Glas neu denken

Mit dem Glass Valley wurde, neben Messtechnik und Life-Sciences, ein neues
Industriecluster in Südniedersachsen geschaffen – ins Leben gerufen von Glas-Pionier
und IGR-Geschäftsführer Dirk Diederich. Hier entstehen bahnbrechende Ideen wie
die um die umweltfreundliche Soda-Herstellung und rund um den Einsatz von Künstlicher
Intelligenz. Das neue Netzwerk aus regionalen Unternehmen und Forschungseinrichtungen
hat gute Chancen, zehn Millionen Euro für innovative Anwendungen einzustreichen.

„Wenn ich in die Welt hinausgehe und einen
Kooperationspartner suche, dann lande ich oft genug wieder in Göttingen und Umgebung.“

Dirk Diederich stammt aus dem Weserbergland, studierte Chemietechnik mit Schwerpunkt Glas und war zuvor ungefähr 20  Jahre als Laborleiter und Leiter Glastechnologie im Solling in der Glasindustrie tätig, zuletzt für O-I Germany in Holzminden. Seit der Gründung der IGR wächst das Unternehmen stetig und befasst sich schwerpunktmäßig mit Glas und Analytik: Hier werden Industriepartner beraten, Prozesse überprüft, innovative Produkte entwickelt, Lebensmittelsicherheit gewährleistet etc. IGR hat sich einen hervorragenden Ruf erarbeitet und ist global im Einsatz. „Wir haben in den 15 Jahren, die es uns gibt, auf der ganzen Welt etwa 1.500 Einzelkunden gewonnen“, sagt Dirk Diederich. „Damit bewirtschaften wir rund 70 Prozent aller Länder.“

Für IGR gibt es kein Stehenbleiben, die Entwicklung eigener Kompetenzen treibt Diederich immer wieder voran. So ist er inzwischen auch Sachverständiger für Glas bei der IHK und Gegenprobensachverständiger für die Kontamination von Lebensmitteln. Gleichzeitig ist das Unternehmen hoch innovativ, wie die regelmäßige Teilnahme an und vor allem auch die Auszeichnungen mit Innovationspreisen belegen. So hat IGR beispielsweise UV-Licht-undurchlässiges Glas entwickelt, das nun großflächig in Kathedralen oder Museen verbaut wird, weil sich darunter Papier nicht mehr verfärbt. 

„Für mich persönlich ist wichtig, dass wir immer auf dem aktuellen Stand sind – deswegen arbeiten wir in ­vielen Vereinigungen und Arbeitskreisen mit und kooperieren unter anderem mit den ganz großen Laborgerätebauern wie Zeiss, mit denen wir zum Beispiel Mikros­kope weiterentwickeln“, so der Geschäftsführer.

Insofern war es auch kein Wunder, dass Dirk Diederich zu einer treibenden Kraft hinter der Gründung des Glass Valley wurde – eines Konsortiums aus regionalen Unternehmen und Forschungseinrichtungen rund um das Thema Glas, dem er vorsteht.

Dabei denkt man bei diesem Thema nicht unbedingt an Südniedersachsen und vielleicht auch nicht unbedingt an ein glamouröses Business – sondern vermutlich eher an die Scherben des soeben beim Spülen kaputtgegangenen Trinkglases oder den armen Vogel, der an der großflächigen Glasfront der Terrasse Suizid begangen hat, weil er die Scheibe nicht erkennen konnte. Glas ist ein so elementarer Bestandteil des Alltags, dass es kaum einen zweiten Gedanken wert ist. 

Tatsächlich aber ist die Region entlang der Weser, mit dem Schwerpunkt Solling und hoch bis Nienburg, jene Glas-Region in Deutschland mit der größten Anzahl an Glashütten und glasverarbeitenden Betrieben – fast 50 Prozent der deutschen Behälterglasindustrie ist hier
angesiedelt. 

Die Tradition der Glasherstellung im Weser- und Leinetal reicht zudem weit zurück. Hier entstanden im frühen 9. Jahrhundert in den weiten Waldgebieten des Sollings die ersten Glashütten. Das Vorkommen geeigneter Sande, von massenhaft Brennstoff und Wasser sowie gute Transportwege waren die Voraussetzungen für das Gewerbe. Knapp 600 historische Glashütten­standorte sind im Werra-, Leine- und Weserbergland mittlerweile bekannt. Für den Göttinger Historiker Hans-Georg Stephan gilt das Weser-Werra-Bergland bis in den Oberweserraum als „ein Kernraum der historischen Glaserzeugung Europas im Mittelalter“. 

Aufgrund der guten naturräumlichen Lage und der vorhandenen Rohstoffe wurden hier später auch fürstliche Glasmanufakturen eröffnet. Diese Geschichte setzt sich bis heute fort. In Göttingen indes hat die Feinoptik eine lange Tradition – an der Fachhochschule wird viel mit Glas und Optiken gearbeitet und die TU Clausthal ist eine der wenigen Hochschulen in Deutschland, die noch den Schwerpunkt Glas und Glastechnologie haben. Kurzum, Südniedersachsen und der weitere Umkreis sind glastechnisch in Forschung und Anwendung hervorragend aufgestellt. Dirk Diederich drückt das folgendermaßen aus: „Wenn ich in die Welt hinausgehe und einen Kooperationspartner suche, dann lande ich oft genug wieder in Göttingen und Umgebung.“

Gleichzeitig ist die Glasindustrie noch sehr traditionell. Die grundlegenden industriellen Verarbeitungstechniken und die Zutaten haben sich im Laufe der Jahrhunderte kaum geändert – weil es nicht notwendig war. Rohstoffe und Energie waren reichlich und günstig vorhanden. Die Rahmenbedingungen haben sich allerdings innerhalb kurzer Zeit geändert. Die Produktion basiert auf Erdgas – das kam verlässlich und vor allem günstig aus Russland, bis die Sanktionen im Gefolge des Ukrainekriegs die Suche nach Alternativen notwendig machten. Ähnliches gilt für den Einsatz von Natriumkarbonat/Soda, einen der teuersten Rohstoffe in der Glasproduktion: Dessen Angebot am Weltmarkt hat sich deutlich verknappt. Kurzum: Die Kosten sind explodiert. 

Um Innovationspotenziale in der Industrie zu heben, hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ein Forschungsprogramm ausgeschrieben, auf das sich regionale Verbünde aus Unternehmen und Forschungseinrichtungen aus beliebigen Branchen bewerben konnten. Das Glass Valley hat nun seinen Hut in den Ring geworfen – das Ziel ist, die Entwicklung praxis­relevanter Anwendungen zu fördern, die den Produk­tionsprozess und den Rohstoffeinsatz in der Herstellung radikal verbessern sollen. 

„Wir haben es innerhalb von nur wenigen Wochen geschafft, 17 Partner aus Industrie und Hochschulen zu finden“, sagt Diederich. „Das zeigt das riesige Interesse am Thema.“ Damit bewarb man sich Anfang 2022 beim BMBF – als einer von 50 Verbünden. Der Name Glass Valley wurde in Anlehnung an das Measurement Valley gewählt.

Zur Überraschung und großen Freude der Beteiligten wurde das Glass Valley tatsächlich als einer von nur drei Verbünden ausgewählt, die bis Ende 2023 ein detailliertes Forschungs- und Entwicklungs- sowie Umsetzungskonzept einreichen sollen. Zwei Konzepte werden anschließend mit rund je zehn Millionen Euro für drei Jahre gefördert. 

Von den ursprünglich 17 Konsortiumsmitgliedern sind heute noch 15 dabei, die insgesamt sieben verschiedene Forschungs- und Entwicklungsprojekte designt haben. Davon arbeiten jeweils zwei bis fünf Partner in einem Projekt zusammen. Allgemein liegen die Schwerpunkte auf den Bereichen Analytik und Digitalisierung, Energieeffizienz und Nachhaltigkeit, Recycling, Rohstoffe, ­Herstellungsprozesse und funktionale Glasmaterialien, Plagiatsschutz und Produktsicherheit. 

„Beispielhaft ist eines der Projekte, das die Verwendung von Soda betrifft“, erklärt Dirk Diederich. Dessen Herstellung ist bislang sehr energieintensiv. „Unser Konzept ist, Soda nicht mehr nach herkömmlichen Methoden herzustellen, sondern aus flüssigem Natrium zu gewinnen.“ Das ist in Zukunft in Nordafrika ein Beiprodukt von mit Solarenergie betriebenen Entsalzungsanlagen. „Anstatt es wieder ins Meer zu kippen, importieren wir das Natrium und lassen es vor Ort in der Glashütte mit Wasser reagieren, um so das Soda zu gewinnen.“ Das ist zum einen CO2-neutral, zum anderen entsteht dabei wiederum Wasserstoff, der direkt in die Gasversorgung der Hütte eingespeist werden kann. 

Diederichs IGR ist mehr oder weniger an allen sieben Projekten beteiligt. Ein anderer wichtiger Player ist neben Hainer Wackerbarth vom Institut für Nanophotonik auch Christoph Gerhard von der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst, die sich in fünf Projekte einbringt. Eines knüpft direkt an Diederichs alternative Soda-Gewinnung an. „Die Frage ist, ob der aus einem anderen Herstellungsverfahren gewonnene Ersatzrohstoff dieselben Glaseigenschaften mit sich bringt – auch wenn das Soda chemisch gleich zusammengesetzt ist, heißt das nicht, dass es sich gleich verhält“, erklärt Gerhard. Deswegen wird die HAWK die Eigenschaften mit dem ,neuen‘ Werkstoff testen. 

Die Arbeit mit Glas hat an der HAWK eine lange Tradition, die auf den Impuls feinoptischer Industriebetriebe in Göttingen zurückgeht. Auf deren Betreiben wurde das fertigungstechnologisch ausgerichtete Ausbildungszentrum Optische Technologien hier angesiedelt. Das Know-how der HAWK auf diesem Gebiet kommt Unternehmen sowie der Hochschullehre zugute und nun auch neuen Anwendungen im Thema Glas. Denn noch ganz andere praktische Anwendungen sind in der Pipeline des Glass Valley vorgesehen.

Zum Beispiel die Vermeidung von Vogelschlag. Lässt sich also etwa die Glasoberfläche so designen, dass die Scheiben für den Menschen dieselbe Durchsichtigkeit bieten, aber für den Vogel wahrnehmbar sind? Lassen sich die Oberflächen von Scheiben so gestalten, dass sie Sonnenenergie produzieren oder andere Funktionen erhalten, etwa antibakteriell sind? Der Einsatz von Plasma – ein weiterer Technikschwerpunkt der HAWK – soll in der Oberflächenbearbeitung und -beschichtung von Linsen, Scheiben und Behältergläsern die Nutzung von Chemikalien ersetzen. Und in Gläsern sind mitunter Schadstoffe enthalten, wenn auch unterhalb von Grenz­werten, an deren Entfernung ebenfalls gearbeitet wird.

„Auch das upcycling ist bei uns Thema, also alte Glasscheiben nicht einfach einzuschmelzen, denn das ist energieintensiv“, sagt Gerhard. Dafür arbeitet man mit einer Firma zusammen, die sich auf die Wiederverwertung alter Scheiben spezialisiert hat. „Wenn Sie beispielsweise eine 100 Jahre alte Scheibe haben, muss die tiefengereinigt werden und zur Weiterverwendung eine hohe Klebefestigkeit aufweisen.“ Das Upcycling solcher alten Scheiben ist nicht nur ressourcenschonend, es bietet auch Potenzial für Restaurierungsarbeiten – denn jahrhundertealte Scheiben haben aufgrund von Ober­flächenbeschaffenheit und Einschlüssen eben einen ­anderen ästhetischen Look als neue, die in einem Fachwerkhaus mitunter deplatziert wirken. 

Und auch das Thema Künstliche Intelligenz hat sich das Glass Valley auf die Fahnen geschrieben. „Das wird in vielen Richtungen eine große Rolle spielen“, so IGR-Geschäftsführer Diederich. Beispielsweise in der Rohstoffanalytik, um etwa aus zu recycelnden Scherben Reste von Elektrobauteilen herauszufischen, die nicht aufschmelzen und hohe Folgekosten im Endprodukt nach sich ziehen können. Oder Fehler im Glas direkt zu erkennen und noch während der Produktion zu entfernen. Oder, oder, oder. „Es lassen sich so viele verschiedene Einsatzbereiche vorstellen – der Fantasie sind bei KI-Anwendungen kaum Grenzen gesetzt.“

Spannend wird es zu sehen, was aus einem traditionellen Produkt noch so alles werden kann, wenn Verfahren und Rohstoffe ausgetauscht und ganz neu gedacht werden. „Das erste Glasrezept findet sich auf einer Keilschrifttontafel von 650 vor Christus – und im Grunde schmelzen wir das Glas heute immer noch so“, erzählt Christoph Gerhard. „Das dortige Glas hat drei Hauptbestandteile, an zwei davon wollen wir ran.“ Fest steht: Wenn das Glas Valley kommt, dann plant es nichts anderes als den großen Wurf. ƒ

Foto: Alciro Theodoro da Silva
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