Frei wie ein Vogel

Nachdem Katja Thiele-Hann die Expansion des Bäckerei-Betriebs deutlich vorangetrieben und die Mitarbeiterzahl fast verfünffacht hat, verkaufte sie das Unternehmen – nach fast 150 Jahren in Familienhand. Ihren neu gewonnenen Freiraum füllt sie heute mit Greifvögeln und Eisklettern in luftiger Höhe und bleibt der Branche dennoch erhalten.

»Mein Leben ist heute mindestens so lebendig wie früher nur mit weniger ernsten Themen.«

Zum Unternehmen

Die Bäckerei Thiele wurde 1878 von Friedrich Wilhelm Thiele gegründet und seit 1998 von Katja Thiele-Hann in fünfter Generation geführt. In den 1950er Jahren konnte die Firma stark vergrößert werden: Lebensmittelhändler, Krankenhäuser und die Bundeswehr erhöhten den Absatz. 1979 eröffnete die erste Filiale in Grone, bis 1996 folgten weitere Zweigstellen zwischen Hannover und Kassel. 2009 wurde die Bäckerei Apel in Kassel mit 250 Mitarbeitern hinzuerworben. 2013 beginnt die Kooperation mit der AWO Göttingen. Das Projekt ,Brot-Galerie – Bestes von gestern‘ ermöglicht psychisch erkrankten Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt keine Chance haben, eine angemessene Berufstätigkeit. Im selben Jahr wird auch die Kooperationsvereinbarung ,Schulbetrieb‘ mit dem Landkreis beschlossen. Im April 2021 verkauft Katja Thiele-Hann das Familienunternehmen an das Frankfurter ,Haus der Bäcker‘. Nachdem sie im Dezember 2021 auch als Geschäftsführerin ausscheidet, gründet sie die KTH Bäckereiberatung.

www.kth-beratung.de

Richtig klar geworden ist mir die Veränderung im meinem Leben in der ersten Januarwoche dieses Jahres“, erzählt Katja Thiele-Hann mit einem ansteckenden Lächeln. Als zum ersten Mal seit vielen Jahren keine Nachrichten in den diversen WhatsApp-Gruppen der Bäckerei Thiele ankamen. Morgens waren auch keine E-Mails im Posteingang. „Ich habe direkt meinen Mann gefragt, ob mit dem Server alles in Ordnung ist.“ Natürlich war alles in bester Ordnung. Katja Thiele-Hann stand bloß – 30 Jahre nach dem Eintritt in das Familienunternehmen – nicht mehr in der Verantwortung bei der Feinbäckerei Thiele. Im April 2021 hatten ihr Mann Michael Hann und sie das Unternehmen verkauft, ebenso wie die Bäckerei Apel, die sie im Jahr 2009 dazu übernommen hatten. Beide Betriebe gehören seitdem zum Frankfurter ,Haus der Bäcker‘. Während ihr Mann schon seit dem Verkauf nicht mehr aktiv eingebunden war, begleitete die ausgebildete Konditorin Thiele-Hann das Geschehen noch als Geschäftsführerin weiter. Bis Ende Dezember des vergangenen Jahres auch damit Schluss war.

Es wirkt beinahe anrührend, dass es eine so kleine Sache wie ein leeres Postfach brauchte, um ihr den großen Einschnitt noch einmal vor Augen zu führen. Die Erklärung leuchtet ein: Seit sie das Unternehmen als 29-Jährige von ihrem Vater gekauft hat, habe sie sich eine morgendliche Routine angewöhnt. „Beim ersten Kaffee habe ich die Umsätze des Vortages angesehen und bin immer sofort alle Nachrichten durchgegangen.“ So kam bei bundesweit mehr als 85 Filialen und über 730 Mitarbeitenden meist schon in den Morgenstunden sehr viel Post zusammen, auch solche mit drängenden Problemen. Stets startete sie unter Hochdruck in den Tag, nicht selten folgten elf, zwölf oder mehr Arbeitsstunden. Auf die Frage, ob sie den Trubel vermisse, kommt die Antwort von Katja Thiele-Hann ohne Zögern: „Mein Leben ist heute mindestens so lebendig wie früher – ich muss nur weniger Probleme lösen.“

„Ein Jahr des Ausprobierens“

Und dann erzählt sie von diesem neuen, anders gefüllten Leben. „Dieses Jahr war ein Jahr des Ausprobierens. Ich habe Dinge gemacht, die früher nicht gingen, weil ich Verantwortung für unser Unternehmen und unsere Mitarbeitenden getragen habe oder weil schlicht die Zeit gefehlt hat“, erzählt Thiele-Hann. Nun aber war es an der Zeit, ihre Grenzen auszuloten. So hatte sie schon vor ihrem endgültigen Austritt Eisklettern in den Bergen in Bad Gastein gebucht. „Erst dachte ich: ,Das kannst du nicht bringen‘ und war schwer beeindruckt, als ich vor der enormen Eiswand stand“, sagt sie und lacht. „Aber gemeinsam mit einem tollen Bergführer habe ich die körperliche Herausforderung gemeistert.“ Mindestens genauso spannend sei das Abseilen aus 34 Metern Höhe von einem Aquädukt in der Nähe des Edersees gewesen.

Das Schwingen durch luftige Höhen scheint ihr Ding. Denn Thiele-Hann schaffte es im vergangenen Jahr, endlich noch eine Herzensangelegenheit zu vertiefen: ihre Leidenschaft für Greifvögel. Mehrere Tage lang versorgte sie gemeinsam mit dem Falkner im Tierpark Sababurg die Vögel bei der Greifvogelstation, säuberte Unterkünfte und half beim Training sowie bei der Flugschau mit. „Das war eine wundervolle Erfahrung, ein erhabenes Gefühl, mit den großen Tieren wie dem Weißkopfseeadler zu arbeiten“, sagt sie von Erinnerungen beseelt. Kurz darauf besuchte sie auch bei einer Dubai-Reise eine Greifvogelshow – und überzeugte kurzerhand den dortigen Falkner, sie ebenfalls als Assistentin einzusetzen. Eine zupackende Frau, die weiß, was sie will.

Vater Friedrich Wilhelm Thiele ist Vorbild für Tochter

Den neu gewonnenen Freiraum verdankt die 53-Jährige in doppelter Hinsicht auch ihrem Vater. An ihm habe sie sich ein Beispiel genommen: „Er ist ein toller Typ. In einer Branche, in der Senioren traditionell eher lange im Unternehmen bleiben, hat er als einer der Jüngsten bereits mit 57 Jahren den Betrieb an die nächste Generation übergeben.“ Auch bei der schwierigen Entscheidung, das Unternehmen – das 1878 von Friedrich Wilhelm Thiele und seiner Frau Albertine gegründet wurde – nach fünf Generationen nicht in Familienhand zu belassen, sei er ein starker Rückhalt gewesen. „Ich habe mir das nicht leicht gemacht“, erzählt sie. Als „Bäckerkind“, wie sie sich selber nennt, habe sie ab dem vierten Lebensjahr mitbekommen, wie alles funktioniert. „Mein Vater hat auch am Küchentisch viel aus dem Betrieb erzählt“, sagt Katja Thiele-Hann. Eine Trennung von Privat- und Arbeitsleben habe es nie gegeben.

Als sie den Betrieb übernommen habe, hatte er 150 Mitarbeiter. Über nahezu 25 Jahre sei sie mit dem Unternehmen gewachsen und habe das nötige Tempo für die heutige Größe Schritt für Schritt erarbeitet. „Die Familienbäckerei Thiele gibt es jetzt so nicht mehr, aber das Unternehmen lebt weiter. Von 730 Mitarbeitern sind zum Verkaufszeitpunkt nur zwei gegangen: mein Mann und ich.“ Mit diesem Gedanken im Kopf kann sie heute in eine Thiele-Filiale gehen, ohne melancholisch zu werden. „Ich muss nur aufpassen, nicht aus purer Gewohnheit direkt nach hinten durchzulaufen“, erzählt sie augenzwinkernd.

Katja Thiele-Hann ist mehrfach ausgezeichnet

Wie sehr Katja Thiele-Hann dem eigenen Betrieb und dem Bäckerhandwerk überhaupt verbunden ist, zeigt unter anderem die Tatsache, dass sie für ihre Arbeit bereits mehrfach ausgezeichnet wurde: Der damalige Vizekanzler Franz Müntefering verlieh ihr das Bundesverdienstkreuz für ihr Engagement im Bereich der Ausbildung, und nur ein Jahr später erhielt zie die Auszeichnung als Ausbildungs-Ass der IHK für die Schaffung hervorragender Ausbildungsbedingungen.

Das Kapitel Familienunternehmen mag Thiele-Hann inzwischen beendet haben, der Branche bleibt sie erhalten: Sie schreibt für den Inger Verlag Artikel für die Zeitschrift Bäckerwelt und gibt mit einer wöchentlichen Kolumne Impulse für Bäckerei-Inhaber. In ihrem kleinen Nebenprojekt, dem Podcast ,Zuckersüß ins Wochenende‘, teilte sie mit ihren Hörern in elf Folgen „heitere Beobachtungen aus dem Leben“. Um ihr umfangreiches Wissen an Bäckerinnen und Bäcker weiterzugeben, gründete sie Anfang 2022 die bundesweit aktive KTH Beratung. Nicht als Unternehmerin, sondern „nur“ als Selbstständige, wie sie betont – Mitarbeiterzahl: eins. Mit Messe-Besuchen und zahllosen Stippvisiten in Betrieben, auch außerhalb ihrer Beratungstätigkeit, hält sie engen Kontakt zur Branche und bleibt thematisch auf der Höhe der Zeit. „Ich sehe mir nahezu jede Bäckerei an, an der ich vorbeikomme“, sagt sie. Das sei schon immer so gewesen, auch auf Reisen im Ausland, denn jedes Land habe „eine individuelle Bäckerei-Kultur“. Zu ihren Lieblingsprodukten gehören Schweizer Brot mit dunkel ausgebackener Kruste, Zimtschnecken in Skandinavien und die unglaublichen Mengen an Baguette in Frankreich.

Bäckerbranche vor großen Herausforderungen

„Ihre Branche“ stünde vor großen Herausforderungen, der Beratungsbedarf sei enorm. „Frühere Probleme wirken heute wie Problemchen, heute ist Krise.“ Durch steigende Kosten für Mieten und Energie und Schwierigkeiten in den Lieferketten würden Betriebsergebnisse schlechter. Viele Familien müssten sich fragen, ob sie gemeinsam bereit sind, durch diese Zeit zu gehen. Die angespannte Personalsituation verschärfe die Lage. „Das Thema Personal ist in der Beratung und in meinen Artikeln ganz zentral“, sagt Thiele-Hann. „Das war immer meine Stärke, und in diesem Bereich habe ich aus meiner Sicht dem eigenen Unternehmen besonders gedient.“ Menschliche Nähe sei ein Pfund, mit dem kleinere Betriebe wuchern könnten: Sie hat gute Erfahrungen damit gemacht, selbst in Bewerbungsgesprächen zu sitzen, neuen Mitarbeitenden Produktionsbesichtigungen anzubieten und Schulungen selber durchzuführen. „Ich habe regelmäßig Fahrer auf ihren Touren begleitet. Die waren dann oft sehr erstaunt, wenn ich im Morgengrauen mit dickem Pullover und Turnschuhen am LKW stand und mitfahren wollte“, erzählt sie. „Das ist sinnvoll investierte Zeit. Die Fahrer bekommen in allen Filialen auf ihrer Tour mit, was los ist. Als Unternehmer erhalten sie so ungeahnt gute Einblicke.“

Die Frage, ob es in zehn Jahren noch Bäckereien geben werde oder Backwaren dann nur noch in Supermärkten erhältlich seien, beantwortet sie so: „Für eine Zukunft mit handwerklich hergestellten Backwaren sind Unternehmer nötig, die den Mut haben, ihr Sortiment zu verkleinern und Öffnungszeiten zu kürzen.“ Aber auch die Kunden müssten treu zu ihrer Stammbäckerei stehen. „Ich wünsche der Branche Kunden, die nicht am Abend noch das volle Sortiment erwarten und die akzeptieren, dass es Spezialprodukte nur an bestimmten Tagen gibt.“ Obwohl Katja Thiele-Hann und ihr Mann mittlerweile einen Zweitwohnsitz in Hamburg haben, sind sie Göttingen und der Region immer noch eng verbunden, die sie als umtriebige Netzwerkerin und erste weibliche Kreishandwerksmeisterin des Landes Niedersachsen von 2007 bis 2014 mitgeprägt hat – so erfolgreich, dass sie nach ihrem Rücktritt einstimmig zur Ehrenkreishandwerksmeisterin gewählt wurde. Auch über ihren „geliebten“ Club der Göttinger Wirtschaft hält sie weiter den Kontakt. „Bei den Exkursionen des Clubs in die Unternehmen lerne ich tolle Hidden Champions kennen“, erzählt Thiele-Hann. „Ich erfahre, was Unternehmer aus anderen Branchen in ihrem Alltag umtreibt.“ Für diese stünde sie auch gerne als Sparringspartnerin zur Verfügung, unentgeltlich, als „Göttingerin für Göttinger“.

Nach den Wünschen für sich selbst gefragt, antwortet sie: „Ich würde mir vor allem wünschen, dass ich bald wieder so viel reisen kann wie vor Corona.“ Sonst sei sie mit ihrem ,neuen‘ Leben sehr zufrieden. Ohne sie nach ihrer Lieblingsbackware zu Weihnachten zu fragen, konnten wir das Gespräch mit dem ,Bäckerkind‘ nicht beenden. Nach kurzem Überlegen legt sie sich fest: „Zimtsterne mag ich sehr gern – sie selbst zu backen, ist allerdings eine Strafarbeit.“ Sie habe zwar Freude am Backen, aber nicht zu Hause. „Mit Mengen unter 160 Kilogramm“, sagt Thiele-Hann noch lächelnd, „kann ich nicht so gut umgehen.“ ƒ

Fotos: Alciro Theodoro da Silva
Zur Person

Katja Thiele-Hann kommt 1969 in Göttingen zur Welt. 1988 beginnt sie eine Ausbildung als Konditorin in Hannover. Nach einer weiteren Ausbildung zur Industriekauffrau bei der Tchibo GmbH tritt sie 1993 in das Familienunternehmen Feinbäckerei Thiele ein, das sie fünf Jahre später mit nur 29 Jahren von ihrem Vater kauft. Gemeinsam mit ihrem Mann baut sie das Unternehmen von 150 auf mehr als 730 Mitarbeitende in 86 Filialen aus – unter anderem mit dem Kauf der Bäckerei Apel im Jahr 2009. Für ihre Arbeit erhält Thiele-Hann im Jahr 2007 die Auszeichnung als Ausbildungs-Ass der IHK für die Schaffung hervorragender Ausbildungsbedingungen. Im selben Jahr verleiht ihr der damalige Vizekanzler Franz Müntefering das Bundesverdienstkreuz. Von 2007 bis 2014 ist sie die erste weibliche Kreishandwerksmeisterin des Landes Niedersachsen und seit ihrem Rücktritt Ehrenkreishandwerksmeisterin.

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