Göttingen wird Autostadt

Der Maschinenbauer Akcurate hat einen Coup gelandet: In Rosdorf werden künftig Elektrofahrzeuge – wie die ,Knutschkugel‘ mit Kultpotenzial Evetta (Foto) oder der wandelbare XBus – gefertigt und die Produktionsanlagen dafür weltweit geliefert.

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Akcurate wurde 2008 von Ingenieur Andreas Kirsch als Messtechnik- und Maschinenbauunternehmen gegründet, der Fokus liegt vornehmlich auf der Automobilindustrie, in der Kirsch viele Jahre tätig war. Für diese werden unter anderem Maschinen zur schnellen Vermessung mit kombiniertem Fräsen gebaut, die etwa bei der Scheinwerferinstallation eine Rolle spielen. Aus dem Erfolg der hauseigenen Mess- und Fräsqualität heraus gründete Andreas Kirsch noch zwei weitere Unternehmen: 2010 die Kirschmechanik, die sich auf Metallverarbeitung konzentriert, und 2018 die CIMT, in der Dentalfräsmaschinen produziert werden. Alle drei Firmen sitzen in Rosdorf und beschäftigen zusammen rund 60 Mitarbeiter.

Die ,Knutschkugel‘ ist zurück – diesmal made in Rosdorf. Der kultige Erfolgswagen der Fünfziger- und Sechzigerjahre, einst unter dem Namen Isetta bekannt, feiert seine formgetreue Wiedergeburt – in moderner Elektro-Variante. Die Prototypen stehen und fahren bereits, gebaut vom Maschinenbauunternehmen Akcurate, die eigentlichen Serien sollen zeitnah folgen. Praktisch ganz nebenbei wollen die Rosdorfer damit auch in ihrer Produktion neue Standards setzen.

Hochgenaues 3D-Messen und Fräsen sind das Geschäft von Akcurate, der Firma von Andreas Kirsch. Die in Auftrag gegebenen Anlagen für die sechsachsige räumliche Vermessung von Bauteilen und die zugehörige Software werden hier komplett selbst entwickelt, konstruiert, in Betrieb genommen und beim Kunden eingerichtet. In diese Technik und Software sind mittlerweile zehn Jahre geflossen. „Und die Arbeit hört nie auf“, sagt Kirsch. „Es lässt sich immer weiter optimieren.“

Angefangen hat die Verbindung zum Auto mit dem Fräsen von Rohren für die Karosserie: Vermessung des Bauteils, Fräsen, im 20-Sekunden-Takt. Die Technik selbst stammt ursprünglich aus der Anwendung in Dentalfräsmaschinen, die bereits über Kirschs zweite Firma CIMT produziert wurden – das Prinzip ließ sich problemlos übertragen. Darüber hinaus werden in Rosdorf Scheinwerfer, Windschutzscheiben und Sonnendächer vermessen und gegebenenfalls mit einer Fräsmaschine kombiniert.

Pandemie bringt neue Ideen

Dann kam die Pandemie und damit Zeit zum Nachdenken und Tüfteln. „Wir haben überlegt, wie wir unsere unterschiedlichen Maschinen vom Messen bis zum Fräsen kombinieren können, sodass wir eine perfekte Anlagentechnik für die moderne Produktion von Autoteilen erhalten“, erzählt Andreas Kirsch. „Sprich: mit weniger Platzbedarf und weniger Kosten eine bessere Qualität erreichen.“ Denn die Entwicklung in der Automobilindustrie, insbesondere im Premiumsegment, geht zu immer mehr Präzision und damit immer geringeren Spaltmaßen. Entstanden ist aus dem Nachdenken ein Kombisystem, das gleich mehrere Produktionsschritte in sich vereint.

Für einen deutschen Scheinwerferhersteller, der unter anderem Sportwagen produziert, wurde eine solche Anlage gebaut – die bislang einzigartig ist. Sie vermisst den Scheinwerfer dreidimensional, berechnet, wie das Bauteil im Gehäuse optimal platziert werden muss, damit es perfekt sitzt, und fräst dann an den exakt berechneten Stellen die Anschraubpunkte an die bestmögliche Position. Anschließend dreht ein selbst entwickelter Schrauber mit derselben Maschine die Schrauben auf eine exakte, ebenfalls berechnete Höhe in das Gewinde, damit letztendlich alles zehntelmillimetergenau zusammenpasst.

Die Toleranzen, die dabei wiederholgenau erreicht werden müssen, sind mittlerweile so klein, dass sie der Dicke von zwei europäischen Standardhaaren entsprechen – das sind eineinhalb Blatt Papier. „In einem normalen Produktionsprozess lässt sich diese Präzision nicht erreichen, denn bisher brauchte man für diese Arbeitsschritte vier separate Maschinen, die jeweils nicht voneinander wissen, wo genau sie am Objekt sind“, so der geschäftsführende Gesellschafter. „Dadurch entstehen Abweichungen, denn kein Schweinwerfer gleicht exakt dem nächsten.“ Auch, wenn es vielleicht banal klingt, der Aufwand im Autobereich ist enorm: Allein, um einen Scheinwerfer messbar zu machen, wurde gemeinsam mit einem Hersteller drei Jahre lang an der Lösung gearbeitet, 70 Mannjahre stecken in der dazugehörigen Messsoftware.

Evetta soll 2023 ab auf die Straße

In die Zeit dieser Anlagenentwicklung fiel auch der zufällig entstandene Kontakt zum Itzehoer Start-up ElectricBrands, der Firma, die das Konzept für den elektrischen Leichtwagen  entwickelt hat, der unter dem Namen Evetta ab 2023 auf den Straßen unterwegs sein soll und bei knapp unter 20.000 Euro Stückpreis beginnen wird. „Daraus ist eine Chance entstanden, die man wohl nur einmal im Leben erhält“, sagt Andreas Kirsch. Der Ingenieur meint damit nicht nur die Geschäftsperspektiven, sondern die Chance, einen über hundert Jahre etablierten Produktionsprozess in der Branche grundsätzlich zu verändern.

Die Evette befand sich noch in der Prototypenphase: Die finalen Entwicklungsschritte waren noch nicht abgeschlossen, die Produktionsabläufe noch nicht industrialisiert und auf Serie ausgelegt. Es gab noch keine Fertigung, die Qualitätsabnahme war noch nicht definiert. „Wir hatten uns zu einem Zeitpunkt getroffen, an dem man noch alles anpassen konnte“, erzählt Kirsch. „Wir haben dann gesagt, dass wir mit weniger Platzbedarf, weniger Spezialisten und insgesamt weniger Personal ein Fahrzeug bauen können, das präziser gefertigt ist als bisherige andere Modelle.“

Was ihm vorschwebt, ist die Umkehrung des industriellen Produktionsprozesses beim Auto. Statt die Entwicklungs- und Arbeitsschritte an und in die gegebenen Produktionsmöglichkeiten an- und einzupassen, wird sich bei der Evetta die Produktionsorganisation nach den Möglichkeiten der Technik richten. „Mit unserer Technologie kann man natürlich auch zu Volkswagen
oder Daimler gehen, aber die müssten ihre komplette Fahrzeugentwicklung umstellen“, sagt Kirsch. Das Auto müsste einfacher entwickelt werden – vom Einzelbauteil bis zur Baugruppe, Konstruktion und Abnahme, der ganze Prozess ändert sich. „Das ist in einem etablierten großen Unternehmen einfach nicht möglich.“

Akcurate Geschaeftsfuehrer Andreas Kirsch

Andreas Kirsch gründete 2008 Akcurate

Andreas Kirsch kennt sich in der Branche aus. Das Maschinenbaustudium begann er in seiner Heimat im Schwarzwald, doch er reiste viel durch die Welt, studierte unter anderem in Großbritannien und schrieb seine Diplomarbeit in Mexiko, schon damals mit Bezug zum Auto. Er arbeitete dann rund zehn Jahre bei Volkswagen, zuerst in Mexiko, später in Emden, und war für den Aufbau und die Entwicklung von neuen Abteilungen und Prozessorganisationen zuständig – vom Prototypenbau bis zum Abteilungsaufbau und zur Arbeit in der  Fertigungsleitung.

„Ich habe bei VW dann aufgehört, weil ich noch einmal etwas anderes, eigenes machen wollte, bevor ich zu alt dafür bin“, sagt Kirsch. Der Neustart mit Akcurate, die er 2008 gründete, war ein Sprung ins kalte Wasser und so etwas wie eine Rückkehr zu den Wurzeln im Maschinenbau und in der Werkzeugmechanik, die er davor gelernt hatte. „Ich wusste nicht, was kommt. Aber: no risk, no fun.“ Die erste Maschine hatte er dann für einen mexikanischen Autozulieferer gebaut. „Das war eine voll automatisierte Glasdachbiegemaschine für Schiebedächer, die wir auch heute noch fertigen.“

Angefangen hat Kirsch als Einmannbetrieb, entwickelte unter der Woche seine Maschinen und erledigte am Wochenende die Buchhaltung. 2010 gründete er dann bereits die Kirschmechanik, die sich auf Metallverarbeitung konzentriert, und 2018 kam die CIMT dazu, in der besagte Dentalfräsmaschinen produziert werden. Alle drei Firmen sitzen in Rosdorf und teilen sich die Produktionsanlagen. Rund 60 Mitarbeiter beschäftigt Kirsch derzeit, doch der Neubau, der 2021 bezogen wurde, bietet Platz für mindestens die doppelte Mannschaft.

Fertigung der Evetta in Rosdorf

Der wird auch gebraucht, wenn es erst einmal mit der Produktion der Evetta losgeht. Drei Modelle sind zu Beginn geplant: die Prima als geschlossenes Fahrzeug und Open Air als Cabrio erinnern in ihrem gerundeten Stil sehr stark an die BMW Isetta – und natürlich wird auch hier zum Einsteigen die Vorderseite des Wagens aufgeklappt. Cargo hingegen wird ein Minibus. Hinzu kommt noch der XBus, eine separate Marke von ElectricBrands, die ein multimodales flexibles Bussystem darstellt – vom Camper für den Urlaub bis zum Kipplaster für das Schüttgut lässt sich solch ein Wagen schnell umbauen.

Die Fertigung für Kleinserien und Prototypen wird in Rosdorf geschehen. Doch das Besondere an der Evetta-Produktion wird sein, dass es Fertigungen auf der ganzen Welt geben wird. ElectricBrands steht derzeit in Verhandlungen mit einem Dutzend Lizenzfertigern, die unter anderem aus Mexiko, Südkorea, Australien und sogar Nepal kommen. Der erste Gedanke, der einem gerade bei Nepal und anderen Ländern ohne Autoproduktionskultur kommt, ist: Wie lässt sich da die hohe Qualität gewährleisten, wenn Akcurate die Hightech-Fertigungsverfahren definiert? „Das ist zunächst einmal eine Herausforderung, weil unsere Technologie sehr komplex und anspruchsvoll ist“, sagt Kirsch. Aber dadurch, dass die Produktion und die Präzision sehr stark mit der Software geregelt werden, lasse sich deutlich einfacher damit arbeiten. „Das Potenzial, das wir mit unserer Anlagentechnik sehen, wird bahnbrechend sein“, sagt der Unternehmer überzeugt. „Wir wollen es hinbekommen, dass auch in Ländern, die keine Hightech-Standorte sind, produziert werden kann.“ Auch auf andere Branchen abseits der Autoindustrie will der Ingenieur das Prinzip übertragen.

Trotz der aktuellen Erfolgswelle und des rasanten Unternehmenswachstums – Andreas Kirsch ist bei seinen Wurzeln geblieben. „Ich konstruiere auch noch viel mit, zur normalen Arbeitszeit findet man mich eigentlich nie im Büro“, sagt er. Und in der Zusammenarbeit mit ElectricBrands freut er sich auf eines besonders: Akcurate liefert die Fertigungsmaschinen und installiert sie bei den Lizenzfertigern. „Ich werde und will auch selbst unterwegs sein, um das zu erledigen. Die Lust auf den internationalen Austausch habe ich nicht verloren, im  Gegenteil.“ ƒ

Fotos: Alciro Theodoro da Silva
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