Wein aus Göttingen – Ein rares Tröpfchen

Leichte Zitrusnoten und das Aroma reifer Beeren unterm Gaumen – Apotheker Michael Winkler betreibt Weinanbau vor den Toren Göttingens.

»Man wächst hinein, lernt bei jedem Wachstumsschub der Reben dazu«

Leichte Zitrusnoten und das Aroma reifer Beeren unterm Gaumen – Apotheker Michael Winkler betreibt Weinanbau vor den Toren Göttingens.

Zeitsprung. September 2020. Prall und saftig hängen die Trauben von Neu-Winzer Michael Winkler an den Reben. Richtung Südosten fällt der Blick auf Göttingen. In Reih und Glied stehen Hunderte Weinstöcke auf der ,Finkenbreite‘, einem Hang nördlich der Stadt in der Gemeinde Bovenden. Das Weinlaub raschelt während der Lese im Wind, Erntehelfer bringen die Trauben in Eimern zum schmalen Traktor. Der auf 200 Metern Höhe gelegene Weinberg wirkt zwischen den teilweise abgeernteten Weizen-, Raps- und Zuckerrübenfelder des angrenzenden Leinetals etwas fremd. Noch … Michael Winkler gehört zu den 38 Neu-Winzern in Niedersachsen, die seit 2016 kommerziell Wein anbauen dürfen. Und das Potenzial für mehr im Norden ist da.

Auf seinem 2,8 Hektar großen Weinberg ist an diesem Herbstwochenende einiges los. Freunde, interessierte Agrarstudierende aus Göttingen, ein befreundetes Winzerpaar und natürlich seine Familie helfen bei der ersten größeren Lese mit. Wein ist eine Kultur mit Familienanschluss.

Winkler nimmt ein kleines Rohr zur Hand. Darin befindet sich eine vergrößernde Optik. Er gibt ein paar Tropfen Traubenmost auf eine Scheibe im Rohr und schaut hindurch: „85 Grad Oechsle, das ist ein guter Wert,“ sagt der Jungwinzer. Das Rohr ist ein Refraktometer und Grad Oechsle ein wichtiger Wert, um zu bestimmen, ob aus den Weintrauben – in diesem Fall der Rebsorte Solaris – auch in Niedersachsen ein gescheiter Wein werden kann. Oechsle gibt, kurz gesagt, den Zuckergehalt im Traubenmost, dem unvergorenen Saft, an. Und der ist eine Voraussetzung dafür, ob der Wein auch lecker wird.

Eine weitere Voraussetzung für guten Wein ist die sorgfältige Ernte. Seine Ehefrau Dunja schneidet mit einer feinen Zweigschere die reifen Trauben von den Reben. Dann kontrolliert sie, ob die Beeren gesund sind: „In diesem Jahr haben die Wespen einen Teil der Trauben angefressen. Sie wissen auch, was gut schmeckt.“ Die verdorbenen Beeren schneidet sie einzeln aus den Trauben heraus – nur die gesunden landen im Sammeleimer.

Ein Weinberg ist nicht nur das Werk eines Einzelnen, es braucht viele starke Menschen. „Man wächst hinein, lernt bei jedem Wachstumsschub der Reben dazu,“ erzählt Michael Winkler. Noch gleicht die Arbeit auf dem Weinberg, der etwa so groß ist wie vier Fußballfelder, der Arbeit von Sisyphos. „Man fängt vorne an, und wenn man hinten ist, geht es wieder von vorne los“, erzählt der 56-Jährige und lächelt dennoch zufrieden. Nur ertraglos wie in der griechischen Mythologie soll die Arbeit auf dem Weinberg Finkenbreite nicht sein. Das Ziel sind erstklassige Weine. Und die Voraussetzungen dafür sind gut. Durch die Hanglange können Spätfröste weniger Schaden anrichten, weil die kalte Luft gut ,abfließen‘ kann, und die Sonne sorgt in der Südost-Ausrichtung schnell für Wärme.

Die präzise Handarbeit, wenig Pflanzenschutzmittel und mechanische Unkrautbekämpfung gehören von Anfang an zu Winklers Philosophie und Anspruch. „Wir wollen von vornherein gute Qualität in den Tank bekommen und nicht hinterher korrigieren, zum Beispiel mit Schwefel.“ Ob sich der Aufwand wirklich gelohnt hat, wird sich erst im nächsten Frühjahr zeigen. Erst nach einem halben Jahr Gärung, Verarbeitung und viel Ruhe ist der Wein reif für den Genuss.

Den Jahrgang 2020 verarbeitet Familie Winkler nicht selbst, sondern lässt ihn bei ­einem Winzer in Sachsen-Anhalt ausbauen. Rund 2,5 Tonnen sind in diesem Jahr zusammengekommen – „das ist immer noch eine Versuchsmenge.“ Solaris, Souvignier gris und Riesling werden zunächst einzeln vergoren und ausgebaut. „Hinterher gucken wir mal, wie wir die Weine verschneiden“, so der Winzer. Eine Göttinger Cuvée wird entstehen. Allein der Genuss der reifen Solaris-Trauben bringt die Fantasie in Schwung: In der Nase verbreiten sich leichte Zitrusnoten, unterm Gaumen entfalten die Aromen reifer Beerenfrüchte ihre betörende Wirkung. Das macht Lust auf Wein aus Niedersachsen.

Schon ein Jahr zuvor haben die Winklers in kleinem Rahmen zu Hause eine Cuvée aus Muscaris und Solaris hergestellt. „Das war schon ein sehr gutes Tröpfchen,“ sagt ­Michael Winkler und lacht. „Fruchtiges Bouquet im Glas und trocken – so, wie wir das mögen,“ ergänzt seine Frau. Perspektivisch will Familie Winkler alles selbst machen: von der Rebe bis zur Flasche.

Es war um seinen 50. Geburtstag herum, als sich Michael Winkler vorgenommen hat, neben seinem Hauptberuf als Apotheker in Göttingen noch etwas anderes anzufangen. Ein Faible für Wein, für den Genuss und das Lebensgefühl hatte er schon immer. Er ist ,am Tor zum Rheingau‘ geboren, einer Region in Hessen, wo der Weinanbau Tradi­tion hat. So kam es dazu, dass er sich umgehört hat, ob und wie in Südniedersachsen Wein professionell angebaut werden kann. Und damit ist er nicht allein. Die Lust, etwas Besonderes zu machen, und die Leidenschaft für Wein sind es, die viele der Winzerpioniere antreiben. Es sind Lehrer dabei, ein Architekt, Restaurantbesitzer und auch Landwirte.

2016 hat das Land Niedersachsen 7,5 Hektar Weinanbaufläche genehmigt – eine EU-­Verordnung hat das möglich gemacht. Winkler bekam rund 2,8 davon zugesprochen – bis heute eine der größten zusammen­hängenden professionellen Anbauflächen in diesem Gebiet. Mittlerweile sind es bundesweit fast 25 Hektar, Tendenz steigend.

Wird Niedersachsen also einmal Weinland? Vielleicht, aber das wird dauern. „Die Perspektiven dafür sind zumindest nicht schlecht – der Klimawandel macht es möglich“, sagt Jan Brinkmann, Vorsitzender des ,Niedersächsischen Weinanbauverbandes‘ , in dem mehr als die Hälfte der 38 Weinanbauer des Bundeslandes organisiert sind. „Wenn auch noch die regionalen Voraussetzungen stimmen“, so Brinkmann, „kann der Weinanbau hier also durchaus gelingen.“ Der Landwirt selbst glaubt an den Erfolg und möchte für seinen Betrieb in Bad Iburg neben Ackerbau und Sauenzucht eine weitere wirtschaft­liche Säule aufbauen. Wie schnell die Anbau­fläche aber wächst, ist gesetzlich streng geregelt – im Weingesetz. Um fünf Hektar darf die Anbaufläche pro Jahr landesweit wachsen, das sind etwa sieben Fußballfelder, in bestimmten Fällen auch mehr. Aktuell gibt es bei uns noch immer ein paar unbestellte Flächen – und so ist niedersächsischer Wein, und bleibt es noch sehr lange, ein ganz rares Tröpfchen.

Denn: Einen neuen Weinberg aufzubauen, ist eine Lebens- und Generationenaufgabe zugleich. Die Investitionen sind nicht unerheblich. 25.000 bis 30.000 Euro pro Hektar kostet es allein, den Berg anzulegen. Die ungezählten Arbeitsstunden kommen noch oben drauf. Arbeit gibt es immer wieder, das ganze Jahr über. Vom Winter bis zum Frühlingsbeginn werden die Reben geschnitten. Im Frühling werden die jungen Triebe hochgebunden, einige Rebsorten brauchen mehr Hilfe zum Ranken, andere halten sich selbst an den quer­gespannten Drähten fest. Später wird das Unkraut unter den Reben mechanisch mit einem sogenannten Schlegel entfernt, damit es den Rebstöcken nicht Nährstoffe und Wasser wegnimmt. Je nach Bedarf setzt Michael Winkler auch Fungizide gegen Pilzbefall ein. Die meisten seiner Rebsorten gelten als pilzresistent. Darauf würden die meisten Weinanbauer in Niedersachsen setzen, so der Vorsitzendende Brinkmann. Grund sei das feuchtere Klima im Norden. Mit pilzresistenteren Sorten könne der Einsatz von Spritzmitteln massiv reduziert oder sogar ganz darauf verzichtet werden. Jeder dritte Verbandsanbauer produziert in Niedersachsen nach Bio-Kriterien.

Und wie schmeckt er nun, der erste Göttinger Wein? Hat sich die harte Arbeit gelohnt? Herbst 2021 – genau ein Jahr ist seit der Lese vergangen. Stolz präsentiert Michael Winkler seine vier raren Tröpfchen, Jahrgang 2020: zunächst eine Weißwein-­Cuvée aus Solaris und Muscaris. Bei einem ersten Atemzug durch die Nase entfaltet sich ein leichter Duft von Honig­melone – unterm Gaumen dann eine blumige Note. Es ist ein leichter, spritziger und trockener Sommerwein.

Der Riesling von der Finkenbreite hat im Glas ein typische blassgelbe bis grünlich-gelbe Farbe. Er prickelt in der Nase. Unterm Gaumen wird die Vorfreude auf den Genuss durch eine angenehme Säure und Pfirsicharomen ­erfüllt. Daraus hätte der Apotheker auch gern einen Sekt gemacht, sagt er. Vielleicht ja später.

Im Glas mit Souvignier gris spiegeln sich die reifen Reben wider. Obwohl es ein Weißwein ist, sind die Beeren leicht rötlich. Das verleiht dem Wein eine interessante Apricotfarbe, die gut zum runden Aroma nach Aprikosen und Quitten passt.

Der vierte Wein des Jahrgangs ist ein Rosé-Cuvée aus Pinotin und Cabernet cortis. Die Farbe verspricht ein beeriges Aroma – und so schmeckt er auch: intensiv fruchtig. Kurzum: Das Warten hat sich gelohnt – sie schmecken Erfolg versprechend.

Um den Wein von der Sonnenseite Südniedersachsens irgendwann einmal komplett selbst herzustellen, braucht Familie Winkler noch eine passende Immobilie. Die Finger danach sind schon aus­gestreckt. Dort soll der Wein dann dauerhaft zu kaufen sein – aber bis dahin wird noch ein bisschen Zeit ins Land ziehen. Die ersten Flaschen von Winkler gibt es dennoch bereits im Handel – wenn auch bisher nur in seiner Apotheke. ƒ

Fotos: Alciro Theodoro da Silva & Jan Fragel
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