Die Abenteurerin

Anna Hell ist unter den Chirurgen in der Kinderorthopädie höchst angesehen, sie hat eine von zwei Professuren in ganz Deutschland inne. Ihr Weg ist von einem Ziel getrieben: ihren kleinen Patienten ein unbeschwertes Leben zu ermöglichen. faktor spricht mit ihr über ihre Zeit als Weltenbummlerin und über den Mann ihres Lebens, der noch mehr arbeitet als sie.

Im Alter von acht Jahren weiß die kleine Anna bereits, was sie in ihrem Leben machen möchte. „Für mich war früh klar, ich mache etwas mit Kindern und Knochen“, sagt Anna Hell über sich selbst lachend, denn dieser doch recht ungewöhnliche Berufswunsch ist weit von Prinzessin, Balletttänzerin oder ähnlichen Träumen gleichaltriger Mädchen entfernt. Heute ist sie die Leiterin einer deutschlandweit renommierten Kinderorthopädie am Universitätsklinikum Göttingen. Als älteste von drei Töchtern wächst Anna in einer Familie auf, in der der Vater als ­Chirurg und die Mutter als Narkoseärztin arbeiten. Eine ­berufstätige Mutter ist in den 1970er-Jahren nicht die Norm, und so erlebt Anna bereits von Kindheit an ein gleichberechtigtes Umfeld, in dem das Credo gilt: Du kannst später das werden, was du willst oder worin du gut bist. Eben auch etwas mit ‚Kindern und Knochen‘.

Überhaupt zeichnet sich für die Achtjährige sehr früh ein roter Faden ab. „Ich entdeckte auf dem Schreibtisch meiner Eltern ein Thieme-Medizinbuch, auf dem eine krakelige Kinderzeichnung zu sehen war – und war entsetzt, weil ich dachte, eine meiner Schwestern hätte das teure Buch bemalt“, erzählt sie rückblickend. Wie sich herausstellte, gehörte die Zeichnung auf das Cover. Und diese Geschichte muss hier erwähnt werden, weil sie bis zum heutigen Tag richtungsweisend wurde. Der Autor des ­Buches, Prof. Lutz von Laer, ist Jahre später Anna Hells Mentor. 2020 erscheint eben jenes Buch ,Frakturen und Luxationen im Wachstumsalter‘ in der siebten Auflage. Mitherausgeberin: Anna-Kathrin Hell.Die Hannoveranerin lebt nun seit 26 Jahren in Göttingen. Als Oberärztin und Chirurgin baut sie in der UMG die damals recht kleine Station für Kinderorthopädie immer weiter aus, sodass sie mittlerweile mit einem Team von zwei Oberärzten, einem Facharzt und zwei Assistenzärzten arbeitet. Hell hat eine von lediglich zwei Professuren für Kinderorthopädie in ganz Deutschland inne und ist Präsidentin der Vereinigung für Kinder­orthopädie. – So weit die Fakten.
Jedoch werden diese der Chirurgin und Wissenschaft­lerin Anna Hell nur auf fachlicher Ebene gerecht. Menschlich begrüßt uns zum Interview eine gut gelaunte und vor Energie sprühende Frau, die uns plaudernd in ihr kleines Büro führt. Über ihrem Schreibtisch hängen unzählige Fotos von Kindern, von glücklichen Kindern. Eines zeigt ein kleines Mädchen, das mit Schlittschuhen an den Füßen in die Kamera strahlt. „Das sind Momente, die mich wirklich berühren“, sagt Hell und erzählt, dass diese kleine Eisläuferin einst mit einem Klumpfuß zu ihr kam.

Behundlungsschwerpunkt Kinder

Eine vergleichsweise einfache Krankengeschichte, wenn man auf die schweren Wirbelsäulenverkrümmungen blickt, mit denen kleine Kinder zu der Fachärztin kommen. Bis zu 20 Operationen müssen manche Kinder im Laufe ihres Wachstums über sich ergehen lassen. „Die Kinder kommen aus ganz Deutschland zu uns, von Stralsund bis zum Starnberger See“, sagt Hell nicht ohne Stolz über das weit ausstrahlende ­Renommee. Seit 2018 verfügt die Station nicht nur über fachliche Kompetenz, sondern zudem über ein 3D-Röntgengerät, welches die Strahlenbelastung bis zu 90 Prozent senkt und die Dauer der Aufnahmen von vier Minuten auf 20 Sekunden verkürzt.
Unter dem Namen ‚Kleine Rücken brauchen Hilfe‘ sammelt das Fundraisingprojekt der UMG innerhalb von zwei Jahren Spendengelder für die Anschaffung des 3D-Röntgengerätes. Zwei Drittel der Kosten von insgesamt 512.000 Euro wurden über private Spenden aufgebracht. „Dass wir so viel Rückhalt aus der Bevölkerung bekommen haben, war wirklich unglaublich toll und hat uns so weitergeholfen“, sagt die Chirurgin. Stück für Stück kommt sie auf diese Weise ihrer Vision nahe, die Liegezeiten für ihre kleinen Patienten immer weiter zu verkürzen und deren Lebensqualität zu steigern. Bereits jetzt verbringen manche Kinder, die früher bis zu einem halben Jahr in der Klinik waren, nur noch zwölf Tage im Krankenhaus.

Was für eine luxuriöse Voraussetzung, um kleine Kinderrücken zu heilen – vor allem, wenn die Ärztin an ihre Zeit in Südafrika zurückdenkt. In riesigen Schlafsälen stand Kinderbett an Kinderbett, während eine einzige Krankenschwester Wache hielt. Anna Hell führte, bevor sie in Göttingen sesshaft wurde, ein regelrechtes Abenteuerinnen-Dasein. Praktika und Stipendien führten sie nach Ägypten, in den Senegal zur Doktorarbeit in einem WHO-Projekt, nach Indien und Großbritannien sowie nach Südafrika, in die Schweiz, die USA und wieder für fünf Jahre zurück in die Schweiz, nach Basel zu Lutz von Laer. Einzig in Ägypten war sie sich noch nicht sicher, ob es wirklich ein Medizinstudium sein wird: „Ich reiste nach dem Abitur quer durch das Land und habe geguckt, ob mir das Grabräubertum besser gefällt als die Medizin. Und es war schnell klar, dass ich das Medizinische spannender ­finde“, sagt sie mit Begeisterung.

Heimat in Göttingen nach vielen Jahren im Ausland

Auch Göttingen ist in den 1990er-Jahren eine kurze Zwischenstation. In dieser Zeit lernt sie auf der Wohnungseinweihung eines Freundes dessen Chef am Max-Planck-Institut kennen. Dieser Chef wird drei ­Jahre später ihr Ehemann sein, mit dem sie vier Kinder haben wird. Dieser Chef ist Stefan Hell, der 2014 den Nobelpreis in Chemie erhielt. „Das war das erste Mal, dass ich einen Mann kennengelernt habe, der mehr gearbeitet hat als ich“, sagt Anna Hell und lacht. Professorin, Ehefrau, Mutter – und doch wirkt sie kein wenig gestresst, stattdessen bodenständig und ganz bei sich. Dabei ist ihr der Erfolg nicht in den Schoß gefallen, wie das Zitat schon vermuten lässt. „Ich wusste sehr früh sehr genau, was ich will. Ich denke, es hilft, wenn man sein Ziel kennt“, sagt die 52-Jährige heute. „Ich habe mich am Abend vor der Geburt unserer Zwillinge habilitiert“, erzählt sie weiter. „Das hat gut geklappt. Man muss ja auch mal Glück haben.“

Ob Glück oder nicht: Probleme scheint es für Hell nicht zu geben. Wenn etwas im Wege steht, wird es beiseite geräumt. „Ich bin die Handwerkerin, die fest im Leben steht“, sagt sie. So klettert sie für das anschließende ­Fotoshooting kurzerhand auf einen Stuhl, um einen störenden Leuchtstern von der Decke abzuhängen. Sie hat ein Ziel und findet den Weg. Was sie noch erreichen will? Während der Jahre in der Schweiz durfte sie viele seltene Krankheitsfälle kennenlernen, weil von überall her Kinder zu dem renommierten grauhaarigen Professor Lutz von Laer anreisten. „Für meine Leute hier in Göttingen muss ich halt die grauen Haare kriegen, damit wir genügend Fälle sehen und daraus lernen“, und wieder das offene Lachen und die sympathische Art, sich selbst nicht allzu ernst zu nehmen.
Fürs Erste werden Anna und Stefan Hell in Göttingen bleiben. Plötzlich auftretendes Fernweh haben sie gemeinsam mit den vier Kindern 2018 mit einem Sabbatical in den USA gestillt. Ansonsten ist die Wahlheimat gerade der beste Ort, den sich die erfolgreiche Chirurgin denken kann. „Für eine Double Career wie bei uns ist diese Stadt einfach perfekt: nette Menschen, das Flair und die räumliche Nähe zu allem.“ƒ

Foto: Alciro Theodoro da Silva

Zur Person
Anna Hell lebt seit 26 Jahren zusammen mit ihrem Mann, dem Nobelpreisträger Stefan Hell, und ihren vier Kindern in Göttingen. Sie ist Leiterin der Kinderorthopädie des Universitätsklinikums Göttingen und hat eine von lediglich zwei Professuren in Deutschland in diesem Fachgebiet inne. Anna Hell liegt es besonders am Herzen, die Aufenthaltszeiten für Kinder im Krankenhaus so gering wie möglich zu halten und ihren kleinen und großen Patienten in ein unbeschwertes und gesundes Leben zu verhelfen. Die ehemalige Hannoveranerin liebt ihre Wahlheimat  Göttingen nicht nur wegen der kurzen Wege, sondern auch wegen der studentischen Atmosphäre. Ihren Urlaub verbringt die sechsköpfige Familie Hell inklusive Pferd Lotte gern bei steifer Brise an der Nordsee.

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