Fehlende Offenheit ist das Problem

KI-Forscher Bela Gipp von der Uni Göttingen im Interview über das
Revolutionäre an KI-Systemen, deren Einsatzmöglichkeiten in Unternehmen
und die Gefahren der neuen Technologie

„Irgendwann wird die Technik besser sein als ein Mensch. Abwägungsfragen hingegen sind mit KI nicht so einfach zu lösen, weil es da kein Richtig oder Falsch gibt.“

Das Thema Künstliche Intelligenz ist in aller Munde – und geht natürlich auch an der Universität Göttingen nicht spurlos vorbei: Bela Gipp ist Professor an der Uni Göttingen, forscht zur KI und ist Experte, wenn es um die aktuellen Anwendungsmöglichkeiten für Unternehmen geht, insbesondere im Bereich der Verarbeitung großer Daten- und Bildmengen.
Es existieren zwar einige Fördermaßnahmen etwa seitens der Kammern oder des Bundes, doch Gipp rät den Unternehmen, auch den direkten Kontakt zu den Wissenschaftlern zu suchen. Im Interview spricht er darüber, warum es gerade hier eine große Offenheit und ein Interesse gegenüber praxisrelevanten Problemen und Anwendungen gibt und warum wir uns mit zunehmender KI-Durchdringung des Alltags, auch auf neue Risiken einstellen müssen.

Herr Professor Gipp, der Begriff Künstliche Intelligenz wird so ­häufig benutzt, dass oft unklar ist, was genau
damit gemeint ist. Also: Was verstehen Sie unter KI? 

Einen Oberbegriff für Systeme, die menschliches Verhalten in Bezug auf bestimmte Aspekte imitieren oder übertreffen können.

Seit ChatGPT hat man das Gefühl, KI ist im Höhenflug.
Steckt dahinter etwas technisch Revolutionäres, oder ist es nur ein Hype?  

Die Aussage, technisch hätte sich im Bereich KI nichts Revolutionäres verändert, ist vergleichbar mit der Aussage, dass sich bei Autos mit Verbrennungsmotor in den vergangenen 100 Jahren nicht revolutionär etwas getan hätte. Die Grundkomponenten sind zwar im Wesentlichen gleich geblieben, aber die vielen Detailverbesserungen haben immense Leistungssteigerungen ermöglicht. Ähnlich bei KI: Beispielsweise sind die Methoden der natürlichen Sprachverarbeitung von heute um Größenordnungen besser als jene vor zehn Jahren. Allein, dass ein einzelnes Sprachmodell wie ChatGPT unterschiedlichste Aufgaben in ­hoher Qualität erledigen kann, ist beeindruckend. 

Dasselbe Modell kann unter anderem neue Texte in einem vorgegebenen Stil und in einer Vielzahl von Sprachen verfassen und das auf einem derart hohen Niveau, dass Fachwissenschaftler teilweise den Text nicht als ­automatisch generiert erkennen können. Es kann gezielt Informationen aus Texten extrahieren und diese Daten zum Beispiel in Tabellen umformen und beispielsweise in natürlicher Sprache beschriebene Probleme in unterschiedlichsten Programmiersprachen lösen. Das Ganze in einer Geschwindigkeit und Skalierbarkeit, die eine interaktive Nutzung durch eine große Anzahl von Nutzern gleichzeitig erlaubt. Hätte man vor zehn Jahren behauptet, dass all dies heute möglich sein wird, wäre man vermutlich ausgelacht worden. 

Ist etwas dran an dem Eindruck, dass durch immer leistungsfähigere und günstigere Hardware individuelle Nerds abseits teurer Firmen-Research-and-Development-­Infrastrukturen die KI-Innovationsdynamik deutlich beschleunigt haben?  

Absolut. Gründe sind aber nicht nur bessere Hardware, sondern auch die zunehmend freie Verfügbarkeit von Wissen in Open-Access-Publikationen, Onlinekursen etc. und die Technologie durch Open Source. Aber auch die einfachere Kommunikation und Kooperation auf Distanz durch Technologien wie Zoom etc. spielt eine große Rolle. Hierdurch werden international mehr Menschen in die Lage versetzt, aktiv zu werden, sich unabhängig von der Lokalität in Teams zu organisieren, Dinge zu probieren und erfolgreich zu werden.

Wie kann der Einzelne oder auch der CTO einer Firma mit der rasant beschleunigten Entwicklung mithalten?  

Diese Beschleunigung ist für die Menschheit als Ganzes sicher zu begrüßen, aber einzelne Personen, Unternehmen oder auch Länder werden vor Herausforderungen gestellt. Wie bei allen technologischen Fortschritten kann die Lösung auch bei dieser Entwicklung nur in zunehmender Spezialisierung und Arbeitsteilung der Akteure liegen. Unternehmen sollten sich auf ihre Kernkompetenzen fokussieren und für alles andere mit Spezialisten zusammenarbeiten. 

Allein schon aufgrund des Fachkräftemangels halte ich es nicht für realistisch, dass etwa ein KMU im Maschinenbau oder im Handwerk eine IT-Abteilung unterhält, die mit den neuesten Entwicklungen der KI Schritt halten und diese für das eigene Unternehmen nutzbar machen kann. Die nötige Expertise kann man einkaufen, entweder bei entsprechenden Dienstleistern oder durch die Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern. Letzteres wird in Deutschland staatlich verstärkt gefördert. Auch mein Lehrstuhl arbeitet bei der Konzeption und Realisierung unternehmensspezifischer KI-Lösungen mit verschiedenen Großunternehmen und KMU zusammen.

Was sind gute Anwendungsmöglichkeiten von KI-Systemen in Unternehmen? 

Alle Bereiche, in denen Textdaten verarbeitet werden müssen, wie zum Beispiel die Nutzung von im Unternehmen vorhandenen Wissensbeständen durch Suche und Extraktion von Informationen aus Textdaten. Oder die Beschleunigung und Vereinfachung von administrativen Routineprozessen wie Datenerfassung, Protokollierung von Besprechungen, interner und externer Kommuni­kation. Ebenso alle Bereiche, in denen Bilddaten ver­arbeitet werden müssen, zum Beispiel in der Qualitätskontrolle, Maschinensteuerung oder Landschafts- und Objekterkundung.

ChatGPT beispielsweise schreibt tolle Texte, baut aber teils haarsträubende Fehler ein. Kann man sich da ­überhaupt auf ein Ergebnis verlassen?  

Es wird intensiv daran geforscht, alle Aussagen mit echten Quellen zu verifizieren und die Fehleranfälligkeit bei Sachfragen zu reduzieren. Das ist nur ein vorüber­gehendes Problem – irgendwann wird die Technik besser sein als ein Mensch. Abwägungsfragen hingegen sind mit KI nicht so einfach zu lösen, weil es da kein Richtig oder Falsch gibt. Eine KI wird trainiert und ist abhängig von den Daten, die sie bekommt. Wie gut jedoch ist diese Datenqualität, und wie neutral ist derjenige, der sie trainiert? Das ist ein ungelöstes Problem.

Wie bewerten Sie die gesellschaftspolitischen Rahmen­bedingungen für KI-Anwendungen und KI-Entwicklungen in Deutschland? 

Ich denke, das Bewusstsein für die Bedeutung und auch das Verständnis der Technologie wächst gerade erheblich. Auch wird von staatlicher Seite mittlerweile verstärkt in Bildung und Forschung investiert – gleichwohl gibt es große Unterschiede zwischen den Bundesländern. Allerdings sind wir vergleichsweise spät dran, wenn man beispielsweise die zweistelligen Milliardensummen sieht, die allein der chinesische Staat seit Jahren in alle Be­reiche der KI investiert. Meiner Meinung nach müssen insbesondere auch die Unternehmen die Zeichen der Zeit erkennen und massiv in KI investieren, um gegenüber der internationalen Konkurrenz nicht den Anschluss zu verlieren.  

Allerdings ist fehlende Technologieoffenheit in Deutschland generell ein Problem. Alles Neue wird erst einmal wegen potenzieller Missbrauchsgefahr verboten. Wir sind forschungstechnisch durchaus stark, aber die Produkte entstehen in den USA und China, weil bei uns die Bürokratie im Weg steht. Natürlich ist zum Beispiel ­Datenschutz extrem wichtig, aber Regelungen dürfen nicht innovationsverhindernd sein. Und am Ende werden die Innovationen aus dem Ausland doch hier ein­gesetzt werden. 

Werden KI-Systeme perspektivisch komplette Jobs ersetzen, oder sind sie – wie andere technische Innovationen zuvor – eher als Hilfssysteme zu verstehen, die Jobprofile verändern und neue schaffen?  

Kurzfristig überwiegt sicher der Charakter eines sehr mächtigen Hilfsmittels, welches die Produktivität enorm steigern wird. Gleichwohl wird der Bedarf für bestimmte menschliche Tätigkeiten sehr viel geringer oder komplett überflüssig werden, beispielsweise für Fahrer und Transportanlagenbediener, Sachbearbeiter für adminis­trative Routinevorgänge oder Übersetzer. Langfristig werden aber nicht nur manuelle Tätigkeiten, sondern auch kreative Arbeiten wie die von Designern, Lehrern oder Übersetzern davon stark betroffen sein. 

Und weil diese Entwicklung im Vergleich zu früheren Veränderungen so stark beschleunigt ist, wird das ­lebenslange Lernen immer wichtiger. Es ist zentral, dass die gesamte Gesellschaft bei diesem Umbruch mit­genommen wird, sonst gibt es Verlierer. Auch Unter­nehmen sollten sich nie zurücklehnen, wenn sie eine halbwegs aktuelle Technik nutzen – sie sind in einem globalen Wettbewerb, der immer mehr nach State of the Art verlangt. 

Können Sie einen Ausblick wagen, welche KI-Anwendungen sich für die kommenden fünf Jahre schon abzeichnen?  

Wir sind an einem Punkt, an dem es selbst Fachexperten sehr schwerfällt, darüber Prognosen abzugeben. Ich kann mir aber zum Beispiel vorstellen, dass der Universal­übersetzer aus Star Trek dann technisch Realität ist. Aber vielleicht etwas allgemeiner: Ich habe einen positiven Blick und Ausblick auf die Technik, allerdings sind auch die Befürchtungen, dass KI massiv missbraucht werden kann, zu 100 Prozent gerechtfertigt. KI erlaubt es einzelnen Personen oder Staaten, schädliche Dinge zu tun, die früher nicht möglich gewesen sind. Da kommen auf jeden Fall auch neue Gefahren auf uns zu – dessen müssen wir uns bewusst sein. 

Dabei fallen einem spontan KI-generierte Bilder ein …  

Mittels KI manipulierte Bilder und Videos, sogenannte Deepfakes, die gezielt für Desinformationskampagnen oder betrügerische Absichten genutzt werden, halte ich für eine solche ernst zu nehmende Gefahr. Anfang des Jahres kursierten während der Protestwelle in Frankreich KI-generierte Bilder, die angeblich Protestanten zeigten, die Polizisten umarmen. Dummerweise hatten die angeblichen Polizisten sechs Finger – ein aktuell noch häufiger KI-Fehler, der aber in absehbarer Zeit nicht mehr auftreten wird. Das Beispiel zeigt, dass KI bereits als Manipulator genutzt wird, um zum Beispiel Wahlkämpfe zu gewinnen oder die öffentliche Meinung zu beeinflussen – und dieses Problem wird zunehmen.

Sehr bald werden KI-generierte Bilder, Ton und Videos, nicht mehr von ,echten‘ Medien zu unterscheiden sein. Technische Erkennungsverfahren für solche Fakes sind sicher möglich, benötigen jedoch Zeit für die Entwicklung, weswegen sie der manipulativen Technologie immer einen Schritt hinterherhinken. Deswegen halte ich eine Kombination aus Technologie- und Medienkompetenz auf Seiten der Bürger für den effektivsten Schutz.

Herr Professor Gipp, vielen Dank für das Gespräch.

Foto: Marco Bühl
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