documenta fifteen – Interview mit Sabine Schormann

Es ist der erste Sonntagabend im Mai. Der Platz vor dem Fridericianum im Herzen der Kassler Innenstadt gehört den Flaneuren: Zwei verliebte Jugendliche küssen sich auf den angrenzenden Treppenstufen, eine Mutter schlendert mit ihrer kleinen Tochter an der Hand den breiten Kiesweg entlang. Noch zeigt der Kassler Kunstverein hier acht kinetische Objekte der Serie ,Bypass‘ von der Künstlerin Jenny Brockmann, die in Berlin und New York lebt. Sie erinnern an Spielgeräte, bodennahe Kreise mit zwölf Sitzen. Schnell finden sich Mitstreiter, die ebenfalls Platz nehmen. Es gilt, gemeinschaftlich das Gleichgewicht zu finden, mit den Füßen Schwung zu nehmen und die Welt beginnt sich zu drehen.

Das Konzept setzt auf Zusammenarbeit, auf Solidarität, auf Ressourcenteilung, auf Nachhaltigkeit im Sinne von ökologisch, ökonomisch, sozial und ist unter dem schönen Begriff lumbung zusammengefasst dem Leitmotiv der documenta fifteen.

Die Idee der documenta fifteen nimmt Gestalt an – gemeinschaftlich etwas zu bewegen. Das ist – frei interpretiert – das Motto der diesjährigen Kunstausstellung, die alle fünf Jahre in Kassel das Stadtbild prägt und 100 Tage lang Kunstinteressierte aus der ganzen Welt anzieht. Seit dem 18. Juni füllen nun die Kunstbegeisterten der documenta fifteen die Flächen vor dem Fridericianum. Warum Gemeinschaft das zentrale Thema geworden ist und wie politische Themen überhaupt zu Kunst werden, dazu hat faktor die Geschäftsführerin der documenta fifteen Sabine Schormann befragt.

 

Frau Schormann, blicken wir zunächst auf das Neue, das Besondere der documenta fifteen: Die Auswahl liegt dieses Mal in den Händen eines Kollektivs, der Künstlergruppe ruangrupa, aus Indonesien.

Wir haben viele verschiedene Ebenen, auf denen diese documenta etwas Besonderes ist. Es ist das Prinzip der documenta-Ausstellungen, dass sie sich jeweils neu erfinden. Das macht aus meiner Sicht ihre Bedeutung aus. Diesmal ist es besonders, dass wir erstmals ein Künstlerkollektiv haben aus dem globalen Süden, Jakarta, Indonesien. Sie sind nicht mit einem Konzept angetreten, sondern damit, einen Prozess zu starten. Für diesen Prozess haben sie Künstlerinnen und Künstler eingeladen, die eine ähnliche künstlerische Praxis verfolgen. Das Konzept setzt auf Zusammenarbeit, auf Solidarität, auf Ressourcenteilung, auf Nachhaltigkeit im Sinne von ökologisch, ökonomisch, sozial und ist unter dem schönen Begriff lumbung zusammengefasst – dem Leitmotiv der documenta fifteen. Es bedeutet Reisscheune auf Indonesisch und gilt metaphorisch als ein Ort, an dem man sich begegnen kann und in dem Ressourcen aufbewahrt werden, welche man nach gemeinsamen Kriterien verteilt.

Warum meinen Sie, braucht es heute diesen Blickwinkel von Gemeinschaften?

Ich persönlich glaube, dass dies eine Antwort auf die dringlichen Fragestellungen unseres 21. Jahrhunderts ist, die sehr stark geprägt sind von den Erfahrungen des Klimawandels. Es ist der Glaube daran, dass Menschen, die sich zusammentun, die sich insbesondere auf der lokalen Ebene zusammenschließen, Dinge bei sich verändern und  verbessern können. Denken Sie bei uns zum Beispiel an Fridays for Future. Nun kommt noch dazu, dass wir aus der Corona-Pandemie kommend ohnehin noch viel mehr das Bedürfnis haben, wieder in den sozialen Kontakt zu treten.

Warum hat die documenta das Prinzip lumbung in den Mittelpunkt gestellt?

Diese Konzeption hat die künstlerische Leitung ruangrupa eingebracht. Künstlerische Freiheit ist das Grundprinzip aller documenta-Ausstellungen. Das heißt die Leitung prägt das, was gezeigt wird. Für ruangrupa und für die eingeladenen Künstler aus  aller Welt ist es eine Erfahrung, dass man in einer Gemeinschaft füreinander handelnd Verantwortung übernimmt. Dass das einer der Wege ist, Lebensbedingungen zu verbessern  gerade durch die Mittel der Kunst. Das wollen sie gemeinschaftlich bei dieser documenta zeigen. Die Künstler sind auch nicht eingeladen worden nach Nationalitäten oder nach Religionszugehörigkeit oder politischer Zugehörigkeit, sondern immer mit Blick auf diese künstlerische Haltung.

Die Kollektive und Gruppen entwickeln bereits seit  drei Jahren gemeinsam das Prinzip lumbung für die documenta. Interpretiere ich es richtig, dass nicht deren Kunstwerke nach Kassel geholt werden, sondern extra etwas Neues entsteht?

Teils, teils. Es gibt, der Idee des Reisspeichers folgend, Archive, die hierherkommen wie The Black Archives aus den Niederlanden und Werke, die in den Heimatländern entstanden sind. Gleichzeitig gibt es vieles, was gemeinschaftlich erst entwickelt wurde oder hier in Kassel entsteht. Für die Künstler geht es nicht nur darum Projekte zu entwickeln, sondern miteinander in Kontakt zu kommen, Erfahrungen auszutauschen. ruangrupa sagt: Jeder ist selbst eine Ressource. Insofern kann diese Art des gemeinschaftlichen Austausches auf vielen Ebenen stattfinden. Der international bekannte rumänische Künstler Dan Perjovschi, der schon mehrfach bei einer documenta dabei gewesen ist, sagt, dass es für ihn eine neue Erfahrung sei, im Vorfeld mit den anderen Künstlerinnen und Künstlern in den Austausch zu kommen und deren Ideen kennenzulernen. Es sei sehr bereichernd, auch wenn man sicher nicht alles teile.

Es geht in diesem Jahr sehr viel um politische Themen, Umweltschutz, Geschlechtsidentitäten, Bildung. Wie muss ich mir die Kunstwerke vorstellen? Wie werden die Themen zu Kunst?

Vielleicht drei Beispiele dazu. Dan Perjovschi hat die Säulen des Fridericianums mit Graffiti gestaltet, die Themen der documenta auf eine scheinbar einfache Art und Weise aufgreifen. Ein zweites Beispiel: The Nest Collective aus Nairobi, die vor der Orangerie riesige Stoffballen zu einem Gebäude zusammenführen. Stoffe, die üblicherweise in Afrika oder an anderen Stellen entsorgt werden. Das ist eine Übersetzung, die gut zu lesen ist und ein sehr beeindruckendes Kunstwerk.

Oder als letztes die Floating Gardens, Gärten der Künstlerin aus der Slowakei, Ilona Németh, die auf der Fulda schwimmen. In einem der Gärten gibt es Pflanzen, die den Boden von Giften reinigen, in einem anderem wird mit heilenden Kräuter- und Gemüsesorten gearbeitet. Das Ganze – auch hier wieder das lumbung-Konzept – wird von Menschen aus Kassel betreut, die sich über eine Ausschreibung beworben haben, die Gartenpflege zu übernehmen.

Eines der Projekte führt auch nach Göttingen: Forschende der Uni Göttingen und der Uni in Jambi auf Sumatra setzen sich mit den Folgen des Palmöl-Anbaus auf die tropischen Regenwälder auseinander. Dazu ist auch eine Ausstellung im gerade erst eröffneten Ausstellungshaus Forum Wissen geplant. Wie sind dabei Kunst und Forschung verknüpft?

In diesem Projekt geht es darum zu beleuchten, was es bedeutet, wenn die Biodiversität nach der Abholzung des Regenwaldes zurückgeht. Dies hat sehr negative ökologische, gleichzeitig aber auch positive ökonomische Folgen. Das Projekt sucht nach Wegen, wie man beides miteinander besser vereinen kann. Auf der künstlerischen Seite wird es von einem Kollektiv, Sikukelung, begleitet, das in der Nachbarstadt Riau beheimatet ist. Diese haben ein Festival veranstaltet, das helfen soll, die Ideen den Kleinbauern der Region näherzubringen und gleichzeitig deren Wünsche wiederum in das Forschungsprojekt einzubringen. Die Ausstellung im Forum Wissen zeigt zum einen die wissenschaftlichen Methoden und Ergebnisse  und gleichzeitig, wie mit künstlerischen Mitteln auf die Situation reagiert wird.

Es gibt noch eine weitere Verbindung nach Göttingen: Das Kunsthaus präsentiert eine Ausstellung unter dem Titel ,printing futures‘. Was hat es damit auf sich?

Hier geht es um das gemeinsame Interesse an Arbeiten auf Papier und den Glauben an die Zukunft des Druckens, was viele Künstler der documenta und solche eint, die Gerhard Steidl in das Kunsthaus eingeladen hat. Dabei entstehen Publikationen und  gemeinsame Workshops, die Kassel und Göttingen verbinden. Das sind Partnerprojekte, die aus einer Idee entstehen und dann groß, spannend, werden. Gerade, dass Göttingen dabei ist, hat uns sehr gefreut. Man kann auf den Weg von oder nach Kassel einen Zwischenstopp einlegen und noch mal eine ganz andere Dimension kennenlernen.

Sie hatten anklingen lassen, dass die Begegnung vor Ort einen besonderen Reiz haben, sich nach zwei Jahren Pandemie, wieder zu begegnen. Welche Hoffnung ist damit verbunden?  

Das leitende Kollektiv ruangrupa lädt die Besucher dazu ein, die Ausstellung auf zwei Ebenen zu erleben: Die erste bildet die Ausstellung nach Objekten, Filmen, Skulpturen, Gemälden. Die zweite Ebene ist, ,nongkrong‘ miteinander zu betreiben, was so viel heißt wie sich einfach mal fallen zu lassen, sich ein bisschen Zeit zu nehmen, ins Gespräch zu gehen, Dinge zu erleben – sei es kulinarisch, seien es Tanzperformances, Karaoke, was auch immer. Das ist etwas, was wir, so glaube ich, alle in diesem Sommer sehr genießen werden.

Was waren in der Vorbereitung für Sie persönlich besondere Momente?  

Mein besonderer ruangrupa-Moment war ganz am Anfang, im November 2019. Da waren alle Mitglieder des Kollektivs das erste Mal in Kassel. Wir hatten abends einen gemeinsamen Abschlussanlass bei Bosporus, dem türkischen Fußballverein. ruangrupa hatte bei Nieselregen im Garten einen Lautsprecher entdeckt, das Handy eingestöpselt, indonesischen Hiphop aufgelegt, die türkischen Fußballer haben ein Lagerfeuer entzündet und der Abend endete damit, dass alle gemeinsam spontan um dieses Lagerfeuer zu indonesischem Hiphop tanzten. Das sind die ruangrupa-Momente, auf die ich für diesen Sommer hoffe.

Viele von den Kunstwerken kennen Sie vermutlich nur als Konzept. Auf welche sind Sie besonders gespannt, sie umgesetzt in Kassel zu sehen?

Ich freue ich mich besonders auf die Arbeit von Atis Rezistans. Sie kommen aus Haiti, sind in St. Kunigundis im Kassler Stadtteil Bettenhausen zu sehen. Es geht um die religiöse Praxis in Haiti und die Erfahrungen, dort zu arbeiten in prekären, auch politisch schwierigen, Umständen. Das drückt sich unter anderem in spannenden Skulpturen aus, die dann in diesem Kirchenschiff auftauchen. Ich will nicht zu viel verraten.

Nach hundert Tagen endet die documenta fifteen. Die Praxis lumbung hingegen soll dies nicht. Was soll weitergehen?

Nach den Vorstellungen, Hoffnungen, Wünschen von ruangrupa soll auf jeden Fall das lumbung-Netzwerk weiterexistieren. Aber auch hier möchte das Kollektiv das Ergebnis nicht schon vorwegnehmen, sondern ihm Raum geben, sich zu entwickeln.

Kann ich mich als Besucher in lumbung einbringen?

Ganz viele Künstler laden Menschen ein, dazu zu kommen, sich auf verschiedenen Ebenen zu beteiligen. Man muss nicht, es ist kein Zwang, aber man kann, wenn man möchte.

Man kann auch nur schlendern und sich die Kunstwerke anschauen?

Niemand wird zu irgendetwas gezwungen. Man muss nicht Karaoke singen – aber es wird wahrscheinlich auch dazu irgendwo eine Möglichkeit geben.

Vielen Dank für das Gespräch.

Foto: Alciro Theodoro da Silva
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