Die kleine Bühne der großen Träume
Seit mehr als 20 Jahren gibt es in Northeim das ,Theater der Nacht‘. Gewachsen und gebaut aus einer Idee von Ruth und Heiko Brockhausen, ist das Puppen- und Figurentheater alles andere als ein Kinderspiel. Ein Gespräch über die Kunst als letzte Zuflucht großer und kleiner Träume und was diese Unternehmung wirklich wert ist.
Der Drache besiegt die Feuerwehr
Das Theater der Nacht ist ein in Northeim ansässiges Figurentheater, das in einem ehemaligen Feuerwehrhaus untergebracht ist. Gegründet von Ruth und Heiko Brockhausen, hat es sich zu einem einzigartigen kulturellen Zentrum entwickelt, das Puppentheater für Erwachsene und Kinder gleichermaßen anbietet. Das Theater ist für seine fantasievolle Architektur bekannt, die bereits von außen mit einer Drachentreppe und einer ,Nase‘ die kreative und magische Atmosphäre widerspiegelt, die im Inneren auf der Bühne entsteht.
Neben klassischen Puppenaufführungen legt das Theater auf soziale und pädagogische Projekte einen starken Fokus. Puppen werden in therapeutischen Kontexten eingesetzt, um
mit Kindern, älteren Menschen und Menschen in schwierigen Lebenssituationen zu arbeiten. Es ist ein Ort der Fantasie, der Gemeinschaft und des sozialen Engagements.
Das Theater der Nacht bietet nicht nur Aufführungen, sondern auch Workshops und Projekte an, die Menschen aller Altersgruppen einbeziehen.
» Wir wollten, dass das Haus bereits von außen zeigt, was hier passiert. «
Die Entstehung außergewöhnlicher Orte beginnt oft mit einem außergewöhnlichen Traum. So war es auch beim Theater der Nacht in Northeim, einem Ort, der sich der Kunst des Puppenspiels verschrieben hat und dabei weit mehr ist als nur ein Theater. Was Ruth Brockhausen und ihr Mann Heiko vor mehr als 20 Jahren erschaffen haben, ist ein kulturelles Juwel, das Fantasie, Gemeinschaft und sozialen Wandel miteinander vereint. Ihre Reise begann mit einer mutigen Entscheidung: Sie nahmen ein altes, verlassenes Feuerwehrhaus und verwandelten es in einen lebendigen Kulturraum – eine Herausforderung, die nicht nur künstlerisches Gespür, sondern auch Durchhaltevermögen und Überzeugungskraft erforderte.
Bereits der erste Blick auf das Theater der Nacht verrät, dass es sich um einen besonderen Ort handelt. Das markante Gebäude, mit seiner auffälligen Drachentreppe und der ,Nase‘, die dem Haus eine fast menschliche Präsenz verleiht, scheint geradewegs aus einem Märchen zu stammen. Doch dieser architektonische Charme ist nicht nur bloßer Selbstzweck. Die Gestaltung des Gebäudes spiegelt die Philosophie des Theaters wider: Es ist ein Ort, an dem Fantasie und Kreativität erlebbar werden. Hier ist nichts gewöhnlich, und genau das zieht sowohl Künstler als auch Besucher in ihren Bann.
Die Geschichte des Theaters beginnt mit Ruth Brockhausens Vision, einen festen Ort für das Puppenspiel zu schaffen. Gemeinsam mit ihrem Mann gründete sie das Theater ursprünglich als reisendes Puppentheater, das durch das Land zog und auf Festivals und in kleinen Orten seine Stücke präsentierte. Doch der Wunsch nach einem festen Zuhause für ihre Kunst ließ sie nicht los. Als sie 1995 erfuhren, dass das alte Feuerwehrhaus in Northeim nicht mehr gebraucht würde, ergriffen sie die Gelegenheit. „Das Gebäude hatte den Charme eines Schuhkartons“, erzählt Ruth Brockhausen. Doch die künstlerische Vision und die Hartnäckigkeit, die sie und ihr Mann mitbrachten, verwandelten den schmucklosen Zweckbau in ein einzigartiges Theatergebäude.
Der Umbau war kein einfacher Prozess. Die Stadt Northeim hatte zunächst geplant, das Gebäude abzureißen. Es bedurfte zahlreicher Überzeugungsarbeit und der Unterstützung des damaligen Bürgermeisters, um das Gebäude zu erhalten und die Finanzierung für den Umbau zu sichern. Die Planungen zogen sich über mehrere Jahre hin, doch schließlich begannen die Arbeiten. Ein entscheidender Moment war, als Ruth und Heiko Brockhausen beschlossen, das Gebäude nicht nur funktional, sondern auch symbolisch zu gestalten: „Wir wollten, dass das Haus bereits von außen zeigt, was hier passiert“, sagt Brockhausen. Die Entscheidung, dem Gebäude ein Gesicht zu geben und es mit künstlerischen Elementen wie der Drachentreppe zu versehen, war mehr als nur eine ästhetische Wahl. Es war eine bewusste Entscheidung, das Theater als einen Ort der Fantasie zu etablieren – einen Ort, der schon beim Betreten in eine andere Welt entführt. Und genau das ist ihnen gelungen.
Dieser gestalterische Anspruch wurde auch im Inneren des Theaters konsequent fortgeführt. Die Bühne, die Werkstätten und die Aufenthaltsräume wurden so gestaltet, dass sie die künstlerische Arbeit unterstützen. Dabei wurde jeder Winkel des Gebäudes individuell bearbeitet und umgestaltet, um den besonderen Bedürfnissen eines Figurentheaters gerecht zu werden. Die Transformation war jedoch nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine soziale. Während des Umbaus arbeiteten viele Menschen aus der Region und auch internationale Künstler mit. Es wurde zu einem Gemeinschaftswerk, bei dem das Theater nicht nur als Kunststätte, sondern auch als sozialer Raum entstand.
Kunst als soziales Engagement
Das Theater der Nacht ist weit mehr als ein Ort für kreative Aufführungen. Seit seiner Gründung setzt es auf die Verbindung von Kunst und sozialem Engagement. Für Brockhausen und ihr Team ist Puppenspiel nicht nur eine Form der Unterhaltung, sondern ein Werkzeug, um tiefere soziale und pädagogische Prozesse zu unterstützen. „Theater bietet uns die Möglichkeit, Menschen in schwierigen Lebenssituationen zu erreichen“, erklärt sie. Diese Überzeugung durchzieht die Arbeit des Theaters von Anfang an. Puppen sind nicht nur Figuren auf der Bühne, sie sind auch ein Mittel, um Menschen miteinander in den Dialog zu bringen.
Besonders in sozialen und therapeutischen Kontexten hat das Theater der Nacht innovative Ansätze entwickelt. Puppen bieten die Möglichkeit, Konflikte zu verarbeiten, emotionale Barrieren zu überwinden und neue Formen der Kommunikation zu finden. In Projekten mit Kindern, älteren Menschen oder Menschen in schwierigen Lebenssituationen kommen die Puppen als ,Stellvertreter‘ zum Einsatz. Sie ermöglichen es den Beteiligten, über die Puppen Themen anzusprechen, die sonst vielleicht unausgesprochen bleiben würden. Dies zeigt sich besonders in der Arbeit mit Kindern in sozialen Brennpunkten oder in therapeutischen Einrichtungen, wo das Puppenspiel eine heilende Wirkung entfalten kann. „Puppen können uns helfen, Konflikte auf eine spielerische und zugleich tiefgehende Weise zu lösen“, erklärt Brockhausen.
Ein Beispiel für diese Arbeit ist das Projekt ,Gruppe wirkt Wunder‘, das sich mit der Nutzung von Puppen in therapeutischen und sozialen Kontexten beschäftigt. In diesem Projekt werden Workshops angeboten, in denen Teilnehmer lernen, wie Puppen in verschiedenen Situationen eingesetzt werden können – sei es in der Arbeit mit älteren Menschen, mit Schulkindern oder in der Konfliktbewältigung. Besonders die Arbeit mit älteren Menschen hat sich als äußerst wirkungsvoll erwiesen. Hier bieten die Puppen eine Möglichkeit, eine neue Form der Kommunikation zu eröffnen, die über das gesprochene Wort hinausgeht. Für viele ältere Menschen, die sich vielleicht isoliert oder unverstanden fühlen, kann das Puppenspiel eine Brücke zur Außenwelt sein. „Es ist unglaublich, wie Puppen es schaffen, Barrieren zu überwinden und Menschen wieder in Kontakt zu bringen“, sagt Brockhausen.
Neben diesen speziellen Projekten legt das Thea-ter der Nacht auch auf die Arbeit mit Kindern großen Wert. Workshops, in denen Kinder ihre eigenen Puppen bauen und Theaterstücke entwickeln, sind ein fester Bestandteil des Angebots. Diese pädagogische Arbeit ist nicht nur dazu gedacht, die Kreativität der Kinder zu fördern, sondern auch, sie an die Welt des Theaters heranzuführen. „Wenn Kinder anfangen, selbst Theater zu machen, entwickeln sie ein ganz neues Verständnis für diese Kunstform und setzen sich intensiver mit den Inhalten auseinander“, so Brockhausen.
Diese Auseinandersetzung fördert nicht nur das künstlerische Verständnis, sondern auch das Selbstbewusstsein der Kinder. Sie lernen, sich auf der Bühne zu präsentieren, ihre eigenen Geschichten zu erzählen und in der Gruppe zu arbeiten.
Oft wird Figurentheater als reine Kinderunterhaltung betrachtet. Doch das Theater der Nacht beweist das Gegenteil. Obwohl viele der Aufführungen auch für Kinder geeignet sind, zieht das Programm des Theaters ebenso ein erwachsenes Publikum an. „80 Prozent unserer Zuschauer sind Erwachsene“, berichtet Brockhausen. Und das hat gute Gründe. Die Stücke, die im Theater der Nacht aufgeführt werden, sind keine simplen Märcheninszenierungen, sondern tiefgründige, künstlerisch anspruchsvolle Werke, die sich oft mit existenziellen Themen auseinandersetzen.
Eines der erfolgreichsten Stücke des Theaters, ,Die wilde Reise durch die Nacht‘, basiert auf dem gleichnamigen Buch von Walter Moers und erzählt von einer abenteuerlichen Reise durch eine albtraumhafte Welt. Mit viel Fantasie und einer eindrucksvollen Bühnenpräsenz der Puppen gelingt es, das Publikum in eine andere Realität zu entführen. Diese Mischung aus Fantasie und Tiefgang ist für die Arbeit des Theaters der Nacht typisch. „Wir wollen Geschichten erzählen, die Menschen berühren und zum Nachdenken anregen“, sagt Brockhausen. Puppen ermöglichen es, komplexe Themen auf eine Weise zu vermitteln, die zugleich zugänglich und tiefgründig ist.
Ein weiteres Highlight im Programm des Theaters ist das Stück ,Frau Mond‘, eines der ältesten Stücke im Repertoire. ,Frau Mond‘ begleitet das Theater seit den Anfangsjahren und hat im Laufe der Zeit eine ganz besondere Bedeutung erlangt. Ruth Brockhausen spielt die Hauptrolle selbst und beschreibt die Figur als eine enge Verwandte: „Frau Mond und ich, wir kennen uns schon sehr lange“, sagt sie schmunzelnd. Diese persönliche Verbindung zu den Figuren ist ein Markenzeichen des Theaters der Nacht und zeigt, wie eng die Künstler mit ihren Charakteren verbunden sind.
Der Rattendämon: Premiere einer Nachwuchskünstlerin
Mit der neuen Spielzeit 2024 wagt das Theater der Nacht einen mutigen Schritt in die Zukunft. Mit der Doppelpremiere des Stücks ,Der Rattendämon oder das Märchen von der schwarzen Tinte‘ bringt die Nachwuchskünstlerin KYRA ihr erstes Solospiel auf die Bühne. Das Stück basiert auf einem japanischen Märchen von Lafcadio Hearn und erzählt die Geschichte des Jungen Kenji, der eine Leidenschaft für das Zeichnen von Katzen entwickelt. Diese scheinbar unschuldige Vorliebe führt ihn jedoch immer wieder in Schwierigkeiten, bis er schließlich einem mysteriösen Dämonen begegnet, der sein Leben verändert.
In der Inszenierung von Heiko Brockhausen trifft japanische Mythologie auf eine düstere, künstlerische Interpretation. Der Rattendämon selbst wird als eine geheimnisvolle Figur inszeniert, die nicht nur Kenjis Welt auf den Kopf stellt, sondern auch das Publikum mit einer intensiven, visuellen Ästhetik fesselt. KYRA, die bisher als Teil des Ensembles des Theaters der Nacht gearbeitet hat, stellt sich mit dieser Premiere als Solokünstlerin vor und beweist eindrucksvoll, wie tiefgründig und vielfältig das Puppentheater sein kann.
,Der Rattendämon‘ ist ein Stück, das nicht nur mit seiner faszinierenden Geschichte überzeugt, sondern auch visuell neue Wege geht. Die Kombination aus traditionellen japanischen Elementen und der modernen, künstlerischen Umsetzung des Theaters der Nacht schafft eine einzigartige Atmosphäre, die das Publikum in eine Welt voller Magie und Geheimnisse entführt. Die Premiere des Stücks markiert nicht nur den Beginn einer neuen Spielzeit, sondern auch einen wichtigen Meilenstein in der künstlerischen Entwicklung von KYRA, die mit ihrer ersten eigenen Produktion das Publikum in Northeim und darüber hinaus begeistert.
Das Theater als Gemeinschaftsprojekt
Ein zentrales Element der Arbeit des Theaters der Nacht ist die enge Einbindung der örtlichen Gemeinschaft. Von Anfang an war das Theater ein Ort, an dem sich nicht nur professionelle Künstler, sondern auch die Bewohner von Northeim und der Umgebung engagieren konnten. Gleichzeitig ist das ,Drachenhaus‘, wie das Theatergebäude mittlerweile genannt wird, Anziehungspunkt für internationale Künstler und Puppenspieler. Einmal im Jahr treffen sie sich in Northeim zur ,Internationalen Figurentheaterkonferenz‘. In den einwöchigen Workshops wird dabei miteinander gespielt und voneinander gelernt. Am Ende der Projektwoche werden die Ergebnisse der Öffentlichkeit vorgestellt.
Im Anschluss verschwinden auch hier die Figuren wieder hinter dem Vorhang. Die Reise in eine andere Welt war nicht nur eine Frage der Fantasie, sondern das Ergebnis sorgfältiger Arbeit – von den filigran geschnitzten Puppen bis zu den ausgeklügelten Lichtspielen. So nimmt jeder Besucher nicht nur die Magie des Erlebten mit nach Hause, sondern auch den stillen Respekt für das Handwerk, das diesen Zauber erst möglich gemacht hat. ƒ