Der Klang der Steine
Joachim Eriksen ist aus dem Göttinger Stadtbild nicht wegzudenken. Der Bildhauer mit seinem Atelier am Albaniplatz arbeitet derzeit an dem ‚Buch der Zukunft‘ und lädt ein, selbst zu Hammer und Eisen zu greifen. Damit verfolgt der 66-Jährige eine Mission: den Menschen Brücken zur Kunst zu bauen.
„Künstler entwickeln oftmals Fragen, die sonst keiner stellt. Sie entwickeln eine Perspektive, um es anders zu sehen.“
Tonnenschwere Steinblöcke reihen sich auf einem mehrere Fußballfelder umfassenden Areal aneinander. Ebenso schwere Baumaschinen spalten den Stein, der vor über 90 Millionen Jahren in einer marinen Umgebung entstand. Kleine Einlagerungen, Muscheln und Meerestiere sind Zeugen der Vergangenheit. Zwischen all den gebrochenen Blöcken geht ein Mann prüfend von Stein zu Stein, legt eine Hand auf, spürt, vermisst mit den Augen, vergleicht mit einem inneren Bild und legt letztlich sein Ohr an den Stein, schlägt mit einem Hammer auf ihn – und lauscht. Es scheint, als würden die Steine mit ihm sprechen. Und in gewisser Weise tun sie das auch, denn sie verraten Joachim Eriksen, was sich in ihrem Inneren verbirgt. „Wenn irgendetwas in dem Stein wäre, was mich stört, dann höre ich das“, sagt der Bildhauer, der arbeitet.
„Ich habe bereits als Fünfjähriger eine starke Nähe zu Steinen gespürt und auch damals schon auf sie eingeschlagen“, erinnert sich Eriksen. Auf besondere Weise ist sie also von Anfang an da gewesen, diese geheimnisvolle Beziehung zu den Steinen und auch das Lauschen auf den nachhallenden Klang. Dass er eines Tages Künstler sein würde, wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Obwohl, und davon ist der 66-Jährige überzeugt: Künstler wird man nicht, Künstler ist man von Geburt an. „Die Frage, die jeder sich stellen muss, ist vielmehr, inwieweit man den Mut aufbringt, sich dafür zu entscheiden und diesen Weg zu gehen“, sagt er. Doch auch er macht zunächst einmal ganz konventionell sein Abitur auf einem Wirtschaftsgymnasium und studiert anschließend Kunstgeschichte, Archäologie und Anthropologie. Eriksen geht ein Stück weit den klassischen Weg, bis er vor der Entscheidung steht: akademische Laufbahn oder freischaffender Künstler? Die Antwort kannte er bereits viele, viele Jahre zuvor – er konnte sie damals nur noch nicht benennen.
heute ist der gebürtige Oldenburger etablierter Künstler, der sowohl künstlerische Aufträge im öffentlichen Raum als auch eigene Werke und Projekte umsetzt. Vor dem Gebäude der Stadtwerke Göttingen steht ein Brunnen: Die Quelle von Joachim Eriksen. Und auch vor dem Amtshaus ist ein Werk des Künstlers zu sehen: der Gedenkstein Alfred Andersch. Viele seiner Werke sind in Privatbesitz, andere stellt er in Ausstellungen an öffentlichen Orten aus. Die Preise für eine Skulptur von Eriksen liegen zwischen 700 und 17.000 Euro. Er sucht die Nähe vor allem zu den Menschen, die er in klassischen Galerien nicht erreicht. Im Mai 2023 war beispielsweise die Ausstellung ‚Kunst aus der Region im Kaufpark. Oder er zeigt seine Werke, Skulpturen und Zeichnungen in einem Autohaus oder in den Wintermonaten auch mal in der leer stehenden Eisdiele ‚Eisfieber‘ in der Göttinger Innenstadt. Es ist eine Mission, die Eriksen verfolgt: den Menschen Brücken zu bauen – Brücken zur Kunst. Und vor allem auch zu dem Wert, der jedem Kunstwerk innewohnt. Man beginnt, arbeitet an dem Werk und beendet es ganz bewusst. All dies, seinen Arbeitsprozess, seine Gedanken zum Kunstwerk, seine Werke selbst zeigt der Göttinger Bildhauer nicht nur in seinem Atelierraum. Auf seinen zahlreichen Seiten auf Facebook und auf Instagram schafft er einen poetisch-philosophischen Einklang von Fotografien seiner Projekte und seinen Texten.
Sein neuestes Projekt heißt das Buch der Zukunft. Die Idee, ein Buch aus Stein zu schaffen, ersann der Künstler 2021. Auf dem Schreibtisch in seinem Atelier am Albaniplatz steht noch das ca. 20×30 Zentimeter große Modell des zukünftigen Buches. Am Ende seiner monatelangen Suche wird ein 3,5 Tonnen schwerer Steinblock am Rande des Albaniplatzes liegen, der nach und nach die Gestalt eines Buches freigeben wird. „Ich muss mich auf den Stein einlassen, langsam das Werk darin sehen und unser Buch der Zukunft gewähren lassen“, sagt Eriksen. Er steht neben ‚seinem‘ Stein in einer blauen Tunika, seiner typischen Arbeitskleidung. Der Mann mit weißem langem Haar, das er zum Zopf gebunden trägt, und dem weißen Bart gehört genau so zum Göttinger Stadtbild.
Doch was ist das Buch der Zukunft überhaupt? Es wird ein geschlossenes Buch aus bruchrauem Kalksandstein sein. Natürlich werden es nicht mit geschriebenen Worten gefüllte Seiten werden, sodass sich die Zukunft einfach durchblättern und lesen lässt. Auch wenn die Zukunft nicht in Stein gemeißelt werden kann, das Buch der Zukunft wird ein Ort sein, an dem wir innehalten und über eben jene nachdenken können. Ein Kunstwerk, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbindet. Oft denken wir Menschen, die Zukunft läge vor uns und die Vergangenheit hinter uns. „Aber die Wahrheit ist: Es gibt schon sehr lange Zukunft. Sie begann gleich nach dem Urknall“, sagt der Künstler. Eriksen steht vor seinem Werk und streicht mit seiner Hand über die unterschiedlichen Strukturen – Muster, die er bereits in den Stein geschlagen hat. Noch ist nicht entschieden, welche Oberfläche sich durchsetzen wird. „Ich bin unmittelbar mit dem Material im Dialog, mit seinen Wünschen und seinen Vorstellungen – ich lasse mich darauf ein, und manchmal überrascht es mich“, sagt er lächelnd. Es lässt sich Bedeutung in das Buch der Zukunft einmeißeln und wird gleichsam aus dem Inneren des Steins sichtbar. Wie denken wir also Zukunft? Ist sie determiniert oder freier Wille? Zukunft ist fließend – ebenso wie die Form des Buches aus Stein. Nicht alles muss man in der Kunst erklären, aber über vieles kann man sprechen und so ins Gespräch kommen. Aber letztlich geht es bei Kunst ums Fühlen, um Emotionen und um assoziatives Denken, weiß der gelernte Steinmetz. Und: Kunst ist ein Spiegel des Lebens. Oder – wie Eriksen es nennt – „Selbstähnlichkeit“. Indem er ungewöhnliche Dinge in seinen Kunstwerken ungewohnt zusammenbringt, kann er eine Tür in eine neue Welt öffnen, durch die jeder auf seine Weise treten kann.
„Künstler entwickeln oftmals Fragen, die sonst keiner stellt. Sie entwickeln eine Perspektive, um es anders zu sehen“, sagt der Wahl-Göttinger. Und so ist auch das Buch der Zukunft ein Projekt, um stehen zu bleiben, Fragen zu stellen und sich selbst Antworten zu geben.
Denn nicht nur Eriksen selbst gestaltet den Stein. Jeder, der Lust hat, seinen Anteil am Buch der Zukunft zu haben, kann ein Rundeisen und den Knüppel, ein typisches Bildhauerwerkzeug, in die Hand nehmen und sich in dem Stein verewigen. Allerdings wird dies beim ersten Mal nicht so rhythmisch gelingen, wie es dem Bildhauer von der Hand geht. Neben der aktiven Arbeit am Stein können Interessierte die Arbeit des Künstlers mit einer Patenschaft und Spende unterstützen oder ein Lesezeichen erwerben. Dieses Lesezeichen ist ein langes Stoffband, auf dem Eriksen den ganz persönlichen Wunsch für die Zukunft schreibt. „Es ist interessant, dass sich die Menschen eine friedliche, empathische, liebevolle oder loyale Zukunft wünschen – aber niemand Reichtum. Darüber sollte unsere Regierung mal nachdenken“, so der Bildhauer. Einen Teil des Geldes, das der Künstler einnimmt, wird er an das Kinder- und Jugendhospiz in Göttingen spenden. An junge Menschen, denen nur eine kurze Zukunft bleibt. „Denn eine schöne Zeit ist immer auch eine zeitlose Zeit“, sagt er.
Er ist nicht einer jener Künstler, die zurückgezogen in ihrem Atelier arbeiten. Eriksen sucht das Gespräch und möchte den Menschen die Schwellenangst nehmen. Auch aus diesem Grund ist das Buch der Zukunft nicht allein sein Projekt – es ist, so wie die Zukunft auch, ein Gemeinschaftsprojekt. Jeder Einzelne gestaltet bewusst oder unbewusst durch sein tägliches Tun die Zukunft mit. Ein kurzes Gedankenexperiment: Ein Mensch allein schafft es nicht, die 3,5 Tonnen vom Fleck zu bewegen. „Wenn es hingegen gelänge, 500 Menschen mit einer Hand an den Stein zu lassen, dann könnten alle zusammen diesen Stein bewegen“, sagt Eriksen. Daher kann sein abschließender Satz im Interview gar kein besserer Schluss sein: „Wir sind soziale Wesen und streben danach, viele Dinge gemeinsam zu tun. Und es wäre schön, wenn wir darauf achten, dass wir gute Dinge tun.“ ƒ

Example Subtitle
Example Title
Lorem ipsum dolor sit amet, consectetur adipiscing elit. Mauris tempus nisl vitae magna pulvinar laoreet. Nullam erat ipsum, mattis nec mollis ac, accumsan a enim. Nunc at euismod arcu. Aliquam ullamcorper eros justo, vel mollis neque facilisis vel.