Die leise Aufgabe der Musik
Nicholas Milton ist Chefdirigent und künstlerischer Leiter des Göttinger Symphonieorchesters (GSO). Inzwischen hat er sich mit einer Mischung aus klassischen und popkulturellen Konzerten in die Herzen der Region gespielt und das Orchester durch die Pandemie begleitet. Mit faktor sprach er über die Rolle der Musik in seinem Leben und über den kulturellen Reichtum, den das Orchester einer Stadt wie Göttingen liefert.
Zur Person
Nicholas Milton ist seit 2018
Chefdirigent und künstlerischer Leiter des Göttinger Symphonieorchesters. Er wurde 1967 in Sydney geboren und im Alter von 19 Jahren zum jüngsten Konzertmeister Australiens ernannt. Seine Ausbildung führte ihn an das Sydney Conservatorium of Music, an die Michigan State University, das Mannes College of Music und die Juilliard School of Music. Sein Studium schloss er mit dem Master in Violine, Dirigieren, Musiktheorie und Philosophie ab. Für seine Verdienste wurde er mit der Aufnahme in den ,Order of Australia‘ geehrt. Am 13. Feburar spricht er im Rahmen der faktor-Business-Lounge.
» Als Dirigent hat man ein enormes Spektrum zur Verfügung, um etwas auszudrücken. «
Herr Milton, viele Europäer träumen vom Auswandern nach Australien. Was zieht Sie als Australier nach Deutschland?
Obwohl ich Australien und mein Heimatland sehr liebe, fasziniert mich die Orchesterkultur in Deutschland. Für einen Dirigenten ist es ein besonderes Erlebnis, mit möglichst vielen Orchestern zusammenzuarbeiten. Besonders freue ich mich darüber, das Orchester in Göttingen gefunden zu haben, das eine außergewöhnliche Qualität bietet. Als Chefdirigent habe ich die Chance zu zeigen, welche Bedeutung ein Orchester für eine Stadt haben kann. Seine Aufgabe ist es, auf vielfältige Weise Schönheit in die
Gesellschaft zu tragen, und das ist für mich ein großes Privileg. Das GSO gibt jedes Jahr eine beeindruckende Anzahl an Konzerten im ganzen Bundesland – das macht es zu etwas ganz Besonderem.
Wie haben Sie Ihren Weg zur Musik gefunden?
Durch ein Schulangebot kam ich zur Musik. Meine
Eltern selbst waren keine Musiker – mein Vater stammt aus Ungarn, meine Mutter aus Frankreich. In der Schule hatten meine vier Brüder und ich die Möglichkeit, Geige zu lernen, und schon früh habe ich gespürt, dass Musik etwas Besonderes in mir auslöst. Es war für mich immer klar, dass ich Musik machen wollte, und ich hatte nie den Wunsch, etwas anderes zu tun. Auch meine Brüder sind Musiker geworden. Als es dann um das Studium ging, führte unser Weg in die USA. Ich besuchte die Juilliard School, sammelte meine ersten Erfahrungen als Dirigent und spielte einige Jahre im Orchester. Übrigens: Historisch betrachtet gab es lange keine Dirigenten – Mozart leitete seine Werke noch vom Klavier aus. Der Beruf des Dirigenten entwickelte sich erst später aus dem Orchester heraus. Diesen Übergang habe auch ich vollzogen: Ich habe die Geige zur Seite gelegt und den Taktstock übernommen.
Wenn man Ihnen beim Dirigieren zusieht, hat man das Gefühl, die Musik fließt durch sie hindurch. Was macht das Dirigieren für Sie aus?
Im Englischen bedeutet das Wort ,Conductor‘ sowohl Dirigent als auch elektrischer Leiter – eine treffende Metapher, da die Musik durch den Dirigenten zu den Musikern fließt. Ich bin das verbindende Element zwischen dem Komponisten und den Musikern. Dazu kommen weitere leitende Elemente wie die Luft, die die Musik zum Publikum trägt und sie weiter hinaus ins Universum transportiert, wo sie zu etwas Neuem und Wunderschönem werden kann. Musik ist einfach unglaublich. Als Dirigent hat man ein enormes Spektrum zur Verfügung, um etwas auszudrücken.
Was macht das Göttinger Symphonieorchester für Sie
besonders?
Dieses Orchester ist ein echtes Juwel der Stadt. Was das Göttinger Symphonieorchester leistet, ist mitunter anspruchsvoller als die Arbeit anderer großen Orchester wie zum Beispiel der Berliner Philharmoniker. Während diese typischerweise drei Tage proben und dann mit einem Programm fünf Konzerte geben, die auf Reisen präsentiert werden, haben wir in Göttingen nicht genug Publikum für eine solche Anzahl an Aufführungen mit dem gleichen Programm. Unsere Musikerinnen und Musiker spielen daher oft zwei bis drei unterschiedliche Programme pro Woche an verschiedenen Orten. Es ist unglaublich wichtig, dass diese verschiedenen Programme für die unterschiedlichen Spielorte und Zielgruppen angeboten werden, denn das ist eine unserer Kernaufgaben – wir sind das musikalische Rückgrat der Region. Die Musikerinnen und Musiker machen das mit Herzblut, Leidenschaft, Engagement und Begeisterung. Ich habe unendlichen Respekt vor ihnen, weil sie so viel leisten und es aus Verbundenheit zu unserem Publikum und Liebe zur Musik tun.
Wie haben Sie dem Göttinger Symphonieorchester Ihre persönliche Note verliehen?
Jeder Dirigent bringt einem Orchester etwas Eigenes. Ich hatte das Glück, auf großartige Vorgänger folgen zu dürfen, die viele Jahre in Göttingen gewirkt und dem Orchester ihre ganz persönliche Prägung verliehen haben. Musik ist eine endlose Reise, in die man immer
tiefer eintauchen kann. Mein Ziel war es, intensiv in die Musik einzudringen, dabei jedoch die Offenheit gegenüber dem Publikum zu bewahren. Ich möchte eine enge, persönliche Verbindung zum Publikum schaffen, damit es die Art und Weise, wie wir spielen, spüren kann – voller Engagement, Liebe, Leidenschaft, Begeisterung und Freude. Und das ist besonders wichtig in einer Zeit, die so herausfordernd ist.
Auch für das Orchester ist es schwierig. Aktuell wird die Finanzierung diskutiert
Es wird oft vergessen, welchen kulturellen Reichtum das Orchester dieser Stadt bringt. Wir haben ein großartiges Publikum. Das Göttinger Symphonieorchester wurde ursprünglich aus einer Bürgerinitiative heraus gegründet, weil die Menschen hier ein Orchester wollten, das ihnen Musik nahebringt. Dieser Wunsch besteht bis heute.
Unser treues Publikum hat uns sogar während der Coronazeit unterstützt. Jetzt da wir in die Stadthalle zurückgekehrt sind, konnten wir die Ticketverkäufe sogar um 42 Prozent steigern.
Sie haben das Orchester durch die Pandemie begleitet. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Wir haben gespürt, dass unser Publikum sich danach sehnte, Musik wieder als ,Nahrung für die Seele‘ zu genießen. Wir haben Videos produziert und konnten auch lokal auftreten. Während andere Orchester pausierten, spielten wir weiter, da wir in der geräumigen Lokhalle auftreten durften. So konnten wir nicht nur live spielen, sondern dabei auch Aufnahmen machen. Wir sind als Orchesterfamilie zusammengeblieben und haben diese schwierige Zeit gemeinsam gemeistert. Heute haben wir mehr Publikum als vor der Pandemie. Während andere Orchester noch mit den Nachwirkungen kämpfen,
haben wir diese Phase bereits überwunden.
Wie geht es jetzt weiter für das Orchester?
Mein Wunsch ist es, dass sich das Orchester kontinuierlich weiterentwickelt und fest im Herzen Göttingens verwurzelt bleibt. Im Sommer nahmen 200 Musiker an
unserem ,Symphonic Mob‘ in der Innenstadt teil, und man konnte sehen, wie viel Freude das verbreitet hat. Es gibt unzählige Möglichkeiten, durch Musik Freude zu schenken, und das muss weitergehen – besonders in einer Zeit, in der es so viel Konflikt und Gewalt auf der Welt gibt. Unsere Aufgabe als Musiker ist es, Freude zu bringen. Und wir tun das still und bescheiden.
Wir pflanzen einen Baum der Freude, ohne zu wissen, wie er sich entfalten wird. Doch wenn wir ein Kind glücklich machen, spüren wir, dass unsere Musik einen positiven Unterschied macht. So war es auch bei mir als Kind in Sydney, Australien, als ich mit der Schule mein erstes Konzert besuchte. Wir saßen auf dem Boden der Stadthalle, und ich erinnere mich immer noch an den Klang, der mich verzauberte. Wenn wir mit unseren Angeboten bewirken können, dass eine Person mit Musik durch ihr Leben geht, dann haben wir unser Ziel erreicht. Ich wünsche mir, dass wir weiterhin auf unsere
besondere Weise musizieren und die einzigartige Verbindung zu unserem Publikum leben können.
Was können wir von der Musik fürs Leben lernen?
Musik ist eine universelle Sprache, die wir alle sprechen und verstehen können – getragen von Liebe, Freude und Respekt. Die Aufgabe eines Dirigenten ist es, die Musiker dazu zu inspirieren, ihr Bestes zu geben. Wir formen nicht Holz, Marmor, Stahl oder Ton – wir gestalten Zeit. In der Zeit eines Konzerts entsteht die Gelegenheit für einen Moment der Stille. Diese Zeit berührt den Kopf, das Herz und die Körperzellen des Publikums. Gemeinsam mit dem Publikum begeben wir uns auf eine Reise durch die Zeit. Dann ist der Moment vorüber, und für manche hat sich dadurch etwas verändert. Diese Reise mit dem Publikum ist das Entscheidende, ganz gleich, ob ich in Australien oder in Deutschland bin. Es ist die Musik, die zählt.
Vielen Dank für das Gespräch.