AUFgeWACHSEN

Ihr Leben in Deutschland begann an der Groner Landstraße 9.
Niddal Salah-Eldin kommt im Alter von vier Jahren mit ihren
Eltern aus dem Sudan nach Göttingen. 32 Jahre später wird sie das jüngste Mitglied
im Vorstand der Axel Springer SE sein. Mit faktor spricht die Wahlberlinerin über das Anderssein, ihren Ansporn es allen zu zeigen und warum sie Göttingen
immer noch in ihrem Herzen trägt.

Zur Person

Niddal Salah-Eldin wurde 1985 in Khartum, Sudan, geboren. Im Alter von vier Jahren kam sie mit ihren Eltern nach Göttingen und verbrachte hier ihre Kindheit und Jugend bis zum Abitur am Hainberg-Gymnasium. Ihre journalistische Karriere in Rekordzeit fand ihren bisherigen Höhepunkt als Vorständin des globalen Ressorts ‚Talent and Culture‘ im Axel-Springer-Konzern. Darüber hinaus arbeitet sie eng mit Unicef zusammen und ist Beirätin und Kuratoriumsmitglied bei ‚Reporter ohne Grenzen‘ und bei der digitalen Bildungsplattform ‚Startup Teens‘. Derzeit engagiert sich Salah-Eldin ehrenamtlich für ihr vom Bürgerkrieg erschüttertes Heimatland Sudan.

» Ich hatte eine tiefe Sehnsucht nach irgendeiner Art von Normalität, nach Zugehörigkeit und Anerkennung. «

Wenn Niddal Salah-Eldin Göttingen besucht, führt sie ihr Weg an die Groner Landstraße 9. Dann macht sie ein Foto mit ihrem iPhone, Erinnerungen steigen hoch. An das Jahr 1989 und eine junge Frau aus dem Sudan, die mit einem Promotionsstipendium in Deutschland ankommt. Ihre vierjährige Tochter, der dreijährige Sohn und ihr Mann sind noch in ihrem Heimatland und sollen bald nachkommen. Das kleine Mädchen ist die heute 40-Jährige Niddal. Ihre Mutter steht zunächst allein mit wenigen Taschen und ein paar Brocken Deutsch im Gepäck vor ihrem neuen Zuhause. Die Groner Landstraße Nummer neun. Ein Ort, der heute berühmt-berüchtigt ist und
Sinnbild für die Ärmsten der Ärmsten in unserer Gesellschaft. Damals, so sollte man wohl dazu bemerken, lebten dort ein paar  Studierende, zumindest zur Überbrückung. „Dieses Haus ist für mich ein Erinnerungsturm“, sagt Niddal Salah-Eldin, „an die damals Vierjährige, und daran, wie wir angefangen haben, wo ich hergekommen bin und was möglich ist.“

Zwischen damals und heute liegt ein beeindruckender Karriereweg in der Medienbranche: Nach einem ausgezeichneten Abschluss am Hainberg-Gymnasium studiert Salah-Eldin Publizistik, Politikwissenschaft und Journalismus in Mainz und Washington D.C. Begleitend absolviert sie Praktika bei den Vereinten Nationen, beim ZDF, RTL New York, Phönix Digital, beim ‚Spiegel‘ und arbeitet bei CNN in Berlin und in Washington D.C. als News Assistent, wo sie in den digitalen Medien die Amtseinführung von Barack Obama begleitet hat. 2014 geht sie zu Axel Springer und gehört als Online-Redakteurin zum Social-Media-Gründungsteam der ‚Welt‘. Bereits ein Jahr später, mit 30 Jahren, übernimmt sie dort die Ressortleitung und ist damit die erste Frau, die von Stefan Aust (damaliger Chefredakteur der ‚Welt‘) in eine solche Position befördert wird. 2017 steigt sie zum ,Director Digital Innovation‘ der ‚Welt‘-Chefredaktion auf. 2018 wechselt sie als Vize-Chefredakteurin zur dpa. Mit 33 Jahren ist sie nicht nur jüngstes Mitglied der Chefredaktion, sondern außerdem die erste Frau mit Migrationshintergrund in dieser Position bei der Deutschen Presseagentur. Zweieinhalb Jahre später kehrt sie zu Springer zurück und übernimmt die Leitung der neuen Academy of Journalism and Technology. 2022 wird Niddal Salah-Eldin mit nur 36 Jahren als bislang jüngstes Mitglied in den Vorstand der Axel Springer SE berufen. Als Vorständin verantwortet sie auf Konzernebene das neu geschaffene globale Ressort ‚Talent and Culture‘ und ist damit unter anderem für die globalen Personalthemen und die Aus- und Weiterbildung zuständig. Ende 2024 verlässt sie Axel Springer.

Wir treffen Niddal Salah-Eldin in einem kleinen Café in Berlin-Schöneberg. Für sie ist es eine kurze Mittagspause und Interviewtermin in einem. Sie ist eine Frau, die auffällt. Nicht nur wegen ihrer Hautfarbe. Sie ist groß, 1,80 Meter, mit einer einnehmenden Freundlichkeit und Offenheit. Sie selbst scheint wenig beeindruckt von ihrem Lebenslauf, obwohl sie weiß, wie viel Arbeit sie investiert hat. Dennoch definiert sie sich nicht ausschließlich über ihre Karriere. „In der Medienbranche hat niemand auf eine große, schwarze Frau gewartet, deren Muttersprache nicht Deutsch ist“, sagt sie mit einem Lachen. Schon in frühester Kindheit haben ihr ihre Mutter und ihr Vater mitgegeben: „Warte nicht darauf, dass dir irgendjemand etwas kredenzt.“ Preußische Tugenden nennt Salah-Eldin augenzwinkernd das, was sie so weit gebracht habe: Leistung, Engagement, Einsatz, Fleiß und keine Angst vor unglamorösen Aufgaben.  

Salah-Eldin ist ein Familienmensch. Und das bedeutet, Verantwortung zu übernehmen sowohl für die anderen als auch für das eigene Handeln. Auch deshalb war es für sie keine Option, durch die Schulzeit zu dümpeln oder ein bisschen Work-and-Travel zu machen. „Meine Leistung ist gewissermaßen auch ein Zeugnis über das Lebenswerk meiner Eltern“, sagt sie. Diese verließen den Sudan zum einen aus politischen Gründen, aber auch, weil sie ihren Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen wollten. Schon ihre Mutter war eine Pionierin, wenn man ins Auge fasst, dass beide Elternteile der Mutter Analphabeten waren, sie  das erste Mädchen im Dorf ist, das eine weiterführende Schule besuchte und sogar eine promovierte Naturwissenschaftlerin wird. Bei ihrem Vater sind die Voraussetzungen ähnlich – und auch er schafft den Sprung. Er studiert in Kairo und promoviert in Moskau. In Deutschland angekommen, waren sie beide jedoch die Fremden, die sich beweisen müssen. „In meiner Jugend habe ich oft mit meinem Anderssein gehadert. Ich hatte eine tiefe Sehnsucht nach irgendeiner Art von Normalität, nach Zugehörigkeit und Anerkennung“, sagt Niddal Salah-Eldin heute. Als junges Mädchen stand sie trotz vieler Freundschaften doch oft ein wenig am Rand. Die Samstagvormittage waren ihr die liebsten. Dann konnte sie in die Stadtbibliothek fahren: „Ich war kein Party-Teenager. Jungs haben mich auch nicht interessiert. Ich war in meiner eigenen Welt mit Büchern, Computern und Popkultur – ich lebte ein bisschen in meiner eigenen Welt“, erinnert sie sich.  Für die junge Niddal war früh klar, dass ihr Weg in Richtung Journalismus gehen soll. Kriegsreporterin dachte sie zunächst. Doch als während ihres Studiums nach und nach die ersten Online-Plattformen entstanden, war sie fasziniert, welche Möglichkeiten sich plötzlich für eine neue Form des Journalismus offenbarten. „Ich twitterte damals so vor mich hin und kommentierte auf witzige Art das tagesaktuelle Geschehen, und plötzlich gingen meine Tweets viral“, erzählt sie. Was für eine neue Welt: Der Papst postet etwas auf Twitter, und irgendeine Frau aus einem New Yorker Vorort geht mit ihrem Tweet darauf viral, nur weil die richtigen Leute ihn teilen. Sogar heute noch ist die Begeisterung von damals spürbar, wenn Salah-Eldin von den Anfangszeiten der sozialen Medien erzählt. Nach einer Ausbildung zur Social-
Media-Redakteurin und einem Trainee zur Kommunikationsberaterin bei der Agentur Ketchum Pleon wusste sie: „Den Job, den ich machen will, den gibt’s noch gar nicht.“  Erfolg hänge für sie ganz stark mit Empowerment zusammen. Das bedeutet für sie, nicht nur im Blick zu haben, was sie selbst erreicht hat, sondern welches Erbe sie am Ende hinterlässt. Eine Freundin habe sie einmal einen ‚Menschenmagneten‘ genannt. ‚Wie viele Menschen habe ich auf meinem Weg unterstützt, befähigt, inspiriert oder vorangebracht?‘ – Das ist der Grat, an dem sie auch ihren Erfolg misst. Ob es ihr Traum war, einmal bei Axel Springer zu arbeiten? „Für mich war nie eine Marke ein Ziel. Es ging mir vielmehr darum, was ich machen wollte: nämlich digital neue Zielgruppen erreichen und Innovationen im Journalismus vorantreiben“, sagt Salah-Eldin. Und: „Ich möchte Dinge gestalten und verändern.“ Aus diesem Grund treibt sie bei Springer vor allem die Frage an: Was kommt nach der Tageszeitung? ‣

Seit Social Media und Online-Plattformen sich in der Gesellschaft etabliert haben, geht es nicht mehr voranging darum, wer die beste Story schreibt. Ob der Journalismus seiner Aufgabe gerecht werden kann, hängt ab von Distribution, Monetarisierung und der Ausspielung von Journalismus an den richtigen Stellen. Nachdem sie 2015 die Ressortleitung der Online-Redaktion der ‚Welt‘ übernommen hatte, wirkt ihre neue Position als ‚Director Digital Innovation‘ im Jahr 2017 mehr wie ein organisches Wachstum als ein nächster Karriereschritt. „Das hätte in keinem anderen Haus so funktioniert, da bin ich mir sicher“, resümiert sie. Und dennoch verlässt sie 2018 für gut zweieinhalb Jahre den Axel-Springer-Konzern und wechselt wortwörtlich auf die andere Straßenseite und wird stellvertretende Chefredakteurin bei der dpa. Verantwortlich für Innovation und Produkt ist das genau ihr Ding. Dann geht sie in Elternzeit. 

Als sie bei der dpa die digitale Transformation und unter anderem das Podcast-Geschäft erfolgreich vorangetrieben hat, kam ein Angebot aus dem Vorstand von Axel Springer, die Geschäftsführung der neuen Axel Springer Academy of Journalism & Technology zu übernehmen. Man bietet ihr eine Position an, die, so könnte man mutmaßen, allein für sie entworfen wurde. Als Geschäftsführerin ist es ihre Aufgabe, die klassische Journalistenausbildung zu transformieren, technologisch aufzuladen und Partnerschaften mit Tech-Unternehmen wie Snap und Meta (Facebook) zu lancieren. „Ich bin wenig beeindruckt von Hierarchien und wer den tollsten Titel hat“ sagt sie, „das macht es mir leicht, unabhängig Entscheidungen zu treffen.“ Integrität und Unabhängigkeit, das sind  die Werte, die für sie wichtig sind. 

Ein Gedanke, der immer wieder während des Interviews aufkommt: Wie schafft sie das alles? Ehefrau, Mutter und eine Karriere in Rekordzeit. „Ich habe immer viel und hart gearbeitet“, sagt sie. Ihr Energielevel scheint mit jeder zusätzlichen Aufgabe zu steigen. Als wäre ein Vorstandsposten nicht tagesfüllend genug, verantwortete sie die internationale KI-Offensive des Unternehmens und wie nebenbei noch im Jahr 2023 die große Partnerschaft zwischen Springer und OpenAi. Genau in dem Jahr, als im Sudan ein bis heute andauernder Bürgerkrieg ausbricht. Laut den Vereinten Nationen handelt es sich dabei um eine der größten humanitären Krisen überhaupt. Mehr als 16 Millionen Kinder leiden dort unter den Folgen des Krieges. Niddal Salah-Eldin hat Hunderte nahe und entfernte Verwandte in ihrem Geburtsland, die zum Teil in benachbarte Länder geflüchtet sind. Sie spürt eine große Verantwortung für ihre Verwandten und stellt sich die Frage: Wer will ich mal gewesen sein? Im September 2024 wird bekannt gegeben, dass sie den Konzern auf eigenen Wunsch verlässt, um sich um ihre Familie zu kümmern und sich für den Sudan zu engagieren. Zum Ende des Jahres legt sie ihr Vorstandsmandat nieder. „Ich habe keine Regrets – ich bereue nichts“, sagt sie, „es war richtig, zu Springer zurückzukehren, und es war richtig, zu diesem Zeitpunkt zu gehen.“ ‣

Seit November 2024 engagiert sich Salah-Eldin ehrenamtlich für ihr Heimatland Sudan. Ihre Kompetenzen und Kontakte aus ihrer Managementzeit in der Medienbranche nutzt sie nun, um Brücken zu bauen zwischen unterschiedlichen Stakeholdern, Kontinenten und Kulturräumen, zwischen Politik, Gesellschaft und Industrie. Sie unterstützt aus ganz persönlicher Motivation ihre erweiterte Familie im Sudan finanziell, aber auch bei Dingenwie Visum in den afrikanischen Nachbarländern, Wohnsituation oder Ausbildung in der Schule und Universität. Dieser Gemeinschaftsgedanke sei tief in der sudanesischen Kultur verankert. „So bin ich aufgewachsen“, sagt
sie und unterstützt zusätzlich Freiwilligendienste und Grassroots-Initiativen, bei denen Betroffene anderen Betroffenen helfen. „Wirksamkeit habe ich dabei für mich so definiert, dass sie nicht von meinem Gesicht abhängt“, erklärt die gebürtige Sudanesin. Und so arbeitet sie hinter den Kulissen mit mehr als zwei Dutzend nationalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen und Stiftungen zusammen, sitzt an Roundtables und macht das, was sie besonders gut kann: Lösungen finden für Probleme, für die es noch keine Blaupause gibt und unübliche Partnerschaften oder Bündnisse imitieren, die oft nicht in Betracht gezogen werden, weil sie nicht naheliegend sind. Brücken bauen und Akteure mit einbeziehen, die vielleicht bis dahin unscheinbar am Rand standen.

Ich habe ein Herz für die Underdogs, weil ich mich mit denen identifizieren kann, denen nicht alles geschenkt wurde“, sagt die ehemalige Vorständin des Springer-Konzerns, „weil ich ja auch mal diese Person war, die zum Beispiel die Sprache nicht konnte.“ Und passend dazu ergänzt sie: „Mich inspirieren Menschen, die nicht nur schlau und erfolgreich sind, sondern Mensch geblieben sind.“ So wie sie. Unbeirrt ist sie ihren Weg gegangen und hat dabei nach und nach ihren jugendlichen Wunsch nach Anerkennung und Zugehörigkeit zurückgelassen. „Mein Geschenk, das ich mir zum 40. Geburtstag gemacht habe: Ich will niemanden mehr etwas beweisen, nur noch mir selbst. Ich bin bei mir. Das fühlt sich fantastisch an.“

Die Interviewzeit nähert sich dem Ende. Wir sitzen in einem Berliner Innenhof und sind in Gedanken in Göttingen: Bei früheren Lieblingsplätzen. Den Schillerwiesen. Im griechischen Restaurant ,Potis‘. Am Ententeich beim Klinikum und bei den Kindertagen im Studierendenwohnheim im Albrecht-Thaer-Weg. Dort, wo sie das erste Mal in ihrem Leben im Sandkasten auf ein ebenfalls schwarzes Kind aus Tansania traf. Es wurde eine Freundschaft fürs Leben. Wie so viele Freundschaften aus Göttinger Zeiten bis heute gehalten haben. Auch ihren Mann hat sie in Göttingen kennengelernt. Dankbarkeit empfindet sie für ihre ‚alten‘ Erzieherinnen. „Göttingen hat uns eine Chance gegeben und dafür bin ich unglaublich dankbar. Wir haben diese Chance genutzt und hart gearbeitet“, erzählt sie und hält für einen Moment inne. Und dann sagt sie einen Satz, der tief aus ihrem Herzen kommt: „Ohne Göttingen wäre ich nicht der Mensch, der ich heute bin. ƒ 

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