Friede, Freude, Fahrradhölle
Zehn Tage, 5.000 Kilometer, zwei Stunden Schlaf pro Nacht: Fritz Geers aus Clausthal-Zellerfeld bereitet sich auf das ,Race across America‘ vor. 2023 war er ,nur dabei‘, diesmal will er über sich hinaus wachsen und ganz vorne dabei sein. Warum er jetzt schon Angst vor dem Zieleinlauf hat – sich aber trotzdem nichts anderes vorstellen kann.
Zur Person
Fritz Geers wurde 1995 in Clausthal-Zellerfeld geboren und absolvierte bereits mit elf Jahren seinen ersten Marathon. Mit 17 Jahren fuhr er 500 Kilometer am Stück mit dem Rad. Danach wurde es nur länger und extremer: Erst 1.000 Kilometer, dann ein Wettkampf von Nord nach Süd quer durch Deutschland, schließlich das Rennen seines Lebens: das ,Race across America‘. 4.716 Kilometern von der US-amerikanischen West- an die Ostküste. Der ausgebildete technische Produktdesigner benötigte dafür zehn Tage, 21 Stunden und neun Minuten. Kein deutscher Fahrer war je jünger, als er dort ins Ziel kam. In diesem Jahr möchte der Europameister im Ultracycling und Deutschen Meister im 24-Stunden-Mountainbiking seine Zeit um mindestens einen Tag toppen. Ist Geers ausnahmsweise mal nicht auf Achse, werkelt er an ,Mueslay‘ herum, seiner eigenen Müslimarke für Ausdauersportler. In seiner Heimat bietet er zudem Mountainbike-Touren an, organisiert Events und Vorträge in einer restaurierten Scheune. Geers erzählt seine Erlebnisse auch in Filmen und Büchern – immer mit dem gleichen Antrieb, der ihn auch auf dem Rad antreibt: an Grenzen gehen, sie verschieben und weiterfahren. Nur privat mag es Geers nicht extrem. Er lebt im ruhigen Clausthal-Zellerfeld im Harz.
» Es fühlt sich an, als würden wir eine Maschine bauen mit vielen kleinen Stellschrauben. «
Ein wenig Angst hat Fritz Geers schon vor diesem Moment irgendwann Mitte Juni in Atlantic City. „Es ist das Schlimmste, was du erleben kannst. Dann ist es vorbei“, sagt der 29-Jährige. Er wird erstmal in ein Loch fallen. Einziger Ausweg: Der Gedanke an eine neue Herausforderung. Nun aber bloß nicht zu negativ sein, noch liegt alles vor dem Extremsportler aus Clausthal-Zellerfeld. 5.000 Kilometer auf dem Fahrrad quer durch die USA, das ,Race across America‘ von Oceanside in Kalifornien bis Atlantic City in New Jersey. Es lässt Geers seit zwei Jahren mit der nie wankenden Motivation aufstehen, Entbehrungen in Kauf nehmen, alles unterzuordnen.
Was erstmal ganz groß erscheint, wirkt vor Ort ziemlich klein und banal. Geers bewohnt eine Einliegerwohnung eines typischen Harzer Mehrfamilienhauses, eine ausgesprochen schmale Treppe führt hinauf zum Dachboden. Der Platz ist beschränkt. 70 Kisten mit Utensilien für das RAAM lagern dort, alle akkurat geordnet. Die unsauber gefalteten Kampftragetaschen britischer Spezialeinheiten fallen ein wenig aus dem Bild. Sie sind für Geers‘ Team gedacht, das ihn vom Westend ans Ostend der USA begleitet. „Sieht aus, als würden wir eine Expedition zum Nordpol vorhaben“, sagt Geers scherzend. Herzstück des Dachgeschosses ist wie vor sechs Jahren, als faktor den Ausdauerathleten zum ersten Mal besuchte, ein stationäres Rennrad. Seit Dezember vergangenen Jahres verbringt Geers morgens und abends dort mehrere Stunden täglich. Die genauen Umfänge will er nicht verraten, Betriebsgeheimnis. „Das würde mich mental belasten, weil man ja schon schnell anfängt, sich zu vergleichen. Aber ich möchte nur für mich selbst das Beste herausholen“, sagt Geers. Immerhin: Im Vergleich zu früher stülpt er sich nicht mehr regelmäßig ein Handtuch über den Kopf, um alles um ihn herum auszuschalten. In Trance fährt er sich mittlerweile auch so. Und Geers kann ziemlich schnell in den Tunnel kommen. Wie schnell, zeigt eine Episode aus dem Interviewtermin. Als guter Gastgeber möchte der Harzer ,Spezi‘ servieren, hat den Sechserträger bereits auf den Tisch gestellt. Dann verliert er sich aber so tief in seine Erzählungen, dass ihm erst eine Viertelstunde später sein ursprünglicher Plan, in die Rolle des Mundschenks zu schlüpfen, auffällt.
Er selbst trinkt nichts, verzichtet auf Koffein, damit die Wirkung umso stärker ist, falls er es im Rennen benötigt. Als sei das tägliche Programm auf dem Dachboden nicht Training genug gegen einschläfernde Widerstände. Dieses ins Nichts radeln – Geers starrt stoisch auf seinen Leistungsmesser. Er prüft, wann die nächste Trinkpause ansteht, er einen Snack nehmen darf, das T-Shirt wechselt. Die kleinen Dinge im Leben. In Zweieinhalb-Minuten-Abschnitte teilt sich Geers das stundenlange Programm auf. „Zweieinhalb Minuten Fahrrad fahren kann jeder, also schaffe ich das auch, wieder und wieder“, sagt er.
Was er kann, nämlich 5.000 Kilometer Fahrrad in knapp zehn Tagen fahren, kann dafür so gut wie niemand. Wer verstehen möchte, weswegen dieser freundliche, aufgrund seines unscheinbaren Äußeren schnell zu unterschätzende Mann solche Strapazen auf sich nimmt, und ihm bange vor dem Zieleinlauf ist, muss einen Blick in sein Leben werfen. Oder besser: in sein Bett. Das bleibt nämlich leer. Den kompletten Februar hat Geers im Trainingslager in Italien verbracht. Kaum zurück, zieht er in seine neueste Errungenschaft um. Ein Höhenzelt, in dem sich durch Stickstoffzufuhr der Sauerstoffgehalt verringern lässt. Der Körper produziert so vermehrt rote Blutkörperchen, die den Sauerstoff transportieren. Die Anschaffung hat er sich einen vierstelligen Betrag kosten lassen.
Es stört Geers kaum. Sein Leben ist komplett auf das ,Race across America‘ ausgerichtet. Um seinen Schlafrhythmus zu optimieren, hat sein Team eine App entwickelt. Mit Informationen aus Datenbanken entwarf er einen Shake mit Schoko-Bananen-Geschmack, von denen er im Rennen 24 pro Tag trinkt – ausschließlich beim Fahren. Etwas anderes gibt es zehn Tage lang nicht, um den täglichen Bedarf von 9.150 Kalorien zu decken. „Indem wir das Essen aufs Rad verlagern, können wir insgesamt bis zu acht Stunden Standzeit einsparen. Das ist effizienter.“ Effizienz ist Geers‘ Lieblingswort. Sein täglicher Rhythmus ist darauf ausgelegt, möglichst keine Zeit und Energie zu verschwenden. Neun Tage, drei Stunden und 20 Minuten soll die Amerika-Durchquerung nach seinen Berechnungen im Optimalfall dauern. Beim ersten Mal 2023 hatte Geers zehn Tage, 21 Stunden und neun Minuten benötigt, war Gesamtsiebter geworden. Ob nun der Sieg drin ist, interessiert den schmächtigen Profisportler laut eigener Aussage kaum. „Es geht mir darum, schneller zu werden. Noch bin ich jung, da ist das möglich“, sagt er.
Die Frage nach dem Warum ist die, die der ausgebildete technische Produktdesigner vermutlich am häufigsten hört. Egal, was er antwortet, richtig verstehen kann man das wohl nur, wenn man ein bestimmter Typ Mensch ist. Geers ist einer, den man ihm auf den ersten Blick nicht zutraut: eine Führungspersönlichkeit.
Ohne sein Team im Hintergrund wäre die Mammutleistung nicht zu bewältigen. Neun mehr oder weniger ehrenamtliche Helfer begleiten Geers in die USA. Das Begleitfahrzeug haftet in jedem Moment am Hinterrad. Jedes Teammitglied hat klar definierte Aufgaben. „Es fühlt sich an, als würden wir eine Maschine bauen mit vielen kleinen Stellschrauben. Wenn alle gedreht werden, dann läuft das, dann macht das richtig Spaß“, sagt Geers, der in den vergangenen Jahren spürbar gereift ist. Für ihn sei es ein Privileg, das Erlebnis in den Vereinigten Staaten teilen zu können: „Das ist nicht jedem vergönnt, aber für alle eine großartige Sache. Menschen zusammenzubringen und gemeinsam mit ihnen auf ein Ziel hinzuarbeiten, macht mir große Freude.“
Die schier unvorstellbare Quälerei wird dadurch aber allenfalls minimal einfacher. Die Fahrer verausgaben sich komplett, schlafen pro Tag im Schnitt zwei Stunden, zumeist in kurzen Intervallen. Die Pausen legt Geers‘ Team strategisch günstig, basierend auf dem Schlafrythmus des Athleten. Mehr als ein Powernap ist dabei oft nicht drin – reicht aber. Im Vergleich zu 2023 fährt nun ein Begleitfahrzeug mit eigener Toilette mit. Während Fritz Geers ruht, kann er massiert werden. Jeder Schritt ist minutiös geplant, seinem Team hat Geers ein 69-seitiges Handbuch geschrieben, in dem unter anderem detailliert erklärt wird, wie eine Tasche gepackt werden muss. Alles mit dem Ziel, so viel Zeit wie möglich auf dem Rad zu verbringen.
Ob das prestigeträchtigste Ultrarennen der Welt aufgrund der körperlichen und mentalen Beanspruchung langfristige Schäden hervorruft, ist nicht bekannt. Geers hatte bereits Extremerfahrungen. Bei einem Rennen machte er eine Erfahrung, die einer Nahtoderfahrung ähnelte. Eine der Teilnahmen beim ,Race Around Germany‘ musste er abbrechen, weil er mit Doppelbildern zu kämpfen hatte. Fotos während der Wettbewerbe deuten darauf hin, dass sich der Athlet mehr oder minder in einer Parallelwelt befindet. Dennoch fühlt sich Geers topfit, er merke, dass er leistungsfähiger werde, die Wattzahlen untermauern dies.
Daher sei sein Leben derzeit auch „Friede, Freude, Eierkuchen: essen, schlafen, Fahrrad fahren“, sagt er. Aber das ist nicht immer so. Im vergangenen Sommer war Geers sehr viel damit beschäftigt, seine Teilnahme am ,Race across America‘ zu finanzieren. Auf rund 82.000 Euro hat er das Gesamtbudget veranschlagt. Das Projekt wird auf viele Sponsoren verteilt. Geers ist als Mountainbike-Guide für Firmenevents zu buchen. Nach dem Rennen wird er Vorträge halten, einerseits von seinen Erlebnissen, andererseits darüber, was Unternehmen vom Leistungssport lernen können.
Aber: „In finanzieller Hinsicht ist es eine große Herausforderung, was ich mache. Es gab auch harte Phasen, und ich hätte schon zehnmal aufhören können. Meistens gehe ich mit einem dicken Minus aus den großen Ultracycling-Projekten heraus, aber ich kann meine Existenz sichern, weil meine Leistungen sehr positiv angenommen werden.“ Angst kennt Geers aber eben nur vor dem Zieleinlauf. Das Ultracycling mache ihm viel Spaß, und er möchte sich nicht aus finanziellen Gründen diktieren lassen, wo die Reise hingeht. Seine berufliche Zukunft ist noch undefiniert. Erste Priorität hat der aktive Radsport. Zweite Priorität der passive Radsport. Künftig wird Geers in die
Renndirektion des ,Race across Germany‘ von Flensburg bis Garmisch-Partenkirchen aufrücken.
Das Gefühl von Lustlosigkeit ist ihm fremd. Mentaltraining benötigt er nicht. „Wenn alles mit Fakten und Daten unterfüttert ist, gibt es keinen Grund zur Panik. Eigentlich liegt die Lösung meistens auf der Hand“, sagt Geers. Aufzugeben kommt, intakte Gesundheit vorausgesetzt, sowieso nie infrage. „Wie dumm wäre das, wenn ich mich zwei Jahre darauf vorbereite?“ Sein Leben sei weit davon entfernt, monoton zu sein, versichert Geers. Klar, er sei verbissen, seine Ziele zu erreichen. Vergangenes Jahr hat er gerade mal drei Tage Urlaub gemacht. Aber Geers versichert glaubhaft, dass sich alles richtig für ihn anfühle.
Gekünstelt wirkt nichts an diesem ,irren‘ Kerl. Geers redet sich geradezu in Euphorie, wenn er seine umfangreichen Datenbanken zu erklären versucht. Dort ist nicht nur vermerkt, wann, wo und wie lange er welche Form der Pause beim ,Race across America‘ einlegt, auch jegliche Lebensmittel, die er konsumiert, sind mit detailreicher Nährstoffangabe hinterlegt. Geers kocht sogar nach Datenbank. „Das ist schon etwas speziell“, gibt er zumindest zu.
Wenn ein Wort auf Fritz Geers passt, dann speziell. Sich selbst hat er etwas ganz Spezielles, wenn das RAAM
absolviert ist: sieben Tage Urlaub in Frankreich. Dann sei mal nicht alles durchstrukturiert, es darf Fast Food gegessen werden. Klingt so, als müsste Geers selbst nach dem Zieleinlauf in Atlantic City keine große Angst haben.