Im Interview mit Ute Eskildsen – Kunsthaus Göttingen
Gedanken in Bilder verwandeln
Es ist ein warmer schwüler Sommertag. Nach den Monaten der Pandemie leuchtet Göttingen in allen Farben. Alle paar Meter könnte ein Fotograf Schnappschüsse machen: von Studentinnen in bunten Sommerkleidern oder von Familien, die geduldig für ein Eis anstehen. Klick, und schon wartet das nächste Bild. In der Düsteren Straße ist die Musik vom Marktplatz nicht mehr zu hören. Wenige wandern die Gasse entlang. Ein ungewöhnliches, taupefarbenes Haus lässt fast alle abrupt innehalten: Feine vertikale Linien durchziehen die Fassade, die einzig von zwei kleinen schmalen Fenstern und dem Eingang unterbrochen wird. Eine junge Frau streicht sanft mit ihrer Hand die Rillen an der Außenwand entlang. Es ist das neue Kunsthaus, initiiert von Verleger Gerhard Steidl. Drinnen wartet Gründungskuratorin Ute Eskildsen zum Gespräch, ein idealer Tag, um über Kunst und Fotografie zu reden – ihre Steckenpferde. Als renommierte Fotografin und Fotohistorikerin war Eskildsen bis zu ihrer Pensionierung vor neun Jahren stellvertretende Direktorin des Museum Folkwang in Essen. Von dort ist die zierliche 74-Jährige heute auch bereits angereist. Gerade hat sie eine Gruppe durch die aktuelle Ausstellung geführt, schon klettert sie rasch die Treppe aus Beton hinauf bis ins Dachgeschoss. Zeit zu verlieren, ist ihre Sache nicht.
Frau Eskildsen, als Kuratorin begegnen Ihnen sicherlich über den Tag immer wieder Bilder, an denen der Blick hängen bleibt. Gab es heute schon einen solchen Moment?
Den gab es tatsächlich. Ich habe im Zug gesessen und auf dem Weg hierher zugeschaut, wie zwei kleine Mädchen einen Karton Donuts verspeisten – und das in Windeseile.
Sie leben in Essen, einer von der Industriekultur geprägten Region. Wie nehmen Sie Göttingen wahr?
Ich bin schon früher häufiger in Göttingen gewesen – für eine Katalogproduktion vom Steidl Verlag für das renommierte Museum Folkwang in Essen, wo ich auch die Fotografische Sammlung geleitet habe. Aber um ehrlich zu sein, habe ich Göttingen noch nicht wirklich kennengelernt. Ich bin, wenn ich durch die Straßen gehe, immer ganz erfreut: Es ist eine Studentenstadt mit sehr vielen jungen Leuten. Ich lebe in Essen in dem Viertel, in dem auch die Folkwang Universität der Künste liegt, also in einem Quartier mit vielen jungen Menschen, insofern hat es eine gewisse Ähnlichkeit.
Sie sind bekannt dafür, dass Sie das historische Erbe der Fotografie und die Gegenwartsfotografie gleichermaßen schätzen. Inwiefern hat dies Ihre Aufgabe im Kunsthauses Göttingen geprägt? Was erwartet die Besucher?
Als Gründungskuratorin habe ich ein inhaltliches Konzept für das Kunsthaus entwickelt – es ist ja ein Ausstellungsort und kein Museum –, und wir haben uns dann gemeinsam für die Konzentration ,Works on paper‘ entschieden, also auf die Konzentration Arbeiten auf Papier. Dazu gehören Skizzen, Zeichnungen, Plakate, Grafiken und Collagen. Aber auch Fotografien und Bücher. Das Buch ist ein ganz wichtiges Medium in der zeitgenössischen Kunst, und wir orientieren uns an der Gegenwartskunst. Nun kommt hinzu, dass wir für dieses Gebiet die Expertise von Gerhard Steidl haben, dem Gründungsdirektor des Kunsthauses. Geplant sind drei bis vier Ausstellungen im Jahr. Und für die Abbauzeit, also den Zeitraum zwischen zwei großen Ausstellungen, haben wir uns für die Galerie im Erdgeschoss für das Programm ,Inbetween‘ entschieden. Damit kann man auch ad hoc reagieren, wenn kurzfristig etwas angeboten wird. Und weil Sie mein historisches Interesse erwähnten: Für die Inbetween kann ich mir sehr gut vorstellen, dort auch selbst einmal eine historische Referenz geben zu können.
Sie haben als Kuratorin die Fotografische Sammlung im Museum Folkwang als eine der europaweit führenden aufgebaut. Welche Möglichkeiten gibt ihnen die Kunst auf Papier in Göttingen?
Dass man Werke zusammenbringen kann, die man vorher noch nicht zusammen gesehen hat. Und ich finde es sehr schön, so ein kleines Haus zu gestalten. Hier lässt sich eine Anschaulichkeit entwickeln, die in gewisser Weise auch ein bisschen bescheidener daherkommen kann, und man kann sich flexibel einrichten. Sie können zum Beispiel einmal sagen, die Ausstellung, die ich für jetzt geplant habe, mache ich ein Jahr später. Das können Sie in einem großen Haus nicht. Dort sind ein längerer Vorlauf und höherer Aufwand im Spiel.
Wie kam es zur Auswahl der ersten Ausstellungen der amerikanischen Künstlerin Roni Horn?
Roni Horn ist eine großartige internationale Künstlerin, und ich denke, man muss gleich mit dem, was man anstrebt, beginnen. Denn dies ist nicht nur ein regionales oder nationales Ausstellungshaus. Hinzu kommt, dass Roni Horn in allen Medien unserer Ausrichtung arbeitet. Sie macht wunderbare Bücher, arbeitet mit Fotografien und auch im Bereich Grafik. Insofern fand ich ihr Werk für die Eröffnung des Hauses prädestiniert. Obendrein ist sie eine Künstlerin, deren Arbeitsgrundlage immer wieder die Diversität ist, die auffordert, Unterschiede zu denken. Diese Qualität passt gut in unsere Zeit.
Gibt es neben dem ,Arbeiten auf Papier‘ noch weitere, inhaltliche Schwerpunkte im Konzept?
Die Medien sind ja schon eine Eingrenzung. Ich glaube, die Inhalte muss man offenlassen, das wäre sonst zu eingegrenzt. Es gibt ja interessante Möglichkeiten, ein bestimmtes Thema in zwei Medien zu zeigen. In der nächsten Ausstellung, die ich im Kunsthaus kuratiere – ,Modell Tier‘ – werden beispielsweise neun internationale Künstler gezeigt, die sich mit dem Tier auseinandersetzen. Unter anderem ist ein Illustrator dabei, der für wunderbare Kindertierbücher berühmt ist: Wolf Erlbruch. Dann aber auch eine Israelin mit Videoprojektionen ihrer nächtlichen Beobachtungen von Schakalen. Sie sehen, auf diese Weise wird die Konzentration auf das Papier hier und da auch mal durch Videos erweitert.
Kann man bereits von einer speziellen Handschrift sprechen – auch mit Blick auf andere Häuser. Wo ist das Kunsthaus Göttingen verortet?
Erst einmal haben wir mit der Reduktion der Medien ein Alleinstellungsmerkmal. Und wir schauen auf nationale, regionale und internationale Künstlerinnen und Künstler. Wir müssen natürlich zuerst einmal versuchen, das regionale Publikum mitzunehmen. Die bisherige Presse zeigt aber, dass wir eine nationale Ausstrahlung haben.
Vielleicht muss sich der Schwerpunkt erst organisch entwickeln.
Unbedingt. Das ist ganz wichtig, um die Kunstszene überhaupt zu erreichen. Man muss sich erst einmal ein Renommee – ein Niveau – erarbeiten.
Bei Ihrer folgenden Ausstellung ,Modell Tier‘ sind auch Naturschutzbiologen der Universität Göttingen eingebunden.
Das habe ich von Anbeginn vorgehabt. Ich habe, als ich die erste Zeit in der Planung war, verschiedene Abteilungen der Universität besucht. Beispielsweise gibt es in der Uni-Bibliothek das Buch-Gesamtœuvre von Edward Curtis, einem Fotografen, der die Ureinwohner Nordamerikas systematisch dokumentiert hat. Es ist angedacht, dieses Werk mit heutigen Dokumentarfotos zu verbinden. Ich würde sehr gern weitere Kontakte zur Universität suchen, um mögliche Kooperationen zu entwickeln.
Um noch einmal auf den Bau einzugehen – Sie sagten, Sie hätten sich sehr viel mit der Architektur beschäftigt. Was war Ihnen dabei wichtig?
Besonders wichtig ist mir, dass die klimatischen Bedingungen eingehalten werden. Und die Lichtsituation, die ist auch auf dem neuesten Stand. Das Architektenteam aus Leipzig hat sich erfolgreich bemüht, die Funktion in den Vordergrund zu stellen. Sprich, die Architektur stellt sich auf die Kunst ein und nicht andersherum. Es ist eine sehr funktionale Architektur. Es gibt Blicke nach außen. Einige Leute wundern sich sicher über die wenigen Fenster, aber Arbeiten auf Papier vertragen nicht viel Licht. Wenn Sie durch das Haus gehen, finden Sie immer wieder Ausblicke, diese können aber geschlossen werden, wenn sehr empfindliche Werke ausgestellt sind. Das ist gut gemacht, und alle Fensterscheiben sind vor UV-Licht geschützt.
Das Haus musste sich aber auch in die historischen Bauten der Straße integrieren.
Es gab eine Bauphase, in der ich mich fragte: Wird es zu hoch, zu massiv? Ich finde, das Kunsthaus fügt sich sehr schön in die Häuserzeile ein. Es springt nicht hervor, was die wunderbar abgestufte Fassade unterstützt.
Die letzte Bauphase und die Eröffnung waren schon zu Zeiten der Corona-Pandemie. Hat die Krise denn auch die Ausstellungsprojekte verändert? Den Blick?
Nein, die Konzepte der ersten Ausstellungen stehen ja, dabei ist es auch geblieben. Und das mit dem Blick wird sich erst zeigen.
Sie sehen ja sehr viel Kunst. Haben sich Ihrer Meinung nach die Themen verändert?
Ich glaube schon, dass es eine ganze Reihe von zeitgenössischen Künstlern gibt, die die Auswirkungen beziehungsweise die Situationen der Pandemie zum Thema machen. Das wird jetzt sukzessive sichtbar und auch ausgestellt werden. Ich glaube, dass wir neue Ideen brauchen. Wohin soll unsere Gesellschaft gehen? Das bezieht sich nicht nur auf die Kunst. Aber sie ist ja immer auch eine tragende Kraft, die Veränderungen frühzeitig aufnimmt und sich mit gesellschaftlichen Problemen auseinandersetzt. Ich denke, man sollte an die Kunst jedoch nicht direkte politische Anforderungen stellen. Es gibt ja subtile Formen, in denen zum Ausdruck kommt, was die Krisenzeit bewirkt hat, ohne dass gleich eine neue soziale Perspektive entworfen wird.
Viele Ausstellungshäuser ermöglichen mittlerweile ja auch, dass man digital durch die Räume geht.
Das wird es immer mehr geben. Ich kann mir bestimmte Ausstellungen auch gut in digitaler Form vorstellen, weil die Kamera heranfahren kann, was dem Betrachter bei vorgegebenem Abstand im Museum nicht möglich ist. Ich glaube jedoch, die Wahrnehmung eines Kunstwerks vor Ort, wie auch immer das Original beschaffen ist, ist grundsätzlich nicht ersetzbar. Es sei denn, Künstler konzentrieren sich gleich auf das Netz. Das ist dann aber ein anderer Bereich der Kunst. Daher wird es vermutlich zukünftig zunehmend eine Mixtur zwischen Ausstellungsbesuch und digitaler Dokumentation geben.
Wie würden Sie das Besondere beschreiben, wenn man vor einem Kunstwerk steht? Was ist der Unterschied, wenn man es im Internet sieht?
Sie haben dann ja immer den zweidimensionalen Bildschirm und bekommen kein Gefühl für Materialität. Das ist doch ein immenser Unterschied: So wie ich Sie jetzt live vor mir anschaue oder Sie auf einem Monitor. Das ist etwas völlig anderes.
Was ist es, das Sie bis heute und auch weiterhin antreibt, Ausstellungen zu kuratieren und Bücher herauszugeben?
Es ist das Interesse an der Transformation von Gedanken in Bilder, an visuellen Formulierungen – und es ist meine Freude, mit Künstlerinnen und Künstlern zu arbeiten und dies alles unseren Besuchern mitzuteilen.
Vielen Dank für das Gespräch
Fotos: Alciro Theodoro da Silva
Zum Kunsthaus
Das Kunsthaus Göttingen mit dem Schwerpunkt zeitgenössische Kunst wurde im Juni 2021 eröffnet. Die Idee hatte Verleger Gerhard Steidl bereits fünf Jahrzehnte zuvor. Ab 2008 unterstützte ihn der damalige Göttinger Oberbürgermeister Wolfgang Meyer. Gemeinsam definierten sie das Haus als Mittelpunkt eines zu entwickelnden Kunstquartiers. Die Stadt erhielt dafür Fördermittel des Bundes in Höhe von 4,5 Millionen Euro. Der Duderstädter Unternehmer Hans Georg Näder unterstützte den Bau mit einer Million Euro, dazu kamen weitere Spender. Sartorius wurde Hauptsponsor und ermöglicht den freien Eintritt. Neben dem Kunsthaus entstand außerdem ein Atelier des amerikanischen Künstlers Jim Dine
Zur Kuratorin
Ute Eskildsen studierte Fotografie und Fotografiegeschichte an der Folkwang-Schule für Gestaltung, Essen. Danach arbeitete sie als freie Fotografin und Assistentin von Otto Steinert, einem der bedeutendsten Fotografen der Nachkriegszeit. Nach einem Arbeitsaufenthalt am International Museum of Photography (USA) war sie von 1979 bis 2012 Kuratorin für Fotografie am Museum Folkwang, Essen. Dort baute sie die Fotografische Abteilung auf und initiierte mehrere Nachwuchs-Förderprogramme. Ab 1991 war Eskildsen stellvertretende Direktorin des Museums. 2012 bis 2015 lehrte sie als Gastprofessorin an der University of Wales, Großbritannien. Sie veröffentlichte zahlreiche einschlägige Publikationen zur Fotografie. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Zwischenkriegszeit, den 1950er-Jahren und der zeitgenössischen Praxis.