Der Teufel im Kopf
Die Entstehung von ,Glitther ‘ ist eine Geschichte wissenschaftlicher Neugier und unternehmerischer Initiative. Virginie Clément-Schatlo und Sammy Mahdi haben sich das Ziel gesetzt, eine neue Therapie gegen das Glioblastom, eine aggressive Form von Hirntumoren, zu entwickeln. Mit ihrem Unternehmen verfolgen sie diesen Ansatz, indem sie Erkenntnisse aus der Forschung in ein marktfähiges Produkt überführen. Kurz vor der Gründung sprechen sie über ihre Ziele und die Balance zwischen Forschung, Wirtschaft und Familie in Göttingen.
»Wir bauen ein starkes Netzwerk auf, das uns dabei unterstützt, unser Ziel zu erreichen. «
In den großen Fenstern im roten Backstein der Life Science Factory an der Annastraße in Göttingen spiegeln sich Baufahrzeuge, Lastwagen und Baustellenschilder. Rund um das Co-Working-Space für wissenschaftliches Unternehmertum wird weiter kräftig an der Zukunft der Universitätsstadt gearbeitet. Im Inneren nutzen bereits kluge Köpfe Schreibtische und Labore, um aus den Ergebnissen von Forschung und Entwicklung nun Umsatz und Erfolg werden zu lassen. Im hellen Foyer treffen wir Virginie Clément-Schatlo und Sammy Mahdi. Zur Begrüßung wird geflüstert, denn in den Büros nebenan rauchen bereits die Schornsteine der Denkfabriken.
Glioblastome stellen die Medizin vor große Herausforderungen. Sie sind besonders schwer zu behandeln, da sie schnell wachsen und sich im Gehirn stark ausbreiten. Die bisher verfügbaren Therapieoptionen sind begrenzt und die Prognosen für Betroffene düster. „Die Patienten überleben meist nicht länger als 15 Monate nach der Diagnose“, erklärt Clément-Schatlo. Mit aktuellen Methoden wächst der Tumor zwar langsamer, „aber er geht nicht weg. Leider nicht“, ergänzt Mitgründer Sammy Mahdi. Das liege vor allem daran, dass die derzeitigen Therapien nur die Symptome lindern, aber die Ursache nicht bekämpfen. Das wollen die beiden ändern, so ihre Hoffnung. Erste Tests sind mindestens vielversprechend.
Clément-Schatlo begann ihre Karriere in der Schweiz, wo sie promovierte und als Postdoktorandin arbeitete. Schon früh fiel ihr auf, dass es in der Glioblastom-Forschung wenig Fortschritte gab. „Ich habe festgestellt, dass die Ansätze in der Therapie dieser Erkrankung seit Jahren unverändert sind“, sagt sie. Nach einem Jahr intensiver Forschung fand sie dann einen neuen Ansatz. Während viele Forschende auf konventionelle Methoden zur Identifikation und Bekämpfung des Tumors setzten, erkannte sie das Potenzial alternativer Herangehensweisen. „Viele haben mir daraufhin gesagt: ‚Das ist der richtige Weg. Bitte geh ihn weiter. Guck, was du hast.‘ “
Sie entwickelte eine neue Methode zur Identifikation von Tumorzellen, die ohne Biomarker auskommt und sich auf morphologische Eigenschaften der Zellen konzentriert. Diese Erkenntnis eröffnete neue Wege für die Forschung und wird zur Grundlage für die geplante Unternehmensgründung. „Anstatt uns nur auf genetische Marker zu verlassen, analysieren wir die Zellen auf ihre strukturellen Merkmale“, erklärt sie. „Das erlaubt eine schnellere und präzisere Diagnose.“
Der Übergang von der akademischen Forschung zur unternehmerischen Tätigkeit ist herausfordernd. Clément-
Schatlo entschied sich, diesen Schritt zu gehen, als sie mit ihrer Familie nach Deutschland zog. Dort lernte sie Sammy Mahdi kennen, einen Ingenieur mit Erfahrung im Bereich Start-ups und Innovationsförderung. Die beiden ergänzten sich fachlich ideal: Während Clément-Schatlo die medizinische und biotechnologische Expertise mitbrachte, brachte Mahdi seine Erfahrung aus der Unternehmensgründung und der technologischen Entwicklung ein.
Gemeinsam bringen sie die Gründung ihres Unternehmens auf den Weg, um ihre Forschung in eine konkrete Therapie weiterzuentwickeln. Das Ziel von Glitther – oder Glioma-Targeted-Therapy – ist es, in den kommenden Jahren ein Medikament zu entwickeln, das den bisherigen Prozess ergänzt und im besten Fall den Tumor sogar ganz besiegen kann. „Wir können aber noch keine Versprechen machen“, sagt Clément-Schatlo.
Neben der Finanzierung ist es notwendig, Laborflächen zu sichern, Talente zu rekrutieren und regulatorische Hürden zu meistern. „Ein Medikament auf den Markt zu bringen, dauert im Durchschnitt 15 Jahre“, erklärt Mahdi. „Das bedeutet, dass wir strategisch und langfristig denken müssen.“ Kurzfristig stehen sie aber vor der Gründung, die noch in der ersten Jahreshälfte abgeschlossen werden könnte. Das ist aber von drei Faktoren abhängig: Zeit, Geld – und Bürokratie.
Eine zentrale Herausforderung auf dem Weg zur praktischen Umsetzung ihrer Forschung sind die bürokratischen Hürden. „Wir verbringen viel mehr Zeit mit Anträgen, Genehmigungen und regulatorischen Prüfungen als mit Forschung und Entwicklung“, sagt Clément-Schatlo. „Es ist frustrierend, wenn man die Zeit und das Wissen hat, aber nicht loslegen darf, weil man auf Dokumente und Erlaubnisse warten muss.“ Mahdi ergänzt: „Ein Problem ist, dass es keine zentrale Anlaufstelle für Start-ups wie unseres gibt. Wir müssen uns durch zahlreiche Behörden und Instanzen kämpfen, von Ethikkommissionen bis hin zu Förderinstitutionen. Jeder Schritt braucht Monate, in denen wir nicht wirklich vorankommen.“ Gleichwohl erfahren sie viel Unterstützung, beispielsweise durch Mentoren, Universitäten und nicht zuletzt die Life Science Factory selbst.
Ein konkretes Beispiel: Die Suche nach geeigneten Laborräumen für ihre Forschung zog sich über Monate hin. „In Europa gibt es strenge Vorgaben, welche Standards ein Labor erfüllen muss, bevor es für biomedizinische Forschung genutzt werden kann. Selbst wenn man eine Fläche gefunden hat, dauert es oft Monate, bis alle Genehmigungen vorliegen“, erklärt Clément-Schatlo. Mit der Life Science Factory fanden sie nun einen geeigneten Partner. Dieser stellt nicht nur Räume und Labors zur Verfügung, sondern unterstützt auch mit Wissen, Kontakten – und bei der Bürokratie. „Entrepreneurship war für mich wie das weite Meer. Man muss sehr viel lernen“, erzählt Mahdi, „aber in den vergangenen drei Jahren hat sich mit der Life-Science Factory, neuen Start-ups und diversen Förderprogrammen in Göttingen langsam ein Ökosystem entwickelt.“ Das helfe dabei, den eigentlichen Gründergeist und den Elan zu erhalten. Ein Berater habe Virginie Clément-Schatlo vor einigen Monaten einen Satz mit auf den Weg gegeben, der sie bis heute inspiriert. „Die deutsche Bürokratie ist kompliziert, aber wenn das Projekt Potenzial hat und die Leute es wollen, dann werden die Entscheidungsträger es für dein Team einfach machen und euch unterstützen.“ Nach eben diesem Mantra arbeiten sie und ihr Team. Denn: „Ich glaube aufrichtig, dass genau das aktuell passiert.” Mit diesem und mit der Unterstützung verschiedener Stellen im Rücken wollen die Gründer nun möglichst viele Multiplikatoren von ihrer Idee überzeugen. Denn die Entwicklung eines Medikaments ist nicht nur ein langwieriger, sondern auch ein kostspieliger Prozess. Gleichwohl tickt die Uhr „Wir entwickeln eine Therapie für eine aggressive Krebserkrankung mit einer sehr kurzen Überlebenszeit. Jeder Monat, den wir verlieren, bedeutet, dass Patienten, die von unserer Forschung profitieren könnten, keine Chance mehr haben“, sagt Clément-Schatlo.
Auch deshalb gehören zu den bisherigen Geldgebern auch Betroffene. Doch ohne große Investoren habe ihre Arbeit keine Zukunft. „Und das sind natürlich nicht alles Philanthropen, die wollen ein Return on Investment haben“, sagt Clément-Schatlo. Die Gründer sind sich sicher, dass ihr Wissen in einem weitgehend unerforschten Feld wertvoll ist – möglicherweise auch für größere Pharmaunternehmen, „aber das kommt später“. Jetzt gerade sehen sie großes Potenzial für die Industrie und stellen auch eigene Ansprüche an Investoren. Flexibilität sei ihnen bei Geschäftspartnern besonders wichtig. „Ich habe auch schon mal Nein gesagt, wenn es nicht passt“, erzählt Clément-Schatlo. Am Ende entscheidet aber das Führungsteam mehrheitlich.
Gleichzeitig versuchen die Gründer, diszipliniert zu sein. Auf der einen Seite möchten sie viel und intensiv arbeiten, aber es sei ihnen auch wichtig, Pausen zu machen. Die zwei Unternehmer stehen mitten im Leben, haben Kinder und einen vollen Terminkalender. „Um fünf Uhr klingelt der Wecker, spätesten 5.15 Uhr stehe ich auf“, erzählt Clément-Schatlo. Während ihre fünf Kinder vormittags in der Schule sind, habe die Unternehmerin Zeit zu arbeiten, um nachmittags mit der Familie etwas zu unternehmen. „Meine Kinder geben mir Motivation und Energie.“ Auch Mahdi verbringt nachmittags Zeit mit seinem Kind und arbeite am liebsten abends: „19.30 Uhr bis Mitternacht. Das ist die Zeit, in der ich am produktivsten bin.“ Ganz besonders wichtig sei es für die Gründer, dass nichts zu kurz kommt, denn „es gibt zwar viel ,Work‘, das gehört dazu, aber wir brauchen auch ,Life‘“.
Glitther versteht sich als familienfreundliches Unternehmen, das flexible Arbeitsmodelle bietet. „Viele denken, dass ein Start-up rund um die Uhr arbeiten muss. Doch wir glauben, dass nachhaltiges Arbeiten effektiver ist“, sagt Mahdi.
Die kommenden Monate sind für Glitther entscheidend. „Wenn wir bis Jahresende die Finanzierung gesichert haben, können wir den nächsten Schritt gehen“, erklärt Clément-Schatlo. Sollte dies nicht gelingen, müsse die Situation neu bewertet werden. Und auch realistisch: „Dann macht es keinen Sinn, es nur noch zu versuchen.“ Doch das Team bleibt optimistisch: „Wir haben eine klare Strategie und setzen unsere Arbeit konsequent fort.“ Die bisherigen Rückmeldungen aus der Wissenschafts- und Investoren-Community seien vielversprechend.
Neben der Finanzierung liegt der Fokus auf der Weiterentwicklung der Technologie und der Vorbereitung auf präklinische Studien. Dabei arbeitet Glitther mit Forschungseinrichtungen in Deutschland, der Schweiz und Frankreich zusammen. „Wir bauen ein starkes Netzwerk auf, das uns dabei unterstützt, unser Ziel zu erreichen“, sagt Mahdi. Bis spätestens Ende 2025 geben sie sich Zeit. Dieses Ziel haben sie sich selbst gesetzt. Sobald genug Geld da ist, geht es weiter. Endlich. „Wir haben jetzt genug Excel-Tabellen, das reicht. Wir wollen jetzt endlich wieder ins Labor.“ ƒ