Rettung aus der Tiefe

Das St. Martini Krankenhaus in Duderstadt verharrte tief in den roten Zahlen, bis
Geschäftsführer ­Markus Kohlstedde mit einem ­Zukunftskonzept innerhalb von zehn Jahren den Wandel schaffte. Dabei begann seine Karriere ­eigentlich ganz weit unten: im Bergbau.

Baugruben gehören zum gewohnten Anblick: Das Duderstädter St. Martini Krankenhaus wächst stetig. Ein täglicher Blick in die sich ­öffnenden Schächte rund um den ­Gebäudekomplex, der Markus Kohl­stedde nicht erschrecken kann. Warum nicht? Nun, er ist ausgebildeter Bergbaumechaniker. „Ich habe ein Jahr meiner dreieinhalbjährigen Ausbildung unter Tage verbracht – im tiefsten Schacht Europas“, sagt der heutige Geschäftsführer des auf Modernisierungskurs befindlichen Klinikums im niedersächsischen Teil des Eichsfeldes. 

Vom Bergbaumechaniker zum Chef eines der wichtigsten Gesundheitszentren der Region – was für ein erstaunlicher Berufsweg. „Mir war während der Ausbildung schnell klar, dass ich in diesem Job nicht bis zu meiner Rente arbeite. Ich wollte in meinem Beruf neugierig bleiben, Dinge hinterfragen und kreativ sein“, sagt der heute 53-Jährige. Bei einem auf die Ausbildung folgenden Praktikum im Bereich der Krankenpflege – in dem auch seine Eltern arbeiteten – entdeckte er, „wie erfüllend und abwechslungsreich“ dieses Berufsfeld ist. 

Seine Energie und seinen Optimierungsdrang weitete Kohlstedde schnell über die „aufreibenden und gesellschaftlich zu wenig geschätzten“ Pflegetätigkeiten hinaus aus: „Ich habe mich stets weitergebildet und dann in die ‚Höhle des Löwen‘ gewagt – ich wurde Berater im Gesundheitswesen.“ Dort ging es häufig darum, insolvente Kliniken zu sanieren und sie fit für die Zukunft in einem anspruchsvollen Umfeld aufzustellen.  

Eines Tages – genauer gesagt, vor etwas mehr als zehn Jahren – ergab sich aus einem Gespräch mit Vertretern des Hildesheimer Vinzenz-Verbundes, zu dem St. Martini damals gehörte, das Angebot, das kränkelnde Klinikum in zukunftsfähige Strukturen zu überführen. Kohlstedde erinnert sich: „Ich fuhr also ins Eichsfeld, um mir das Krankenhaus anzuschauen – und ich fuhr vorbei! Wegen der vielen hohen Bäume konnte ich es nicht sehen. Als ich es dann gefunden hatte, sah ich innen ein verbesserungsbedürftiges Haus im Eiche-rustikal-Stil. Doch ich war überrascht, ein vielseitiges und bestens besetztes Ärzte- und Pflegeteam vorzufinden. Ich sah Zukunfts­potenzial, das es an die Oberfläche zu fördern galt.“ 

Da es ganz und gar nicht in seiner Natur liegt, sich abschrecken zu lassen, ging Kohlstedde die Vorbereitungen unverzüglich an. Seine beiden Teenagertöchter, die sich bei ihm des Öfteren über seine beruflich bedingte Abwesenheit beschwert hatten, durften über diesen Schritt in die Zukunft mitentscheiden. Sie waren sofort für den Ortswechsel nach Duderstadt. Sie wollten auch nicht etwa in Göttingen wohnen, sondern entschieden sich bewusst für die kleinere Stadt. Die Töchter sind zwar inzwischen zum Studium nach Bochum und Koblenz gezogen, doch im Laufe der Jahre schlug die gesamte Familie in Südniedersachsen Wurzeln. „All unsere Freunde sind inzwischen in dieser Region“, sagt Kohl­stedde, der in der Schützengesellschaft aktiv ist und am Rothenberger Haus Golf spielt, um vom beruflichen Alltag seines vor zehn Jahren angetretenen Jobs abzuschalten. Seit einiger Zeit vermietet er in von ihm erworbenen Immobilien Ferienwohnungen und macht somit nicht nur als Mitglied des Beirates Treffpunkt Stadtmarketing für seine neue Heimat Duderstadt aktiv Werbung.

Tatsächlich verwundert es nicht, dass der Geschäftsführer, der auch immer wieder an den Wochenenden im St. Martini anzutreffen ist, gelegentlich abschalten muss. Denn er hat viel zu tun – insbesondere zu Beginn seiner Zeit an der neuen Wirkungsstätte: Seit der Jahrtausendwende erwirtschaftete das Haus jedes Jahr Defizite, meist in Millionenhöhe. Wie sollte das geändert werden, zumal viele Sanierungen anstanden? „Ich stellte jeden Ausgabeposten auf den Prüfstand. Verträge wurden gekündigt und neu ausgeschrieben“, skizziert der profes­sio­nelle Sanierer seinen Einstand. Schnell stellte sich ­heraus, wer dabei mit- oder wer lieber weiterziehen wollte. Auch die Ärzte in der Region wurden eingebunden, die Patienten nach ihrer Meinung befragt. So kristallisierte sich ein eng zusammenarbeitendes und mit der Region im Dialog stehendes Team heraus. Die Basis ­dafür beschreibt Kohlstedde wie folgt: „Ich gebe die Richtung vor, aber alles wird von mindestens zwei Personen geprüft. Jeder darf hinterfragen, und ich bin immer ansprechbar. Nur so kann ein solch umwälzender Prozess funktionieren.“ 

Und er funktioniert auf Anhieb! Im Jahr 2012 machte St. Martini einen Rekordverlust von fast zwei Millionen Euro, 2013 immer noch knapp ein Drittel davon. Für 2014 – das erste Jahr mit dem neuen Chef – stand bereits ein Plus von 997.000 Euro in der Bilanz. Seither bewegen sich die Zahlen zwischen dem „Ausreißer nach unten“ im Jahr 2017 mit ,nur‘ plus 220.000 Euro und einer Million Euro. Durchgehend schwarze Zahlen also. Sie fußt auf einem – noch bis 2029 gültigen – 15-Jahres-­Plan, der drei Ziele umfasst. Ziel 1 ist die Sicherung der Investitionsfähigkeit durch „gesicherte schwarze Zahlen“. Ziel 2 setzt auf den aktiven Strukturwandel mit der Ausrichtung des Leistungsspektrums am Bedarf der hiesigen Menschen, der Schaffung der nötigen Infrastruktur, der Gewinnung von qualifizierten Mitarbeitern und dem Kapazitätenwachstum. Und Ziel 3 schließlich setzt auf die Vernetzung von Krankenhaus, Palliativ- und Hospizdiensten sowie dem MVZ (Medizinisches Versorgungszentrum) St. Martini.

In zehn Jahren erhöhte sich die Planbettenzahl im niedersächsischen Krankenhausplan in zwei Schritten von 126 auf 140 und dann auf 155, die ambulante Fallzahl von jährlich 13.900 auf 17.713 und die Anzahl der Vollkräfte von 392 auf 470. „Wir haben eine geringe Fluktuation: Durchschnittlich sind Beschäftigte etwa 13 Jahre bei uns“, sagt Kohlstedde. „Zudem wollen viele nicht mehr nach Göttingen oder in Nachbarregionen zur Arbeit pendeln und sehen, dass sie hier ein gutes Arbeitsumfeld geboten bekommen.“ Zu diesem Umfeld gehören attraktive Gehälter ebenso wie Weiterbildungs- und gesundheitsfördernde Maßnahmen sowie Altersvorsorge­angebote oder gemeinsame Aktivitäten.

„Ich hatte vom Elisabeth Vinzenz Verbund ­nahezu freie Hand, und die schnellen Erfolge bestätigten dieses Vertrauen“, so der Geschäftsführer. Die Kooperation mit einer Dialysepraxis, die Förderinitiativengründung, die Schwerpunktsetzungen auf Geriatrie und Endo­prothetik, die Übernahme ambulanter Dienste der Palliativ- und Hospizversorgung, die Nutzung von Biowärme und Strom, die Planung von Bauprojekten ­sowie die ­Erstellung eines Flächenkonzepts, den Beitrag zur Sicherung niedergelassener Versorgungsstrukturen durch Medizinische Versorgungszentren und die Integra­tion internationaler Pflegekräfte sind nur einige Beispiele für komplexe und wichtige Meilensteine der vergangenen Dekade. 

 

ZUR PERSON

Markus Kohlstedde wurde am 23. Februar 1971 im münsterländischen Emsdetten geboren. Nach dem Realschulabschluss absolvierte er eine Ausbildung als Bergbaumechaniker und wechselte dann in den Krankenpflegebereich. Dort absolvierte er das Examen als Gesundheits- und Kranken­pfleger und durchlief alle ­Hierarchiestufen in der Pflege. An der FH machte er einen Abschluss zum Diplom-Kaufmann. Stationen an Kliniken und bei Beratungsunternehmen in Münster, Frankfurt, Wilhelmshaven, Hannover, Hildesheim und Harsum schlossen sich an. Seit Februar 2014 ist er Geschäftsführer des St. Martini Krankenhauses. Er hat zwei studierende Töchter, ist in der Schützen­gesellschaft aktiv und spielt gerne Golf.

Herausragend für das Gesamtkonzept sei auch der 2019 eingeleitete, umfangreiche Umbauprozess. In Bauabschnitt 1 wurde Wirtschaftlichkeit erhäht, indem von sechs auf drei Sta­tionen reduziert wurde. Gleichzeitig wurde die Bettenkapazität gesteigert und der Aufnahme- und Notaufnahmebereich modernisiert. Die enge und parteiübergreifende Abstimmung und Rückkopplung mit den politischen Akteuren aller Ebenen war dabei zentral, so informierten sich Bundespolitiker wie Karl Lauterbach, Jens Spahn, Thomas Oppermann und Fritz Güntzler vor Ort und aus erster Hand über St. Martini. Ebenso sei man mit Landespolitikern wie Ministerpräsident Stephan Weil, Sebastian Lechner und den Wahlkreis­abgeordneten regelmäßig in Kontakt. Kohlstedde betont: „Ohne die Unterstützung des langjährigen Bürgermeisters Wolfgang Nolte und seines Nachfolgers Thorsten Feike und insbesondere ohne die Unterstützung des leider verstorbenen politischen Eichsfelder Urgesteins Lothar Koch wäre die Entwicklung an St. Martini nicht möglich gewesen.“ Auch im Frühjahr dieses Jahres erschien mit dem niedersächsischen Gesundheitsminister Andreas Philippi schließlich hoher Besuch mit einem wichtigen Schriftstück im Gepäck: die Genehmigung des zweiten Bauabschnitts. Dieser umfasst die Bereiche OP, Herzkatheter und Sterilisation. Nach den etwa 38,5 Millionen Euro Investitionskosten für den ersten Bauabschnitt (davon 16,4 Millionen Euro Eigenmittel des Krankenhauses), sind für den zweiten Abschnitt 44 Millionen Euro (9,4 Millionen Eigenmittel) angesetzt.

Gigantische Summen, die gerade angesichts der Probleme im deutschen Gesundheitssystem für ein verhältnismäßig kleines Krankenhaus schwer zu stemmen scheinen. Doch Kohlstedde stellt klar: „Wir sind nur zukunftsfähig, wenn wir uns modern aufstellen und somit wirtschaftlich arbeiten können.“ Ein Weg, den er weiterhin zielstrebig verfolgen werde, wenngleich er auch nicht mit Kritik hinter dem Berg hält. So orientiere sich die Politik seit Jahrzehnten nicht an der Praxis. „2003 hat die Politik sich entschieden, das Gesundheitswesen und die Krankenhausversorgung für private beziehungsweise aktiennotierte Unternehmen zu öffnen. Damit ist dem Abfluss von potenziellen Gewinnen aus dem Gesundheitswesen der Weg gebahnt worden. Anfallende Defizite der kommunalen Krankenhäuser werden durch die Kommunen, bei Unikliniken durch die Länder, also
letztlich die Steuerzahler, getragen“, erzählt Kohlstedde und weist auf ungleiche Marktbedingungen hin.

Übrig blieb ein kleinerer Teil gemeinnütziger oder kirchlicher Einrichtungen. Sie seien zum Erfolg verdammt, weil niemand die Defizite ausgleiche. Sie fühlten sich dabei dem gesamten Spektrum der Patienten verpflichtet und könnten sich nicht nur wirtschaftlich attrak­tive „Rosinen rauspicken“, wie es börsennotierte Krankenhausketten mitunter tun. Aktuell sei laut Kohl­stedde schnelles, zielführendes politisches Handeln notwendig, „damit freigemeinnützig-konfessionelle Häuser nicht aus dem Markt verschwinden“. Ansonsten gebe es demnächst nur noch hoch defizitäre Krankenhäuser, für die der Steuerzahler aufkommen müsse, oder börsennotierte Ketten, die nur finanziell interessante Patienten versorgten. Auch zeigt er für die vielen Kliniken in Großstädten wenig Verständnis, zum Beispiel gäbe es in Berlin 55 Akutkrankenhäuser mit über 50 Notaufnahmen, mit fast identischem Leistungsspektrum, während die länd­lichen Strukturen ausbluten.

Statt dieses durchaus kritikwürdigen Systems hätte der Geschäftsführer von St. Martini im Zuge der Deutschen Einheit präferiert, das DDR-System der Polykliniken zu übernehmen. Wie wir wissen, kam es anders. Umso besser, dass das St. Martini Krankenhaus seit nunmehr zehn Jahren einen Geschäftsführer hat, der Malochen von der Pike auf gelernt hat. Jemand, der seine gesamte Energie einsetzt, um eine Klinik auf dem Land nicht nur zu erhalten, sondern sie zu verbessern, sie nachhaltig – sowohl im ökonomischen als auch im ökologischen Sinne – und zukunftsorientiert zu modernisieren. Vom Projektleiter in allen Teilen Deutschlands ist Markus Kohlstedde zum „sesshaften“ und mit dem Eichsfeld tief verbundenen Macher geworden. Zufriedene Patienten und treue Mitarbeiter danken ihm dies. Aus dem hinter Bäumen verborgenen, defizitären Krankenhaus wird nach und nach eine moderne und auch optisch ansprechende Klinik. ƒ

Alciro Theodoro da Silva
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entdeckt, entwickelt & erzählt Erfolgsgeschichten