Kassel, Kufen, Kapital
Er nennt sich selbst „einfach nur der Paul“, doch hinter der bescheidenen Fassade steckt ein Architekt großer Pläne: Paul Sinizin, Geschäftsführer der Kassel Huskies und Bikeleasing in Uslar, baut Arenen und Unternehmen mit derselben Hingabe, mit der er Gurken in seinem Garten pflegt. Eine Geschichte zwischen lauter Öffentlichkeit und der leisen Sehnsucht nach einem Leben ohne Rampenlicht.
Zur Person
Paul Sinizin, 1980 im sibirischen Omsk geboren, kam als Teenager nach Kassel – mit einer großen Leidenschaft für Eishockey und einem Paar Schlittschuhe im Gepäck. Statt auf dem Eis eine Profikarriere zu starten, entschied er sich für andere Wege: Nach einem abgebrochenen BWL-Studium probierte er sich in der Kasseler Gastroszene aus, bevor er mit der Firma Bikeleasing durchstartete. Heute zählt das Unternehmen zu den Marktführern im Dienstrad-Leasing. 2021 verkauften Sinizin und sein Geschäftspartner Bastian Krause 60 Prozent ihrer Anteile. Im gleichen Jahr investierte er einen Teil seines Erfolgs in die Kassel Huskies, den Verein, der ihm einst den Weg in die deutsche Eishockeywelt ebnete. Als Geschäftsführer treibt er nicht nur den sportlichen Erfolg, sondern auch die nachhaltige Sanierung der Nordhessen Arena voran. Trotz seiner wirtschaftlichen Erfolge bleibt Sinizin bodenständig: Familienmensch, Gärtner und Hobby-Eishockeyspieler. Mit Humor und Pragmatismus verbindet er Tradition, Innovation und seine tiefe Verbundenheit zu Kassel.
» Und dann verbrenne ich hier mal 60 Millionen Euro. «
Es könnte jetzt beinahe kitschig werden. Aber das darf man Paul Sinizin nicht antun. Zu viel Öffentlichkeit ist dem 42-Jährigen unangenehm. Wenn seine beiden Söhne mal wieder irgendwo das Gesicht ihres Papas in den Medien sehen, setzt dieser sofort zur Gegenmaßnahme an. „Jungs, alles unwichtig, lasst uns in den Garten gehen“, sagt er dann. Dem Geschmack der selbst angebauten Gurken daheim in Vellmar ist die Magie der Medien nicht gewachsen. Daher sieht es der Geschäftsführer der Kassel Huskies auch als seine persönlich nachhaltigste Aufgabe an, beim Eishockey-Zweitligisten möglichst schnell wieder aus dem Fokus der Presse zu verschwinden.
Und überhaupt: Stinklangweilig sei er. Herr Sinizin, so nennen sie nur seinen Vater. Er selbst ist „einfach nur der Paul“, die Ehe glücklich, keine Scheidung in Sicht. „Zumindest nicht von meiner Seite“, fügt er schnell scherzend an, sonst wäre auch das schon wieder zu kitschig geworden.
Aber diese Geschichte, wie Sinizin zu seinem Club gefunden hat, an dessen Spitze gekommen ist, die hat im positivsten Sinne etwas Kitschiges. Noch eine Umdrehung mehr gefällig? Es war einmal – dann wird’s nämlich sogar ein Märchen – Familie Sinizin aus der Sowjetunion. Die Mutter eine Russland-Deutsche, der Vater ein russischer Profiradsportler. Paul wird in Omsk geboren, das ist in Sibirien. Da legt er Wert drauf. „Ich bin Asiate“, sagt der Alpha-Husky, der in seinem Geburtsland, einer Eishockey-Nation, früh und talentiert mit Kufen und Schläger unterwegs ist.
Das ist ein bedeutsamer Umstand. „Eishockey hat mir alles gegeben“, sagt Sinizin und meint das gar nicht pathetisch. Teamfähigkeit. Sich durchsetzen zu lernen. Und vor allem den Willen zu entwickeln, wieder aufzustehen, wenn er hingefallen war. Im Jahr 1990, kurz nach dem Fall der Mauer, urlauben die Sinizins in Deutschland. Sie planen, bald dorthin umzusiedeln. Im Husky-Fanshop kauft Paul Schlittschuhe. Eine vergleichsweise geringe Investition. „Und dann verbrenne ich hier mal 60 Millionen Euro“, sagt Sinizin heute mit einem jovialen Lachen. Das ist 31 Jahre später. Und das ,Hier‘: die Eishalle in Kassel.
Drei Jahre nach dem Schlittschuhkauf wandert seine Familie wirklich nach Deutschland aus. Es gibt Verwandte in Aurich – dort aber eben keine Eishalle, was bei der Auswahl des Wohnorts die einzige Maßgabe von Vater Sinizin ist. Also geht es nach Kassel, wo zumindest schon eine Großtante lebt. Wenn Sinizin heute über die Nordhessen Arena, die zu diesem Zeitpunkt noch Eissporthalle Kassel heißt, sagt, „das Ding hat eine Seele“, trifft das für ihn besonders zu. Sie war einer der ersten Orte, die er in Deutschland gesehen hat.
Von außen, vor allem aber von innen. Bis er 20 Jahre alt ist, spielt Sinizin sehr ambitioniert Eishockey. Dritt-, vielleicht Zweitligaprofi hätte er wohl werden können. Doch im sibirischen Kufenathleten wächst die Erkenntnis, dass er seine absehbare Zukunft doch anders gestalten möchte. „Bis dahin war Eishockey mein Leben“, sagt er und muss sich nach dieser bewussten Entscheidung gegen den Sport erst einmal neu finden. Sinizin studiert „ziellos“, wie er sagt, Betriebswirtschaftslehre in Greifswald und Marburg und bricht „erfolgreich“ ab. Anschließend versucht er sich ein bisschen in der Kasseler Gastroszene. „Meine Eltern waren sehr stolz“, erinnert er sich mit Ironie in den Augen.
Mittlerweile ist der Stolz längst aufrichtig und berechtigt. Was an seinem beruflichen Werdegang und Erfolg liegt. Nun ist nichts mehr kitschig oder märchenhaft, sondern das ebenso nüchterne wie überwältigende Ergebnis von zugeschrieben guten Mathematikkenntnissen, einem hohen Grad an Empathie und einer schnellen Auffassungsgabe. Und das kam so. Nach seinen Gastro-Ausflügen eröffnete Sinizin eine Agentur als Industrieversicherungsmakler. Ein sehr spezielles Gewerbe, denn er versicherte vorrangig schwierige Fälle wie Mülldeponien. Finanziell verschafft das ihm und seiner Familie bereits damals eine komfortable Unabhängigkeit, worauf Sinizin mehrfach mit Stolz verweist. Eines Tages rief ihn Bastian Krause an. Ein gemeinsamer Freund hatte die Verbindung hergestellt.
Überhaupt lässt Sinizin im Lauf des Gesprächs in einem der VIP-Räume der Nordhessen Arena viele Namen fallen. Gar nicht, um latent mit ihnen zu prahlen, sondern weil er in der Region schlicht jeden zu kennen scheint.
Jener Krause jedenfalls bat ihn 2015 darum, für sein Unternehmen, Bikeleasing aus Uslar, welches Firmen einen Leasingservice von Diensträdern für deren Mitarbeiter bietet, eine Radversicherung zu bauen. Irritiert und mit einem „Sie wissen schon, was ich mache?“, beendete Sinizin das Telefonat. Der Kunde schien ihm zu klein. Doch der gemeinsame Freund, der den Kontakt einst herstellte, meint es ernst. Er ,drohte‘ daraufhin, die Freundschaft und die Geschäfte ruhen zu lassen. Also ließen es Krause und Sinizin auf einen zweiten Versuch ankommen.
„Menschlich hat es sehr schnell gematcht zwischen uns“, sagt Sinizin. Aber die Geschäftsidee überzeugt ihn noch nicht. Er sucht nach Gegenargumenten, denkt auf Schwächen des Dienstradverleihs herum. Damals erwartet er, dass bestenfalls 10.000 Fahrräder pro Jahr geleast werden. Inzwischen sind es mehr als 150.000 pro Jahr – rund 70.000 Unternehmen sind als Kunden registriert, mehr als eine Million Arbeitnehmer in Deutschland und Österreich sind auf geleasten Rädern unterwegs. „Diese Überlegungen, die Schwächen ausfindig zu machen und zu beseitigen, haben ein Feuer in mir geweckt. Ich wollte das hinkriegen, wenngleich ursprünglich auch lediglich, um es auf die Automobilindustrie umzulegen“, sagt Sinizin, der anfangs nur als Versicherungsmakler über die Provision am durchschlagenden Erfolg beteiligt ist.
Das Duo geht bald darauf eine geschäftliche Partnerschaft ein. „Irgendwie ist dann alles passiert“, sagt Sinizin. Er spricht nicht zu gern und ausschweifend von seinen beruflichen Leistungen, sieht sich in diesem Kontext „nur als den Arbeitskollegen“. Um es daher kurz zu fassen: Es läuft blendend. Die Firma verdoppelt ihr Volumen nahezu jährlich, nicht ein Cent sei je finanziert worden, so Sinizin. Schon nach zwei Jahren hätte das Geschäftsführer-Duo verkaufen können.
Doch ums Finanzielle geht es Sinizin nicht primär: „Es ist viel Arbeit, macht aber unheimlich viel Spaß. Wegen des blinden Vertrauens zu Bastian, aber auch dem großartigen Verhältnis zu meinen Mitarbeitern.“ Es sind mittlerweile gut 400. Die nun aber nicht mehr allein von Sinizin und Krause geführt werden. 2021 kauft die Frankfurter Brockhaus Capital Management AG, die auf Beteiligungsgeschäfte fokussiert ist, 60 Prozent von Bikeleasing im Wert von 167 Millionen Euro.
Was das ganze Geld mit ihm gemacht hat, kann
Sinizin knapp beantworten: „Nichts.“ So viel, wie er nun verdient habe, brauche kein Mensch. Ungewöhnliche, aber sehr glaubhaft klingende Worte aus dem Mund eines Geschäftsmanns, der Sinizin zweifelsfrei bis in die pechschwarzen Haarspitzen ist. Der beste Beleg hierfür sind die Huskies. „Ehrliche Meinung: Mein Vorhaben hier ist garantiert eine der schlechtesten Geldanlagen“, sagt er. Wer sich im deutschen Spitzensport unterhalb des Fußballs ein wenig auskennt, wird ihm sofort zustimmen.
Es ist eben eine Herzensangelegenheit, wenngleich keinesfalls ein Hobby. „Ich habe eine Verantwortung für meine Mitarbeiter“, stellt der leidenschaftliche Gärtner klar, der 2021 die Geschicke des Traditionsvereins übernahm. Als klassischer Investor fungiert er hierbei nicht, ist kein Alleinherrscher. Aus dem Sportlichen hält er sich, trotz definitiv vorhandener Fachkenntnis, heraus. In Derek Dinger ist ein eigener Sportchef dafür verantwortlich, den Sinizin, der inzwischen wieder freizeitmäßig Eishockey spielt, sukzessive aufbaut. „Wenn ich dem reinreden oder der Mannschaft in der Kabine Ansagen machen würde, kann ich mich doch nur lächerlich machen“, sagt Sinizin, der für einen angeblich langweiligen Typen doch recht gute Alleinunterhalter-Qualitäten besitzt. Stattdessen fokussiert er sich auf seine Kernkompetenz: dem Aufbau von Unternehmen. Die Huskies verfügen über das höchste Budget in der DEL2, der zweithöchsten deutschen Eishockey-Liga. Zum Aufstieg reichte es bislang dennoch nicht. Otto Rehhagels „Geld schießt keine Tore“ gilt auf dem Rasen wie auf dem Eis. Sinizin frustriert das, die passionierten Fans ebenso. Aber er sagt auch: „Es wird die Zeit kommen, in der wir wieder in der DEL gegen Berlin, Düsseldorf und Mannheim spielen. Und auch gern um Titel, der Aufstieg ist nur ein Zwischenschritt.“ Das wiederum hebt Sinizin signifikant von vielen Managern im deutschen Profisport ab, die teils inbrünstig der unerklärlichen Leidenschaft frönen, ihre Clubs in der öffentlichen Wahrnehmung möglichst klein darzustellen, um den Druck – den sich Sportler aber ohnehin selbst am meisten machen – zu verringern. Sponsoren lockt das allerdings nicht hinter dem Ofen vor, Medien ebenso wenig.
Sinizin denkt in größeren Dimensionen. Er investiert in die Nordhessen Arena, die bis 2025 zu einer Multifunktionshalle umgebaut wird und bis zu 6.000 Zuschauern bei Sport- und Kulturevents Platz bieten soll. „Ich habe Lust, eine Bestandsimmobilie so zu sanieren, wie das bislang noch keiner gemacht hat. Nicht nur bilanziell nachhaltig, sondern real“, sagt Sinizin. Seinen Söhnen möchte er später erzählen können, „das Richtige“ gemacht zu haben.
Klimaneutralität kostet. Aber das ist er gern bereit zu zahlen. Die Photovoltaikanlage auf dem Dach, eine Eisaufbereitungsanlage, „das ist schon eine Egonummer, aber Eissport hat seine Berechtigung, wenn er klimaneutral betrieben wird“, sagt Sinizin. Auch Künstler würden vermehrt darauf achten, dass die Arenen, in denen sie auftreten, nachhaltig betrieben werden.
Apropos nachhaltig: Ginge es nach Sinizin würde er „alles einfrieren“ – was auch sonst als Eissportler? – und „die nächsten 100 Jahre so weitermachen“. Ans Aufhören verschwendet er keinen Gedanken, allenfalls mal daran, sich etwas mehr Zeit zum Reisen mit seiner Frau zu nehmen. Und daran, „nach einem nervigen Tag nach Hause nach Vellmar zu kommen, wo es noch sonnig ist und die Kinder mit mir Schwachsinn im Garten
machen“. So viel Kitsch gönnt er sich. ƒ