr dank des Erfolges der letzten drei Jahre eine Gelassenheit – keine Arroganz – anzumerken ist. Diese Geschichte sei für sie jedoch gefühlt schon eine Ewigkeit her. Inzwischen gehört Tanja Wehr unter ihrem Label ‚Sketchnotelovers‘ in der Szene der Visualisierer, der Graphic Recorder und Sketchnoter, zu jenen, die mit anderen Größen wie Mike Rohde, ‚dem Godfather‘, auf einem Foto abgelichtet werden.

„Beschreiben andere Menschen, was ich mache, kommen dabei so wunderbare Wortneuschöpfungen heraus wie die Protokollzeichnendame, das Aufzeichnungsfrollein oder Bezeichnungen wie ‚Die Frau an der Wand mit den Stiften‘“, erzählt die 44-Jährige. „Ich selbst sehe mich als Sketchnotelover, denn ich liebe einfach visualisierte Notizen.“ Darüber hinaus sei sie aber auch Trainerin und Übersetzerin: „Nicht für Sprachen – vielmehr übersetze ich komplexe Inhalte in leicht verständliche Wort- Bild-Kombinationen. Durch visuelle Anker, kleine Icons und Symbole werden so auch diese Inhalte nachhaltiger abrufbar.“

Als Tanja Wehr im April vor drei Jahren ihr eigenes Unternehmen gründete, war allerdings noch längst nicht absehbar, wohin ihre Reise einmal gehen würde. Geplant hatte sie eher so etwas wie Grafikdesign und Logos zu entwickeln – obwohl ihr Firmenname Sketchnotelovers bereits damals ihre wahre Leidenschaft widerspiegelte. Ihre Zweifel, ob sich damit wirklich Geld verdienen ließe, waren groß. Doch wie schön, dass das Leben oft anders spielt, als man denkt. Wenn einem bereits im ersten Monat nach der Gründung eine Anfrage der Hannover Messe ins Haus weht, mit der Bitte, die öffentlichen Reden während der Eröffnung, auch die der Minister, zu visualisieren – dann kann einem schon mal kurzzeitig die Luft wegbleiben: „Das war so ein Moment, da musste ich für mich schon überlegen: Willst du das wirklich machen? Schaffst du das?“, sagt Wehr. „Aber man muss sich aus seiner Komfortzone bewegen, sonst passiert ja nichts. Also habe ich zugesagt.“ Eine gute Entscheidung, ebenso wie die, zwei Jahre später eine Anfrage eines Animationsstudios von Weltrang abzulehnen. Ein Aufschrei des Entsetzens? Wie kann sie das tun? Es lag nicht etwa an den berühmten Comics, sondern an den Honorarvorstellungen weit unter Mindestlohn. Ausbeutung nur, um die eigene Referenzliste zu erweitern – das war keine Option.

Nun, Tanja Wehr ist eine Frau mit Prinzipien, auch wenn es in der heutigen Zeit etwas anachronistisch klingen mag. Doch Ungerechtigkeiten und mangelnde Wertschätzung, vor allem auch gegenüber ihrer Arbeit, möchte sie nicht akzeptieren. „Ich habe es erlebt, dass ich acht Stunden an einer Visualisierung für ein Unternehmen gearbeitet habe, und dann machen die ein Foto davon und zerreißen das Blatt vor meinen Augen.“ Noch heute ist sie, wenn sie dies erzählt, darüber erstaunt, wie das geht, dass man sie für ihre Arbeit bezahlt, ohne den Wert des Visuellen zu schätzen und den Mehrwert zu erkennen.

Doch es gibt andere Beispiele. Positive, wie ein Anruf von einem großen IT-Unternehmen aus dem Silicon Valley oder von der Deutschen Bahn oder die Anfrage für ein Gesundheitsevent mit Eckart von Hirschhausen. Sie erreichen diverse Fernsehanfragen, und mittlerweile hat Wehr auch zwei eigene Bücher zum Thema ‚Sketchnote‘ herausgebracht. Längst hat sie die Grenze von der ,kleinen‘ Gründerin zu einer erfolgreichen Unternehmerin überschritten. Und noch immer merkt man ihr beim Erzählen die Faszination darüber an, wie stark visuelle Elemente auf die Wahrnehmung und das Lernen wirken. So hat Wehr auch mit ihrem Wissen aus 20 Jahren Erwachsenenbildung, in der sie vor ihrer Gründung arbeitete, inzwischen eigene Trainings- und Workshopkonzepte entwickelt: Visualisieren leicht gemacht, Flipcharts gestalten, Sketchnotes erstellen und visuelle Notizen. Seit Kurzem beschäftigt sie eine Angestellte, derzeit entstehen zwei weitere Bücher und ihr Terminkalender hat vielleicht noch die eine oder andere Lücke, aber bis Ende 2019 stehen bereits fixe Termine drin. „Ich bin überall in Deutschland unterwegs, in Berlin, Hamburg, München“, sagt sie und stellt während des Erzählens ernüchtert fest: „Nur aus Göttingen bekomme ich so gut wie keine Anfragen.“

Dabei mag sie Göttingen und hat sich mit ihrem Lebenspartner bewusst für ein Leben abseits der großen Metropolen entschieden. „Aber es ist gut, dass ich zwischendurch immer wieder mal in Hamburg bin und dort durch die Straßen schlendern kann.“ Obwohl sie auch in Göttingen ein paar Lieblingscafés habe, wo sie sich wirklich wohlfühle. „Im ‚Kaffeehus‘ habe ich bestimmt die Hälfte meines ersten Buches ,Sketchnote Starthilfe‘ geschrieben“, erzählt die gebürtige Solingerin, während sie auf ihrem kleinen grauen Sofa in ihrem Büro im Gesundheitszentrum im Leinehof sitzt. Dazu ein paar Worte am Rande: Wehrs Büro ist kein klassisches Büro – was bei einer kreativen Seele auch irgendwie zu erwarten ist, jedoch …, so viele Stifte, Papiere, Skizzen und Bücher auf engstem Raum findet man nicht einmal in einem Schreibwarenladen. Und sie weiß ganz genau, für welches Projekt welcher Stift der einzig wahre ist.

Die Weltmarktführer in der Industrie und große Organisationen haben bereits seit einigen Jahren das Potenzial erkannt, dass in Arbeiten wie der von Tanja Wehr steckt. Bei kleinen und mittelständischen Unternehmen hingegen könne es auch heute noch passieren, dass sie ein bisschen von oben herab belächelt wird. Doch den Mal-Clown, um ein Event vom Seitenrand aus zu bespaßen, den braucht sie nicht mehr zu spielen.

„Viel spannender ist es, ganze Leitbilder von Unternehmen mitzuentwickeln“, sagt sie, und dabei spürt man deutlich ihre ansteckende Begeisterung. „Die Mitarbeiter lesen doch bei einem Wandel der Unternehmenskultur kein 30-seitiges ,Mission Statement‘ oder der gleichen. – Ich versuche mit meiner Arbeit, Lust auf Informationen zu machen.“ Denn nur so könne man der Informationsflut Herr werden. Und nur so könne man etwas bewegen.

Und die Sketchnoteloverin ist selbst ein Mensch mit einem bewegten Leben – oder wie sie sagt, mit einer „talentorientierten Biografie“: Kunststudium (abgebrochen), dann Studium der Kunstgeschichte, klassischen Archäologie, mittelalterlichen Geschichte, Philosophie, Psychologie – und eine systemische Ausbildung. Derzeit interessiert es sie leidenschaftlich, wie Seemonster auf mittelalterlichen Landkarten gezeichnet und dargestellt wurden. Solche Dinge inspirieren Wehr, wenn sie bis spät in die Nacht in ihrem Skizzenbuch zeichnet.

Sie hat auf diesem Weg, der vor ihrer beruflichen Selbstständigkeit liegt, viel ausprobiert und auch Niederlagen erlitten. Ihre geplante Hochschulkarriere konnte sie direkt nach dem Studium nicht verwirklichen. Dennoch: Sie ist ihren eigenen Weg gegangen und ist heute stolz, Lehraufträge an drei Universitäten zu haben. Und sie hat ihr ,Ikigai‘ gefunden. Das Wort stammt aus dem Japanischen und bedeutet ‚Lebenssinn‘ und in freier Übertragung: das, wofür es sich aufzustehen lohnt. „Wer das für sich gefunden hat“, erklärt Wehr, „der spürt wie ich die Lebensfreude und das Glück.“

Foto: Alciro Theodoro da Silva
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