Der Mann mit dem Mond

Thorsten Kleine, Direktor am Max-Planck-Institut in Göttingen, hat das Alter unseres Erdkerns neu bestimmt. Dennoch ist der mehrfach ausgezeichnete ,Planetenwissenschaftler‘ auf dem Boden geblieben und erzählt, warum Forschung immer auch etwas Glück braucht und er trotz der Liebe zu den Sternen nicht ins All fliegen will.

„Die Größe des Sonnensystems und wie alles ineinandergreift, macht es noch besonderer, was wir hier auf der Erde haben und wir sollten alles daransetzen, dieses Wunder zu schützen.“

Beeindruckende Forschung
am MPI

Die Arbeiten Thorsten Kleines führen zurück zu den Anfängen des Sonnensystems. In der Geburtsstunde unserer kosmischen Heimat kreiste eine Scheibe aus Gas und Staub um die junge Sonne. Die Staubkörnchen ballten sich zunächst zu größeren Brocken zusammen, den sogenannten Planetesimalen, aus denen später die Planeten entstanden. Diese Planetesimale bildeten sich, anders als lange Zeit angenommen, an zwei verschiedenen Orten der Staubscheibe, und beide Populationen entwickelten sich zunächst unabhängig voneinander. Erst nach mehreren Millionen Jahren führte das weitere Wachstum des Jupiters beide Gruppen wieder zusammen. Diese Ergebnisse legen nahe, dass Meteoriten Material enthalten, das ursprünglich weit jenseits der Jupiterbahn im äußeren Sonnensystem entstanden ist.

Auch auf die Entwicklung der Erde samt Mond werfen Kleines Arbeiten ein neues Licht. So sammelte unser Planet wohl bereits in seiner Hauptwachstumsphase – und somit früher als gedacht – wasserreiches Material an. Der Mond ist, wie jüngste Ergebnisse zeigen, mit 4,425 Milliarden Jahren relativ jung. Forscherinnen und Forscher gehen davon aus, dass er aus dem gewaltigen Zusammenprall der Erde mit einem etwa marsgroßen Körper hervorging. Wie genau dieser Prozess ablief, ist jedoch noch immer unklar.

Ein Scheibchen vom Mond liegt vor uns auf dem Tisch. „Ich weiß noch, wie ich als Dok­torand das erste Mal ein Mondgestein untersuchen durfte – das war irre“, erzählt Thorsten Kleine und strahlt. Das Mondstückchen ­befindet sich in einer durchsichti­gen Plastikschachtel und zeigt Bruchstücke von der Oberfläche. Die Magie ist spürbar. Es sind Funde wie diese, die seine Augen leuchten lassen. Daneben liegt ein aufgeschnittener Meteorit mit einem weißen, aus­gefransten Fleck in der Mitte. Was zu sehen ist, ist ein Einschluss, der so alt ist wie unser Sonnensystem: 4,567 Milliarden Jahre. Allein Stücke wie diese sind es, die uns Auskunft geben, wann und wie sich unser Sonnensystem entwickelt hat.
„Ab und an gelangen solche Gesteinsbruchstücke, die uns eine Geschichte erzählen, aus dem All auf unsere Erde“, erklärt der heutige Direktor der Abteilung  Planetenwissenschaften am Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung in Göttingen begeistert. Wobei sich ein Meteorit im wissenschaftlichen Sinne erst Meteorit nennen dürfe, wenn die gemeinnützige Organisation Meteoritical Society ihm einen Namen gibt. Auf E-Bay hingegen kann heute jeder Weltraummaterie erwerben. Die Preise schwanken: „Mondgestein kostet in Fachkreisen auch schon mal 1.000 Euro pro Gramm“, erzählt Kleine. Wie überall – nach oben sind die Grenzen offen.

Menschen neigen dazu, rückblickend den eigenen Entscheidungen Sinn zuzuschreiben. Lebenswege können sich bereits in frühester Jugend abzeichnen. Und alles läuft scheinbar nach Plan. Nicht so bei Thorsten Kleine. „Ich war eher ein nicht so guter Schüler“, sagt der 50-Jährige. Geschichte interessiert ihn – aber das traut er sich dann doch nicht zu studieren. Für Luft- und Raumfahrttechnik erhält er einen Studienplatz in Braunschweig. Der Himmel, die Sterne und die Planeten üben bereits zu dieser Zeit eine Faszination auf ihn aus. Dennoch entscheidet er sich letztlich dagegen. Als er einem Schulfreund nach Münster folgt, um Physik zu studieren, merkt er schnell, dass auch dies nicht das Richtige für ihn ist. „Ein Glücksfall, dass ich schlussendlich über die Geologie gestolpert bin, die mich zu meiner heutigen Position geführt hat“, sagt Kleine. Mit Gesteinen arbeiten, viel draußen sein – und plötzlich ist er ein guter Student.  Immer wieder wird im Laufe des ­Inter­views das Wort ‚Glück‘ fallen. Thorsten Kleine ist ein sympathischer Fünfzigjähriger, der um seine Person nicht viel Aufhebens macht. Stattdessen strahlt er das geerdete Gefühl eines Angekommenen aus.

Sei Mai 2022 ist Kleine Direktor bei den Planetenwissenschaften

Vor zwei Jahren erhält er den Ruf an das renommierte Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung in Göttingen. Die Mail mit der Anfrage des MPI für den zu besetzenden Posten las er nach ­seinem Tennistraining und konnte es erst einmal gar nicht glauben. „Es ist schon eine Wahnsinnssache und eine Auszeichnung, wenn man überhaupt zu dem Kreis der Wissenschaftler gehört, die dafür infrage kommen“, erzählt er. „Ich habe im Studium sehr viel Glück gehabt mit meinen Projekten und mit meinem Doktorvater“, sagt er rückblickend. Im Bereich Geochemie trifft er auf einen Professor, der das Potenzial des Studenten erkennt. Kleine wird schnell dessen Hilfskraft und hat damit wieder Glück, wie er sagt. Er erhält spannende Projekte in der Meteoritenforschung, also in dem Bereich, in dem er heute große Forschungsteams leitet. Und er darf früh Verantwortung übernehmen und sich ausprobieren. Die Doktorarbeit des jungen Wissenschaftlers erregte dann auch in der Fachwelt viel Aufmerksamkeit.
Bei der Recherche dafür stolpert Kleine über eine Publikation über das Alter des Erdkerns – ein Thema, das ihn sofort anspricht. Er entwickelt eine Datierungs­methode für die Messungen und kommt zu abweichenden Ergebnissen von der älteren Veröffentlichung. Waren seine und die anderen Berechnungen falsch? „Ich habe ein Jahr im Labor verbracht, um herauszufinden, wo mein Fehler liegt – und irgendwann bin ich zu dem Schluss gekommen: Also, ich liege nicht falsch“, erzählt Kleine schmunzelnd. Der Durchbruch für ihn. Er erhält in den kommenden Jahren von verschiedenen Fach­gesellschaften Preise für Nachwuchsforscher. „Wenn man einen Preis hat, bekommt man den nächsten umso leichter. Das hört dann aber auch irgendwann wieder auf“, sagt er bescheiden und fügt mit einem Augenzwinkern hinzu: „Jetzt gibt’s den nächsten vermutlich erst wieder fürs Lebenswerk.“

Seit Mai vergangenen Jahres ist Kleine nun offiziell Direktor bei den ‚Planetenwissenschaften‘. Rund 70 Wissenschaftler und Ingenieure gehören zu seinem Team – und die Verantwortung für ein nicht unerheblich größeres Budget als an der Münsteraner Universität. Allerdings bewegt er sich jetzt auch in zeitlich ganz anderen Dimensionen. Weltraumprojekte haben meist jahrzehntelange Laufzeiten. Im April dieses Jahres startet beispielsweise in Südamerika eine Weltraummission zum Jupiter, um dort die Eismonde zu erforschen. Das Projekt heißt JUICE – Jupiter Icy Moons Explorer. Wissenschaftsteams vom MPI in Göttingen haben über etwa zehn Jahre Instrumente entwickelt, die mit an Bord sein werden. Und um das zeitliche Ausmaß besser zu verstehen: Die ersten Instrumente haben Göttingen bereits 2020 verlassen, und erst 2031 wird JUICE den Jupiter erreichen. „In meiner neuen Position geht es um langfristige Planung von Projekten, mit denen wir die Schlüsselfragen der Planetenwissenschaften beantworten können. Dazu müssen wir bereits jetzt Forschungen beginnen, die zukünftige Generationen von Wissenschaftlern beenden werden“, erklärt der Direktor.

Leidenschaft für Planeten und Sterne

„Das tolle an unserem Beruf ist, dass wir einfach neue Sachen ausprobieren können. Wir machen zum Beispiel eine neue Art von Messung, wie sie vorher noch niemand gemacht hat“, sagt er mit sichtbarer Freude. Was herauskommt, sind nicht selten unerwartete Funde, die eine ganz neue Welt eröffnen. „Die wichtigen Dinge, die wir in meiner Arbeitsgruppe herausgefunden haben, waren oftmals nicht vorhergesehen.“ Ganz zufällig zeigt sich nun auch eine Parallele zwischen der Wissenschaft und dem Leben von Thorsten Kleine oder sogar dem Leben an sich. Ergebnisoffen und doch mit einem Ziel losgehen: Ein begonnenes Physikstudium, durch das Kleine dann in Münster und eben nicht in Braunschweig studiert und seinen Weg als Meteoritenforscher beginnen kann. Eine Doktorarbeit, die zufällig eine ältere Forschung revidiert und zum frühen wissenschaftlichen Ruhm führt.
Auch wenn Kleines Leidenschaft die Planeten und die Sterne sind, so ist er doch bodenständig und sehr froh, hier auf der Erde zu leben. Den Traum, ins All zu fliegen, hat der Wissenschaftler nicht. Das ist ihm, im Vertrauen erzählt, zu gefährlich. Vielmehr werde ihm gerade durch seine Forschungen eines immer wieder bewusst: „Die Größe des Sonnensystems und wie alles ineinandergreift, macht es noch besonderer, was wir hier auf der Erde haben – und wir sollten alles daransetzen, dieses Wunder zu schützen.“ ƒ

Foto: Alciro Theodoro da Silva
Zur Person

Der gebürtige Dorstener Thorsten Kleine studiert in ­Münster sowohl Geologie und Paläontologie als auch ­Mineralogie. Nach seiner Promotion führt ihn ein Marie Curie Fellowship ans Institut für Geochemie und Petrologie der Eidgenössischen Technischen Hochschule in ­Zürich. 2009 übernimmt Kleine dort eine Assistenzprofessur für Isotopengeochemie und nimmt im selben Jahr den Ruf ans Institut für Planetologie der Westfälischen Wilhelms-­Universität Münster an, wo er seitdem lehrt und forscht.
Zu seinen zahlreichen Auszeichnungen zählen die F. W. Clarke Medaille der Geochemical Society, der Victor-­Moritz-Goldschmidt-Preis der Deutschen Mineralogischen Gesellschaft und der Nier Preis der Meteoritical ­Society. Kleine wurde zudem zum Mitglied der Nordrhein-­westfälischen Akademie der Wissenschaften und der ­Künste sowie zum Fellow der Meteoritical Society gewählt.

Heute lebt der 50-Jährige mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Göttingen. Sein jugendliches Interesse für Geschichte hat ihn bis heute nicht verlassen – in seiner Freizeit liest er gern historische Kriminalromane wie die von Volker Kutscher, die als ‚Babylon Berlin‘ auch verfilmt wurden.
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