Die Objektiv-Manufaktur Zeiss

Lange sah es so aus, als ob sich Zeiss aus Göttingen zurückziehen würde. Doch der Erfolg einer neuen Unternehmensstrategie und die Investition von rund 27 Millionen Euro sorgen wieder für gute Perspektiven am historisch gewachsenen Standort – an dem bis heute neben hochmoderner Technik auf präzise Handarbeit gesetzt wird.

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Die Carl Zeiss AG blickt auf eine Historie zurück, die in der Göttinger Wirtschaftsgeschichte ihre Entsprechung findet: Carl Zeiss war Universitätsmechanikus in Jena und gründete 1846 eine Werkstatt, in der er für Professoren Mikroskope herstellte. Er arbeitete dabei schon früh mit Ernst Abbe zusammen, der die wissenschaftlichen
Berechnungen zur Optik durchführte. Abbe hat auch das erste Stiftungsstatut geschrieben: Um Erbstreitigkeiten zu vermeiden, wollte Zeiss das Unternehmen in eine Stiftung überführen, die den Zweck verfolgt, die Wissenschaft zu fördern. Obwohl Carl Zeiss heute eine AG ist, ist das Unternehmen nicht börsennotiert und hat keine Aktionäre, sondern ist eine der größten deutschen Stiftungen zur Förderung der Wissenschaft, was ihr langfristigere Handlungsspielräume sichert.

Mit über 34.000 Mitarbeitern ist Zeiss weltweit in fast 50 Ländern mit rund 30 Produktionsstandorten, ­60 Vertriebs- und Servicestandorten sowie 27 Forschungs- und Entwicklungsstandorten aktiv.

Zeiss entwickelt, produziert und vertreibt Lösungen für die industrielle Messtechnik und Qualitätssicherung, Mikroskopielösungen für Lebenswissenschaften und Materialforschung sowie Medizintechniklösungen für Diagnostik und Therapie in der Augenheilkunde und der Mikrochirurgie. Zudem ist Zeiss in der Lithographieoptik, die zur Herstellung von Halbleiterbauelementen von der Chipindustrie verwendet wird, weltweit führend.

Traditionelles Arbeiten

Hier bei Zeiss gibt es keine Fließbänder und ineinander verzahnte Fertigungsstraßen. Industrieroboter übernehmen zwar das Fräsen von Gehäuseteilen und Maschinen das Schleifen und ­Polieren von Linsen, aber daneben dominieren vor allem Werkbänke beziehungsweise Fertigungsinseln, an denen die Einzelteile per Hand zu Modulen und anschließend zu Geräten zusammengebaut werden. Die Arbeitsatmosphäre ist konzentriert ruhig, Hektik ist hier fehl am Platze.

Geht man durch die unterschiedlichen Abteilungen des historisch gewachsenen Göttinger Standorts, wird klar, dass es sich bei Zeiss zwar um einen hochmodernen Technikkonzern handelt, die Arbeit aber mit industrieller Massenproduktion wenig zu tun hat. Vielmehr hat die Montage von Modul und Objektiv noch stark den ursprünglichen Manufakturcharakter, und die Ergebnisse leben stark von der Qualifikation der Mitarbeiter. „Wir machen hier kein Massengeschäft“, sagt Matthias Kutz, Göttingens Standortleiter und Geschäftsführer. „Bei anspruchsvollen Mikroskopen reden wir von drei- bis vierstelligen Stückzahlen pro Jahr.“

Veränderungen im Unternehmen 

Das Geschäft läuft dieser Tage gut und damit anders, als vor fünf Jahren absehbar war. Denn 2016 war für die Carl Zeiss AG ein Jahr der Veränderung: Der Konzern setzte ein Programm der internen Neuorgani­sation um. Göttingen war davon stark betroffen, die Proteste waren intensiv, gebracht hatte es wenig: Der Standort schrumpfte, von rund 600 Mitarbeitern zu Spitzenzeiten verblieben noch 280. Die Befürchtungen der Belegschaft waren groß, dass sich Zeiss nach diesem drastischen Schritt über kurz oder lang gänzlich aus Göttingen verabschieden wird – eine bedauerliche Entwicklung, denn das Unternehmen blickt auf eine lange Verbindung zu dieser Stadt zurück.

Die Geschichte startete 1846 in Jena, als Carl Zeiss eine Mechanikwerkstatt für Mikroskope für die dortige Universität gründete – genauso, wie es Rudolf Winkel 1857 in Göttingen tat. Die Kontakte Winkels zu Zeiss entstanden über dessen Partner Ernst Abbe. Dieser hatte bis 1859 in Jena studiert, wechselte aber für die Promotion in der Physik nach Göttingen, wo er anschließend noch für kurze Zeit an der Sternwarte als Assistent beschäftigt war. Die Unternehmen Zeiss und Winkel kooperierten ab dem Jahr 1894. Carl Zeiss übernahm 1911 schließlich Winkels Unternehmen und so wurde der Göttinger Standort gegründet.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erfolgte die Spaltung von Zeiss in Carl Zeiss Ost und Carl Zeiss West, dessen neues Hauptquartier von den Amerikanern 1947 im baden-württembergischen Oberkochen gegründet wurde. Dort war auch die Entwicklung angesiedelt, während Göttingen der Produktionsstandort für Lichtmikroskope blieb. Nach der Wiedervereinigung wanderte der Geschäftsbereich Mikroskopie aus Oberkochen zunächst zurück zum alten Hauptquartier in Jena, doch 1998 wurde der Geschäftsbereich Lichtmikro­skopie komplett nach Göttingen verlagert – mit Vertrieb, Forschung und Entwicklung, Produktmanagement und Service.

Der Standort Göttingen 

So blieb der Standort auch aufgestellt – bis ins besagte Jahr 2016, als er Teile seiner Aufgaben wieder abgeben musste und die drastischen Veränderungen ins Haus standen. Heute jedoch, fünf Jahre später, hat sich das Bild erneut gewandelt: Der Standort ist sicher. In der Königs­allee in Göttingen wurden inzwischen rund 27 Millionen Euro investiert, um ihn technisch zukunftsfähig zu machen. Gebäude wurden saniert, ein neuer Reinraum mit 800 Quadrat­metern Fläche wurde eingerichtet. Neue Fertigungs­maschinen wurden angeschafft, Prozesse umweltfreundlich optimiert und so etwa der jährliche Energie­verbrauch von 70 Privathaushalten eingespart. Der Lösemittelverbrauch für die Linsenreinigung wurde sogar um 99 Prozent reduziert. Mit Ausnahme eines pandemiebedingten Einbruchs im Geschäftsjahr 2019/2020 wächst der Göttinger Standort kontinuierlich.

Am Sichtbarsten lässt sich das Wachstum an den Mitarbeiterzahlen ablesen. 315 sind es aktuell, etwa 20 Stellen sind zurzeit offen. Gesucht werden vor allem im produzierenden Bereich Feinoptiker, denn hergestellt werden in Göttingen insbesondere Objektive und mecha­nische sowie optoelektrische Komponenten für Licht­mikroskope – und Ersatzteile, denn die Lebensdauer von Zeiss-Produkten wird durchaus in Jahrzehnten gerechnet. „Das Geschäft mit der Mikroskopie brummt“, erklärt Kutz.

Die Strategie von 2016 hat die Produktionsabläufe innerhalb des Konzerns verändert. Ganz oben gibt es vier Sparten, in denen Produkte entwickelt, kundenspezifisch konfiguriert und vertrieben werden: Halbleitertechnik, Industrial Quality and Research, die den Bereich der Mikroskopie sowie von Messmaschinen umfasst, Medizintechnik sowie Consumer Markets, wozu schwerpunktmäßig Brillengläser, Fotoobjektive und Ferngläser zählen.

Unterhalb der Standorte der vier Sparten wurden die fünf Zeiss-Standorte der zentralen Fertigungsbereiche mit etwa 2.000 Mitarbeitern angesiedelt. Hier werden grundlegende Module und Geräte angefertigt, die dann den Geschäftsbereichen zugeliefert und dort zu kompletten Systemen ergänzt und integriert werden. Göttingen ist inzwischen ein Bestandteil dieses Netzwerks. „Immer, wenn es kundenspezifisch wird, übergeben wir unsere Module an die weiterverarbeitenden Standorte“, erläutert Bernhard Ohnesorge, Geschäftsführer der zentralen Fertigung von Zeiss und ebenso Geschäftsführer in Göttingen, das Prinzip. Dann werden etwa den Modulen Rechnereinheiten mit spezifischer Software beigestellt oder eine vom Kunden gewünschte spezielle Konfiguration installiert. Vor 2016 wurden all diese Arbeiten komplett in Göttingen durchgeführt, heute liegt der Anteil der Wertschöpfung am Endprodukt hier immer noch zwischen 70 und 80 Prozent, betont Ohnesorge.

Die Zukunft von Zeiss 

Außer der Produktion ist in Göttingen noch eine kleine Entwicklungsabteilung geblieben, die von ursprünglich 60 auf rund 20 Mitarbeiter verkleinert wurde und im Konzert mit der F&E der übergeordneten Geschäftsbereiche zu Neuentwicklungen beiträgt. ,Nur‘ Produktion, das klingt banal, setzt aber weiterhin höchste Präzision und Kompetenz voraus. Und weil es auf die Mitarbeiter ankommt, bildet Zeiss in Göttingen seinen Nachwuchs selbst aus. Jedes Jahr starten hier fünf bis sieben Auszubildende in den Bereichen Feinoptiker, Industriemechaniker und Mechatroniker – regelmäßig gehören die Zeiss-Azubis zu den besten bundesweit. Der Bundessieger 2021 in der Feinoptik kommt von Zeiss in Göttingen, wie zuvor in den Jahren 2006, 2012 und 2018. „Unser Nachwuchs ist regelmäßig erfolgreich. Darauf sind wir ungemein stolz“, sagt Geschäftsführer Kutz. „Aber wir müssen die Grundlagen für diese guten Auszubildenden schon in der Schule schaffen, deswegen engagieren wir uns dort auch mit verschiedenen Angeboten.“

Es ist wieder eine Dynamik am Zeiss-Standort zu sehen, und die Geschäftsführung ist für die Zukunft noch optimistischer, denn die vor fünf Jahren beschlossene Strategie zeigt langsam aber sicher Erfolge. Die Kunden der Göttinger Produktion sitzen überwiegend im Zeiss-Konzern. Wachsen die Sparten, wachsen die Stand­orte. Der Konzernumbau hat jedoch innerhalb des Fertigungsnetzwerks des Unternehmens noch ein weiteres Geschäftsfeld eröffnet: eigene externe Kunden zu gewinnen. „Es ist ein harter Weg gewesen, an diesen Punkt zu kommen“, sagt Bernhard Ohnesorge. Das Fertigungsnetzwerk musste organisiert werden, um optische Lösungen für die Systeme externer Kunden entwickeln zu können. „Aber mittlerweile haben wir im Fertigungsverbund eine hohe Expertise gewonnen, um die optische Lösungskompetenz von Zeiss externen Kunden – sofern sie nicht mit unseren Konzerngeschäftsbereichen konkurrieren – anbieten zu können.“

Es gebe derzeit einige vielversprechende Gespräche mit Dritten und Entwicklungsaktivitäten für diese. „Darunter sind Produktentwicklungen, die mich wirklich begeistern, auch wenn ich noch nicht konkreter werden kann. Aber das wird Früchte tragen“, sagt Ohnesorge überzeugt. Bisherige Beispiele solcher Entwicklungen aus anderen Fertigungsstandorten seien etwa spezielle Unterwasserobjektive bis hin zu Optiken, die in den Weltraum gehen, oder die multifunktionalen smarten Gläser, in die verschiedene Funktionen eingebettet werden. Aber auch das eigene Erschließen von neuen Märkten ist ein klares Ziel – in Göttingen liegt dieser Fokus auf Medizintechnik, die entsprechende Zertifizierung wurde bereits erreicht. „Wir sind noch relativ stark vom Zeiss-internen Mikroskopiemarkt abhängig und haben letztes Jahr erlebt, dass es schnell Auswirkungen auf uns hat, wenn der Markt schwächelt“, erklärt Matthias Kutz. „Wenn wir mehrere Standbeine haben, stabilisieren wir den Standort. Daran arbeiten wir sehr hart.“ ƒ

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