Der Meister der Schatten

Tadashi Endo kam vor fast 50 Jahren aus Japan nach Göttingen – und blieb. In seinem Leben hat der Butoh-Tänzer einiges erfahren, was er mit seinem Körper auf eindrucksvolle Weise erzählen kann. Der 71-Jährige weiß um die Philosophie des Tanzes, die Bedeutung von Licht und Schatten und warum wir alle mehr träumen sollten.

„Butoh ist für mich ein Leben es ist nicht allein Tanzkunst, es ist mehr“

Ein großer, heller, freier Raum. Tadashi Endo ist hinter einem langen Vorhang verschwunden, um die Verwandlung vom alltäglich gekleideten Mann in dunkler Hose und dunklem Hemd hin zu einem alterslosen Butoh-Tänzer zu vollziehen. Es wird einige Zeit dauern … Denn beim Butoh wechseln die Tänzer nicht einfach die Kleidung, sie überziehen vielmehr ihren gesamten Körper mit einer weißen, cremigen Paste und werden zum Butoh, dem ,Tanz der Finsternis‘. Endo kommt zurück – in einem roten Kimono, mit weißer Haut und einem maskenhaft geschminkten Gesicht nach japanischer Tradition. Als die Musik mit leisen, zarten Klängen einsetzt, passiert etwas Erstaunliches: Endos Körper erzählt eine Geschichte, nicht übersetzbar in Sprache, nur fühlbar mit dem Herzen. Aller Schmerz, alle Verzweiflung, aber auch Leichtigkeit durchfließen ihn und lassen die Musik und den Tanz ineinander verschmelzen.

Aus Japan nach Göttingen

„Butoh ist für mich ein Leben – es ist nicht allein Tanzkunst, es ist mehr“, sagt der 71-Jährige später. Zunächst will es scheinen, als habe er tatsächlich in seinem Leben nie etwas anderes gemacht, als sich in diesem Tanz auf den Bühnen der Welt auszudrücken. Doch die Realität schrieb ein anderes Drehbuch: Tadashi Endo wurde 1947 als Japaner in Peking geboren und wuchs als Sohn eines Lehrers in Tokio auf. Sein großer Traum stand bereits früh fest. Er wollte Schauspieler sein. Er wollte auf der Bühne stehen, so wie bereits in Kinder tagen, und Stücke inszenieren, wie er es beim Studententheater tat. Die späten 1960er-Jahre in Japan waren jedoch von politischen Unruhen geprägt. Junge Menschen gingen zu Tausenden auf die Straße – so auch der 22-jährige Endo, der sich in der Studentenorganisation engagierte.

Überzeugt von seinen Ideen inszenierte er ein Theaterstück, welches dem Präsidenten der Universität „enorme Schwierigkeiten einbrachte“, wie er es heute nennt. Es war die Zeit, als sich die japanische Jugend gegen die Stationierung amerikanischer Soldaten auf den Okinawa-Inseln auflehnte. Es war die Zeit, als der Schock von Hiroshima und Nagasaki noch immer nachhallte. Diese Hintergründe zu sehen, ist wichtig, wenn man die Kunst des Butoh-Tanzes verstehen will – und damit auch Tadashi Endo. „Nachdem ich auf einer Demonstration in Tokio festgenommen wurde und darauffolgend 24 Tage in Untersuchungshaft saß, stellte mein Vater mir die entscheidende Frage“, erzählt er heute rückblickend. „Tadashi, was willst du machen? Willst du weiter kämpfen und Revolution machen? Oder willst du Theater spielen? – Dann geh, und versuch dein Glück im Ausland.“ Endo ging. Er verehrte Bertolt Brecht und kam nach Deutschland.

Zunächst lernte Endo am Goethe-Institut in Brilon und Passau die deutsche Sprache, um dann 1973 für drei Jahre nach Wien zu gehen, wo er am Max-Reinhardt-Seminar Regie studierte. Im Anschluss kam er nach Göttingen und arbeitete für mehrere Jahre in wechselnden Engagements als Regisseur und Schauspieler am Deutschen Theater und am Jungen Theater – Aber: „Ich fühlte mich wie ein Bankangestellter und nicht wie ein Künstler“, erklärt Endo und suchte nach neuen Formen einer künstlerischen Verwirklichung. Einen Weg fand er in der Improvisationskunst der Performance. Mehrere Jahre stand er zusammen mit berühmten Jazz-Ikonen wie Gunter Hampel, Günther Baby Sommer, Toshinori Kondo, Conny Bauer, Aki Takase, Itaru Oki – um nur einige zu nennen – auf der Bühne und tanzte auf großen Jazz-Festivals wie den New-Jazz- Festivals in Moers, Wilisau (Schweiz) und Leverkusen. „Dieser Weg wurde für mich immer interessanter, und ich fühlte: Ich lebe wirklich als Künstler.“

Endo erzählt gern aus seinem Leben, lässt hier und da eine Anekdote einfließen, erinnert sich an Menschen, an berühmte Schauspieler wie Christoph Walz, der mit ihm in Wien studierte, oder Jan Josef Liefers, mit dem er vor einigen Jahren für eine perfekte Szene im Film Tea Tattoo eine ganze Nacht im japanischen Teehaus am Set in München verbrachte. Oder an den Kinofilm Jim Knopf und der Lokomotivführer, der erst in diesem Jahr in die Kinos kam und in welchem Endo einen Chinesen spielt. „Ich bekam lange Haare, einen langen Bart und falsche Zähne“, erzählt er lachend und zugleich kopfschüttelnd ob der übertriebenen Überzeichnung dieser Figur. Der Film jedoch, durch den er vor einigen Jahren in Deutschland und über die Grenzen hinaus bekannt wurde, ist ‚Kirschblüten – Hanami‘ unter der Regie von Doris Dörrie, der 2008 auf der Berlinale Premiere feierte. „Aber berühmt fühle ich mich eigentlich nicht“, sagt Endo. „Nur kennen viele Leute meinen Namen.“ Und tatsächlich lassen sich bei ihm keine Starallüren erkennen. Gelassen sitzt er zum Interview an seinem angestammten Platz im gemütlichen Sessel in seinem Wohnzimmer – in japanischen Pantoffeln, die für jeden Hausgast obligatorisch sind. Seine Ehefrau Gabriele, die gleichzeitig auch seine Managerin ist, bringt Gebäck und Kaffee in einer großen Thermoskanne. Es ist wie zu Gast bei Freunden.

Butoh-Anfänger mit 42 Jahren

42 Jahre war Endo alt, als er bei Kazuo Ohno – der 2010 verstorbenen, japanischen Butoh-Legende – seinen ersten Butoh-Workshop besuchte. Er kannte die Tanzrichtung noch aus seiner eigenen Jugend, kam jedoch nie näher damit in Berührung. „Meine Frau hatte damals für mich den Workshop in Wien gebucht und bereits bezahlt – ich hatte also keine Wahl“, sagt er augenzwinkernd, während sie, die ‚Schuldige‘, neben ihm sitzt und zustimmend nickt. „Kazuo Ohno kennenlernen wollte ich schon, aber mehr war es damals nicht.“ Doch wie sich schnell zeigte, sprachen diese beiden Japaner nicht nur wörtlich genommen dieselbe Sprache, es verband sie mehr. Er bestärkte Endo, in Göttingen ein eigenes Butoh-Centrum zu eröffnen, und versprach, ihn zu unterstützen.

Nur drei Jahre später, 1992, gründete Tadashi Endo das Butoh-Centrum MAMU und gibt seitdem jedes Jahr zwei Workshops – einen im Winter und einen im Sommer –, zu denen Interessierte aus aller Herren Länder anreisen: aus Mexiko, Brasilien, Israel, Skandinavien und natürlich aus ganz Deutschland. „Es gibt da zum Beispiel eine inzwischen 92-jährige Dame, die seit vielen Jahren immer wieder aufs Neue die Reise vom Chiemsee nach Göttingen auf sich nimmt“, erzählt Endo nun doch ein wenig stolz. Für Butoh spiele das Alter keine Rolle. Entscheidend sei, sich auf diese Form des Tanzes einzulassen, loslassen zu können und den Körper in eine Art Trance zu führen. „Als Erstes lernen meine Teilnehmer, ihren Körper zu befreien. Das heißt, sich einfach ohne Form zu bewegen und frei zu improvisieren“, so der Butoh-Meister. „Der Tanz ist nicht immer nach außen gerichtet, sondern manchmal geht es gerade darum, gar nichts zu machen – einfach nichts zu tun und trotzdem präsent zu sein.“ Für Endo ist der Körper eine Naturlandschaft. Und die Natur ändert sich ununterbrochen. „Die Frage ist also: Wie tanzt du den Frühling und wie hingegen den Winter?“

Wenn Endo erzählt, ruhen seine Hände nie. Sie scheinen Teil einer Inszenierung zu sein, bringen zum Ausdruck, was seinen Worten Nachdruck verleiht. Auch sein Gesicht lebt, während er spricht. Es ist wunderbar, ihm zuzuhören und zuzusehen. Alles ist Schauspiel und dennoch wahr. Da ist keine Angst, sich zu zeigen, auch außerhalb des Rampenlichts. „Ich glaube nicht, dass sich meine Art, mich zu bewegen, durch Butoh geändert hat“, sagt Endo. „Butoh bietet keine feste Form und Technik wie das klassische Ballett. Aber die Sichtweise, wie ich mein Leben beobachte oder auch die Welt, die ist eindeutig anders geworden.“

Früher, also bevor er 1989 zum Butoh kam, hat er sich bei der Arbeit stets am Schönen, an der Schönheit orientiert. „Ich habe in der Kunst immer die Lichtseite und schöne Ästhetik gesucht“, erzählt der Japaner. „Heute interessiert mich mehr die dunkle Seite oder auch das etwas Schmerzhafte.“ Was Endo erzählt, wirkt zunächst befremdlich – sind doch die meisten Menschen in ihrem Alltag nicht bestrebt, zusätzliche Schattenseiten zu finden, auch wenn jeder weiß, dass sie zum Leben dazugehören.

Doch Endo ist der Überzeugung, dass diese in seinem Leben sogar 80 bis 90 Prozent ausmachen. „Deshalb ist das Licht ja so wichtig“, sagt er, „damit wir nicht vollkommen im Dunkel verschwinden.“ Licht und Schatten. Das Schöne und das Hässliche. So wie auch Yin und Yang zusammengehören. Jedoch, und das kritisiert Endo, orientiert sich der Begriff der Ästhetik viel zu oft allein an der Welt des Schönen. Er geht sogar noch weiter und fragt, ob der Ursprung nicht vielmehr immer im Hässlichen zu finden ist: „Wenn ein neugeborenes Baby aus dem Mutterleib kommt, in diesem ersten Moment – wie sieht es da aus? Ein Affengesicht, faltig und blutig.“ Endo krampft seine Hände zusammen, er gleicht sein Gesicht diesem kleinen Affengesicht an, geht in seinem Schauspiel vollkommen auf und stellt den ersten Moment des Gewahrwerdens des Lebens nach – den Augenblick der Geburt. „Dieser erste Moment – das ist doch unsere Ästhetik. Und genau das ist Butoh“, sagt er und lehnt sich wieder entspannt in seinen Sessel zurück.

So wie die Jahreszeiten wechseln und der Zyklus Leben, Tod und Wiedergeburt als natürlichen Kreislauf abbildet, so gehört der Tod auch zum Leben der Menschen dazu. Die abendländische Kultur tue sich damit etwas schwer, aber in Japan, so erzählt Endo, gibt es einen Feiertag am 15. August, an dem die Toten auf der Welt empfangen und begrüßt werden. „Ich habe zwar keine Angst, aber ich möchte auch nicht sterben. Andererseits bin ich so neugierig, was der Tod ist. Und ich bin neugierig auf diese Schattenseite, von der ich nichts weiß, die ich aber erahnen kann.“

Dieser traditionell andere Umgang mit den Verstorbenen macht es ihm vielleicht leichter, auch hier freier zu denken. Endo erinnert sich an seinen viel zu früh verstorbenen Bruder Hiroshi, dem er einmal in einem Traum begegnete: „Ich nahm ein Telefon und habe ihn angerufen. Ich sprach mit ihm, bis mir plötzlich bewusst wurde, dass ich ja mit meinem toten Bruder sprach.“ Aber Hiroshi habe ihm einfach geantwortet: ‚Wenn ihr mich anruft, kann ich jederzeit sprechen. Ich bin da. Ich kann euch nur nicht anrufen.‘ Diese Erkenntnis, dass die Traumwelt der Lebenden der einzige Ort sei, um verstorbenen Menschen zu begegnen, habe den Tänzer der Finsternis stark bewegt. „Wir müssen viele Träume träumen. Die Toten warten jederzeit.“ Dieser Satz, den er einst auch zu Doris Dörrie sagte, war übrigens der Anlass für die Regisseurin, das Drehbuch zu ,Kirschblüten – Hanami‘ zu schreiben.

Der Tod mitten im Leben

Doch auch, wenn der Tod immer „mittendrin“ ist, wie Endo sagt, so hindert er ihn nicht daran, das Leben in vollen Zügen zu genießen und seine Zukunft zu planen. Wenn er nicht auf der Bühne steht oder in seinem Garten hinterm Haus in Diemarden seinen morgendlichen Butoh-Tanz praktiziert, schaut er leidenschaftlich gern Sport im Fernsehen oder steht als Hobbykoch in seiner Küche und bereitet original japanische Speisen zu. Zu häufig wird dies im kommenden Jahr jedoch nicht vorkommen. Er lacht und blickt zu seiner Frau: „Meine Managerin hat mich voll ausgebucht.“ Ihre 45-jährige Ehe hat sie beide zu einem gut eingespielten Team wachsen lassen. Mindestens ein halbes Jahr lang werden sie mit einem Soloprogramm und Workshops zusammen durch Brasilien, die USA und Kanada touren. Auch wird Endo seine Workshop-Reihe in Göttingen weiter fort setzen und im Juli 2019 erneut am Bach- Butoh-Projekt auf dem Bach-Festival in Ansbach mitwirken – einem laufenden Programm mit dem ‚Ensemble Resonanz‘, bei welchem klassische Musik und Butoh-Tanz einen inspirierenden Kontrast bilden.

Und dann hat das Ehepaar auch schon das Jahr 2022 fest im Visier, denn zwei große Jubiläen stehen an. Bereits 1992 organisierte Endo das erste ‚Int.-Festival MAMU Butoh & Jazz‘ in Göttingen, ermutigt von seinem Mentor Kazuo Ohno. Der damals bereits 86-jährige flog dazu extra mit seinem Sohn aus Japan hierher, um seinen Schüler auch mit seinem berühmten Namen zur Seite zu stehen. In vier Jahren wird das Butoh-Centrum MAMU 30 Jahre alt, und das soll mit dem zehnten Festival groß gefeiert werden – ebenso wie Tadashis 75. Geburtstag. Er hat noch viel vor – und es gäbe noch so viel zu erzählen. „Es ist meine Art, dass ich immer viel zu viel rede“, sagt der Meister des Butoh fast entschuldigend zum Abschied. Doch Licht und Schatten, die Kunst, sich mit der Welt auf besondere Weise auseinanderzusetzen – das alles bewegt ihn immer weiter.

Fotos: Alciro Theodoro da Silva
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