Der Mann im Lichtspielhaus

Wolfgang Würker schenkte dem deutschen
Fernsehen Dokumentarfilme über Albert Einstein und Dirk Nowitzki. Nach dem Studium der Physik in Göttingen entschied er sich für eine Karriere als Filmer und
Regisseur. Heute macht er Kino, erst in Witzenhausen, nun in Northeim. Die Geschichte über jemanden, der es liebt, Licht erst einzufangen, um es dann wieder von sich zu werfen.

Zur Person

Wolfgang Würker 

studierte Physik in Frankfurt und promovierte in Göttingen. Er schrieb Filmkritiken für das Göttinger Tageblatt und war Initiator des Göttinger Filmfests. Später wurde er Feuilleton-
Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und gründete Mitte der 1980er-Jahre zusammen mit Sylvia Strasser die Produktionsfirma PAOLO-Film. Über mehr als drei Jahrzehnte hinweg entstanden zahlreiche Dokumentationen für das öffentlich-rechtliche Fernsehen, meist für ZDF und ARTE, daneben auch Filme für Museen und private Auftraggeber. Seit 2019 Engagements in der Kinobranche (Witzenhausen, Hann. Münden), seit Januar 2025 Geschäftsführer der Neuen Schauburg Northeim.

Die Schauburg

Am 27. Januar 1923 eröffnete der Kapellmeister Fritz Krüger im Saal seiner Gaststätte ,Zur Altdeutschen‘ die ,Northeimer Lichtspiele‘. Das Kino hatte zunächst 165 Plätze und zeigte Stummfilme, die am Klavier live begleitet wurden. Anfang der 1950er-Jahre wurde die Schauburg renoviert und auf den modernsten Stand der damaligen Technik gebracht. Das Foyer erhielt das bis heute bestehende ,Trumpf‘-Kassenhaus. Als in den 1980er-Jahren die beiden anderen Lichtspieltheater Northeims, das CAPITOL-Theater und ,Die Kurbel‘, den Spielbetrieb einstellten, blieb die Schauburg als einziges Kino den Northeimern erhalten. 1997 hat Torben Scheller nach sorgsamer Re­novierung und Restaurierung das Kino unter dem heutigen Namen ,Neue Schauburg‘ wieder eröffnet. Am 1. Januar 2025 ein neuerlicher Betreiberwechsel. Marius Becker und Wolfgang Würker wollen die Neue Schauburg im Sinne Torben Schellers fortführen, als unverzichtbaren kulturellen Treffpunkt im Herzen der Stadt.

» Ich wollte verstehen, wie die Welt funktioniert. Wie Dinge voneinander abhängen und funktionieren.«

Es duftet nach Popcorn und Karamell, der Aufschrei echter Gefühle hallt nach. Das Foyer der Neuen Schauburg ist in einer Zeit stehen geblieben, als Humphrey Bogart, Marlene Dietrich und Heinz Rühmann größer waren als ein Mensch. Heute sind es bunte Figuren und muskulöse Schauspieler, die vom Filmplakat herunterschauen. Immer noch groß, aber lange nicht mehr so hell. Die Leinwand: riesig. Der Projektor: digital. Hinter der nostalgischen Fassade der Schauburg steht der Wettkampf zwischen romantischer Nostalgie und einem überschaubaren Budget. Und doch ist es eben dieser Charme, der Kino – die Schauburg – so besonders macht. Liebenswürdig macht. Einer, der sich verliebt hat, ist Wolfgang Würker. Zusammen mit dem Inhaber der Immobilie, Marius Becker, hat er das kleine Kino Anfang 2025 übernommen. Zuvor sammelte er Erfahrung als Kinobetreiber in Witzenhausen, als Dokumentarfilmer und Physiklehrer.

Wenn Wolfgang Würker über ,sein‘ Kino spricht, lässt sich seine Begeisterung an der Größe seiner Augen ablesen. Seine schlanken Hände zeichnen Linien in die Luft, streichen sanft über Papiere und Notizen. Als Naturwissenschaftler, Journalist und Filmemacher ist er immer gut vorbereitet. Was ihm das Leben nicht an Erfahrung abgespeichert hat, trägt er auf einem Zettel bei sich. Besucherzahlen aus dem vergangenen Jahr zum Beispiel. „Das ist schon ziemlich deutlich“, sagt er mit Wehmut in der Stimme. Wer heutzutage ein kleines Kino betreiben möchte, um Geld zu verdienen, mache sich etwas vor.

Für Wolfgang Würker ist das Arbeiten in Northeim kein Rückzug ins Provinzielle – sondern der nächste Akt in einem ungewöhnlich konsequenten Lebenslauf. Einer, der zwischen Wissenschaft und Kunst, zwischen Fakten und Gefühl, zwischen öffentlich-rechtlicher Prime Time und stillen Landkinos pendelt. Einer, der aus der Welt des Sehens nie ausgestiegen ist – und es jedem zeigen möchte.

Wie die Welt funktioniert

„Ich wollte verstehen, wie die Welt funktioniert. Wie Dinge voneinander abhängen und funktionieren“, sagt er über seine erste Leidenschaft: die Physik. Er erinnert sich an einen Lehrer mit schrägem Gang, der ihn für das Fach begeisterte. „Er wippte mit dem Oberkörper hoch und runter, weil das angeblich die energetisch günstigste Form der Fortbewegung sei“, erzählt Würker. „Er hatte Sinn für das Schrullige und Abgelegene. In seinem Unterricht sprang der Funke auf mich über.“

Nach dem Abitur studierte Wolfgang Würker Physik und Mathematik in Frankfurt, zur Promotion wechselte er an die Universität nach Göttingen. Als es sich abzeichnete, dass er eine Doktorarbeit im Bereich der Halbleiter- und Kristallphysik in Göttingen machen könnte, griff er zu. Zum ersten Mal verließ Würker damit seine hessische Heimat. „Ich bin in Hanau geboren und zur Schule gegangen und freundete mich mit dem südlichen Niedersachsen an“, sagt Würker. „Damals konnte ich nicht ahnen, dass ich Zeit meines Lebens entweder im erweiterten Rhein-Main-Gebiet oder in Göttingen zu Hause sein werde.“

Parallel zum Studium gründete er mit anderen die Kino­thek Göttingen – aus der später das Göttinger Filmfest hervorging. „Es gab also schon sehr früh das Interesse für zwei so unterschiedlichen Gebiete, für die Physik sowie für Film und Kino.“

Die Naturwissenschaft bleibt für Wolfgang Würker bis heute ein Denkgerüst, das ihm hilft, Komplexität zu ordnen. In der Mathematik fand er Struktur, in der Physik das offene Fenster zum Verständnis des Universums. Doch bald drängten sich andere Bilder in sein Leben. Noch bevor seine wissenschaftliche Karriere richtig Fahrt aufnehmen konnte, hatte sich die Tür zur Kultur längst geöffnet – „sie stand nicht nur offen, sie war nicht mehr zu schließen“. Würker war ein Grenzgänger, und er ist es bis heute. 

Die FAZ, die Filmsets und ein Basketballer

Es folgten Jahre als Redakteur im Feuilleton der Frank­furter Allgemeinen Zeitung, ein Sprungbrett, das ihn in die Welt der bewegten Bilder führte. „Monika Zimmermann, damals für den Kulturteil im Göttinger Tageblatt zuständig, war nach Frankfurt ins Feuilleton der FAZ gewechselt und empfahl mich als Filmkritiker.“ Als Physiker wie auch als Redakteur einer großen Tageszeitung war es ihm wichtig, Themen solide zu recherchieren. Neugierde war sein Antreiber und das Vergnügen, Neues kennenzulernen, dabei aber nie den Boden einer guten Recherche zu verlassen.

   „Nach einigen Jahren wollte ich dann nicht länger über die Arbeit anderer schreiben, sondern selbst Filme machen“, sagt er. Sein erster Dokumentarfilm? Gemeinsam mit Joachim Kreck drehte er ein Porträt des Göttinger Basketballtrainers Terence Schofield. 

  Wenig später gründete er mit Kollegin und Filme­macherin Sylvia Strasser die Produktionsfirma PAOLO-­Film.
„Als Physiklehrer bewegst du dich im schulischen Rahmen, folgst Lehrplänen, und irgendwie ist das Leben für dich organisiert und strukturiert“, sagt Wolfgang Würker. „Als Filmemacher betrittst du den freien Markt. Plötzlich bist du für vieles verantwortlich.“ Mit der ­neuen Firma hatten sie Glück: Große Reportagen und Dokumentationen führten sie sofort nach Hollywood oder an das Set von Bernd Eichingers ,Name der Rose‘ mit Schauspieler Sean Connery. „Wir hatten als Filmemacher schnell Fuß gefasst und haben im Lauf mehrerer Jahrzehnte viele Dutzend große Dokumentationen gemacht, meist für ZDF und ARTE, aber auch viele kleinere Filme für Museen und private Auftraggeber.“

Die sogenannte Einschaltquote begreift er schnell als die neue bedeutende Währung. Seine Filme erzählen von Expeditionen mit der Concorde über den Atlantik,
von Drehs in Moskau und Hollywood, über Schnee und Eis, über Feuerwerke oder die faszinierenden Nordlichter. Und ganz persönlich über den Basketballer Dirk ­Nowitzki und Physiker wie Albert Einstein. „Als Physiker wie auch als Redakteur war es mir immer wichtig, Themen solide zu recherchieren“, sagt er. Den Darsteller für Einstein entdeckten sie in der Frankfurter Kneipe ,Casablanca‘. „Er sah ihm zum Verwechseln ähnlich.“ Die Neugier ist geblieben, die Methode hat sich verfeinert. Wolfgang Würker ist keiner, der sich vom Spektakel blenden lässt. Aber einer, der das Staunen erhalten hat.

Dann kam das Kino

Zum Kino kam Würker schließlich über einen Freund: Ralf Schuhmacher, Kinobetreiber in Witzenhausen, der 2019 überraschend verstarb. „Ein neuer Auftrag fürs Fernsehen wollte gerade nicht zustande kommen, das ­Capitol in Witzenhausen suchte jemanden für Programm und Organisation – da habe ich einfach zugesagt.“

Was dann folgte, war typisch Würker: Kino in der ­Kirche, Open-Air im Klosterhof, ein Wiedereröffnungsfilmhaus in Hann. Münden. Das Filmemachen hat ihn zwar nicht losgelassen. Aber es war anders. „Anfangs waren die Macher im und für das öffentlich-rechtliche Fernsehen noch eine verschworene Gemeinschaft.“

„Wie es weiterging, ist bekannt: Inzwischen haben die kommerziellen Aspekte die Oberhand gewonnen, bei vielen Sendern steht die Unterhaltung im Zentrum, und die muss nicht mal mehr besonders anspruchsvoll sein“, sagt er ­kritisch. Es laste ein hoher Druck auf den öffentlich-­rechtlichen Sendern. „So wandern beispielsweise anspruchsvolle Sendungen über Literatur oder Kino heute ins Nachtprogramm, sofern es sie überhaupt noch gibt.“

Sylvia Strasser hat das noch nicht losgelassen. Während sie im Sommer 2025 einen Doku-Film fürs Kino in Italien dreht, plant Wolfgang Würker die Zukunft der Neuen Schauburg. „Ich hätte es allein nicht gemacht“, sagt er offen. Zu groß sei das finanzielle Risiko. Über Jahrzehnte war Torben Scheller Betreiber des Kinos. Sein Abschied und die Anfrage zur Übernahme kam „zur richtigen Zeit“, sagt Würker. „Warum nicht meine Ideen von Kino und Programmkultur nochmal an einem anderen Ort in die Realität umsetzen?“

Mit Marius Becker, dem Eigentümer des Gebäudes, fand sich ein Mitstreiter. Gemeinsam setzen sie auf Entstaubung und Erneuerung, auf Beharrlichkeit und Leidenschaft. Und entwickeln Ideen, um Kino wieder zu einem Ort der Gemeinsamkeit, des Treffens und Erlebens zu machen.

Kafka, Kekse und Kulturarbeit

„Im Kino gewesen. Geweint.“ Kafka schrieb das in sein Tagebuch. Würker zitiert es gern. Nicht aus Schwärmerei, sondern weil es einen Punkt trifft, den er ernst meint: Kino als Ort der Begegnung, nicht nur mit Geschichten, sondern auch mit sich selbst.

„Liebe und Tod, Lachen und Weinen, Freude und Enttäuschung. In der Dunkelheit und Anonymität des Kinosaals begegnet man im besten Fall auch sich selbst.“ Er will, dass das Kino mehr ist als ein Filmabspielort. Es soll ein Treffpunkt werden. Ein Ort für Musik, Lesungen, Kooperationen mit Theater, Gleichstellungsstelle, Stadthallenverein. Es geht ihm um nichts Geringeres als das kulturelle Zentrum einer kleinen Stadt. „Ein früherer Slogan lautete: Die Mitte der Welt ist da, wo man sich trifft: Im Kino.“

Und vielleicht ist es genau das, was er meint, wenn er vom Kino als „therapeutischem Raum“ spricht. Ein Ort der Resonanz in einer immer lauteren Welt. Vor allem geht es aber um den Film. „Natürlich gibt es Kriterien, was Qualität bedeutet und was nicht. Das gilt für Programme im Fernsehen wie die Filme im Kino.“ Dabei fragt er sich: Wie interessant und relevant ist ein Thema? Wie wird es umgesetzt? Mit wie viel Fantasie und Fortune gehen die Macher ans Werk? Ist ihr Konzept am Ende aufgegangen? „Am Ende sieht jeder Zuschauer einen anderen, seinen eigenen Film.“

Realitätssinn trifft Vision

Wolfgang Würker ist kein Träumer. Er kennt die Zahlen. Und die sehen nicht gut aus. Der Besucherrückgang in Kinos sei dramatisch, sagt er. 20 Prozent weniger Zuschauer im Vergleich zu 2023. Das steht so auf seinem Zettel. „Mit der Schauburg ist es ein Experiment. Das heißt, es kann auch schief gehen“, sagt Würker. „Aber wir hoffen, dass es der Beginn von Etwas ist. Eine Grundlage für eine neue Zukunft. 

Die Pandemie hat ihre Spuren hinterlassen – und das Streaming hat längst auch das ältere Publikum erreicht. „Selbst die, die bis dahin nie einen Kinofilm im Netz sehen wollten“, sagt Würker, „haben inzwischen gelernt, mit Netflix, Amazon oder Apple umzugehen.“

Hinzu kommt: Viele Filme sind nicht mehr für die Leinwand gedacht. Und selbst Klassiker wie Indiana Jones bekommt man nicht mehr zu sehen – aus lizenzrechtlichen Gründen. „Das ist heute im Kino nicht mehr möglich.“ Und dennoch: Er macht weiter. In den ersten Monaten hat sich viel getan. Wände wurden gestrichen, neue Heizkörper montiert, eine PV-Anlagen installiert und der Ton und das Licht verbessert. „Wir haben, so banal es klingt, aufgeräumt und sauber gemacht.“ Kino als Form des Widerstands. Gegen das Vergessen. Gegen die Gleichgültigkeit. Gegen die eigene Resignation.

Kirche, Kino, Kopetzky

Die Pläne für die zweite Jahreshälfte sind konkret: Eine monatliche Reihe ,Kirche und Kino‘, ein ,Dienstags um Drei‘-Seniorenkino, Lesungen mit Herfried Münkler und Steffen Kopetzky. Und vielleicht doch noch ,Die Blechtrommel‘ mit Volker Schlöndorff persönlich. „Keep up the good work!“, schrieb ihm der 86-Jährige. Würker hebt die Augenbraue. Das ist zwar eine Absage des Oscar-Preisträgers, ein neues Filmprojekt sei schuld. Aber er schrieb ihm auch: „Bis zu einem anderen Mal!“

Würker denkt in Programmen, in Formaten, in Begegnungen. Nicht im schnellen Effekt. Sondern im langen Atem. In Verbindung. Für ihn ist Kino nicht nur ein Ort – es ist eine Haltung. Eine Möglichkeit, im Gespräch zu bleiben „Wir wollen mit dem Theater der Nacht zusammenarbeiten, mit der Gleichstellungsbeauftragten des Landkreises, mit dem Förderverein der Stadthalle und vielen anderen mehr.“ Zusammen mit der Northeimer Initiative Kunst und Kultur ist beispielsweise die Sonntagsmatinee schon zu einem sehr erfolgreichen Format geworden. 

Die magischen Momente

Vielleicht ist es kein Zufall, dass einer wie Wolfgang Würker am Ende wieder dort angekommen ist, wo er begonnen hat: im Kinosaal. Ein dunkler Raum, in dem Menschen still werden. In dem Aufmerksamkeit wächst, und manchmal auch Erkenntnis. In dem Gemeinschaft entsteht, wo sonst Vereinzelung droht.

Er sagt, er sei noch immer Physiker. Und dann wieder nicht. Die rätselhaften Momente, die „nicht so leicht zu erklären oder gar zu beweisen“ seien, die faszinieren ihn heute mehr. Er findet sie auf der Leinwand. Und schafft ihnen einen Raum. Nicht als Forscher, nicht als Kritiker, nicht als nostalgischer Träumer – sondern als jemand, der weiß, wie viel Arbeit hinter dem Licht steckt. Und wie viel Hoffnung im nächsten Abspann liegt.

„Die rätselhaften und magischen Momente von Kinofilmen, gerade die, die wir nicht mehr so genau beschreiben und nachvollziehen können, wovon wir aber eine Ahnung bekommen, die uns anregen oder träumen lassen – dies alles macht uns im Kino reicher.“ ƒ

TOP

entdeckt, entwickelt & erzählt Erfolgsgeschichten