Das Herz von Ottobock

Georgia Näder trägt nicht nur den Nachnamen ihres Vaters Hans Georg, sondern auch das Familien­unternehmen im Herzen und in der Seele. Seit zwei Jahren übernimmt sie Verantwortung für den Konzern in Frankreich. faktor besucht die 27-Jährige bei den Paralympischen Spielen in Paris. Dort zeigt sie uns die Zukunft von Ottobock.

ZUR PERSON
Georgia Näder ist die Urenkelin des Unternehmensgründers Otto Bock und Tochter von Hans Georg und Antje ­Näder. Sie ist eine der Gesellschafterinnen der Ottobock SE & Co. KGaA. Sie spielt in der Führung des Familienunternehmens eine wichtige Rolle und setzt sich besonders für die interna­tionale Ausrichtung und die strategische Weiterentwicklung des Unter­nehmens ein. Sie wurde 1997 geboren und hat mit Julia Näder eine ältere Schwester, die nicht im Unternehmen aktiv ist.
Neben ihrem Engagement bei Ottobock unterstützt sie zahlreiche soziale und kulturelle Projekte. Georgia Näder steht für die Fortführung der Unternehmenswerte, darunter Innovation, soziale Verantwortung und das Ziel, die Lebensqualität von Menschen mit Mobilitätseinschränkungen weltweit zu verbessern.

ZUM UNTERNEHMEN
Ottobock ist ein weltweit führendes Unternehmen in der Medizintechnik mit Sitz in Duderstadt. Gegründet 1919 von Otto Bock, konzentriert sich das Unternehmen auf die Entwicklung und Herstellung von Prothesen, Orthesen, Rollstühlen und
industriellen Exoskeletten. Ottobock revolutionierte die Branche durch ­innovative Produkte wie die ersten modularen Prothesensysteme und hoch entwickelte Beinprothesen, wie das C-Leg. Neben technologischem Fortschritt steht das Unternehmen für hohe Qualität und Patientenorientierung. Mit Niederlassungen und Vertriebsstandorten in über 60 Ländern hat sich Ottobock als Marktführer ­etabliert und verbessert die Mobilität und Lebensqualität von Menschen weltweit.

Ende August versteckt sich die Schönheit von Paris in einem spätsommerlichen Treiben. Gäste aus der ganzen Welt
besuchen die französische Hauptstadt, um im Anschluss an die Olympischen Spiele grenzenlosen Behindertensport zu bestaunen. Wenige Tage vor der großen Eröffnungsfeier ist das Zentrum mit großen Schildern und Bauzäunen abgesperrt. Touristen bekommen nur wenig von dem zu ­sehen, was sonst die Stadt der Liebe ausmacht.
Das Athletendorf in Saint-Denis ist eine Ansammlung von künstlerisch verspielt gestalteten Hochhäusern entlang der Seine. Vom Flughafen ,Charles de Gaulle‘ ist es mit dem Auto und durch den engen Großstadtverkehr an einem Dienstag eine gute halbe Stunde dorthin. Die Fenster und Fassaden der kleinen Wohnungen sind mit den Länderfahnen der Athletenteams geschmückt. Sportlerinnen und Sportler in Rollstühlen und auf ihren Gehhilfen machen Selfies, lachen, singen. Freiwillige und hauptamtliche Helfer weisen den Weg, organisieren, machen Fotos. Entstanden ist ein kleines Dorf mit außergewöhnlichen Bewohnern, die in den kommenden Tagen Höchstleistungen abrufen und Träume verwirklichen werden.

Inmitten dieses Treibens, dieser Mischung aus Vorfreude und Anspannung, finden die Athleten die Werkstatt von Ottobock. Gastgeberin dort ist Georgia Näder. Die 27-Jährige ist die Tochter des ­Ottobock-Eigentümers Hans Georg Näder und hat seit November 2022 die große Aufgabe, das Frankreich­geschäft des international agierenden Konzerns in die Zukunft zu führen.
Das Duderstädter Medizintechnikunternehmen für Prothesen, Orthesen, Rollstühle und Mobilität ist seit 1988 Partner der Paralympischen Spiele und stellt seitdem den Athleten kostenfrei Material, Manpower und Know-how zur Verfügung. Dafür hat Ottobock die besten Techniker und Tausende Ersatzteile – auch Bauteile von Marktbegleitern und Wettbewerbern – nach Paris gebracht.
Mario Henkel leitete Ottobock Frankreich mehr als 40 Jahre lang und bereitet sich nun auf seinen Ruhestand vor. Georgia Näders Aufgabe ist es, diesen Übergang zu gestalten. „Er hat den Markt hier aufgebaut. Hochachtung vor ihm und vor dem, was er hier geschaffen hat“, sagt Näder. „Als er hierherkam, waren es fünf Leute und eine Million Euro Umsatz – heute sind es 130 Leute und 120 Millionen Euro Umsatz. Ein groß­artiges Lebenswerk.“

Näders Aufgabe ist es, den Wechsel und Henkels Ruhestand vorzubereiten. Dazu hat sie zunächst Henkels Aufgaben übernommen und ein neues Board aufgebaut. Ziel war ursprünglich, sich nach den Paralympischen Spielen wieder aus Frankreich zurückzuziehen. „Aber ich glaube, es wird noch ein bisschen dauern. Wir gestalten gerade sehr viel, und es läuft gut. Und es macht außerdem viel Spaß.“ Was ihr gelingt, ist dabei mehr als nur ein Hinweis auf die Zukunft des gesamten Unternehmens. „Gerade junge Leute haben sich nach einem anderen Führungsstil gesehnt“, sagt Näder. „Mein Ziel ist es, Verantwortung an mehr Leute zu übergeben und sie darin zu bestärken, mitzugestalten und selbst kreativ zu sein.“

Besonderen Fokus richtet sie dabei auf das Segment ,Patient Care’, die Versorgung von Patienten. Denn obwohl die Sparte für rund zwei Drittel des Umsatzes verantwortlich ist, gab es laut Näder in Frankreich bisher kein zentral verantwortliches Management dafür. „Dazu haben wir fünf junge Talente aus dem Unternehmen ausgesucht, die in neue Rollen gesetzt wurden.“ ­Sofort sei Energie freigesetzt worden. „Das war schön zu sehen.“
Es sei ein grundlegend neuer Führungsstil, der auch sie selbst auszeichne, sagt Näder. „Mir ist es wichtig, Entscheidungen auf Basis von Informationen zu treffen, die von verschiedenen Leuten kommen.“ Sie höre gerne zu und scheue sich nicht, Fragen zu stellen. „Ich habe nicht alle Antworten. Das muss ich auch nicht. Es gibt die Experten für bestimmte Themen, und die befrage ich“, sagt Näder. „Und die haben hoffentlich Ideen, vielleicht bessere als ich.“
Mit ihrer jungen Art kommt Georgia Näder als Führungspersönlichkeit im Team offenbar gut an. Das spiegeln auch die Reaktionen vor Ort wieder. „Ich gebe gerne Verantwortung ab und lasse die Leute gestalten und mitreden. Gemeinsam macht es mir am meisten Spaß.“ Der Freiraum sei es, der die Mit­arbeiter motiviert. „Ich habe aber auch keine Scheu davor, zu sagen, wenn etwas nicht funktioniert.“ Das sachliche Feedback „kannten viele hier in Frankreich vorher gar nicht“, erinnert sich Näder. „Sie haben mich mit großen Augen angeguckt. Aber das funktioniert mittlerweile auch, wir sind sehr viel offener geworden. In beide
Richtungen.“

Ein Heimspiel in Frankreich
Die Paralympischen Spiele sind für sie so etwas wie ein Heimspiel. „Das ist für uns wie ein großes Klassentreffen“, sagt sie. „Hier kommen alle zusammen.“ In Frankreich ist sie das Gesicht von Ottobock. Am Morgen des faktor-Interviews hat sie die besondere Ehre, für einen Moment die Fackel der Paralympics zu tragen. „Das war etwas ganz Besonderes“, sagt sie. Im paralympischen Outfit nahm sie die Fackel entgegen, trug sie einige
Meter und reichte sie dann weiter. Auch Hans Georg ­Näder war diese Ehre schon zuteilgeworden. Doch nicht nur diese Erfahrung teilt sie mit ihrem Vater. Beide sind Reisende vieler Welten und Orte. Ihr Zuhause – „meine Homebase“, wie sie sagt – sind Duderstadt und Berlin. Paris dagegen sei ein Zuhause „auf Zeit“.
Die Pariser Athletenwerkstatt im Erdgeschoss eines der extra für die Spiele gebauten Gebäude ist einen Tag vor der offiziellen Eröffnung ein beliebtes Ziel vieler Athleten. Und sie steht symbolisch für die Werte von ­Georgia Näder: so nah wie möglich am Patienten sein. Familienunternehmen. Talentförderung. So wie ihre
Kollegen in der Werkstatt Prothesen anpassen und Rollstuhlreifen flicken, fügt sie lose Teile zusammen, die ihr im Unternehmen begegnen.
Schon als Kind lernte und lebte sie Ottobock, spielte in den Gängen und Hallen oder begleitete ihren Vater. Georgia Näder hat schon früh Verantwortung im Unternehmen übernommen. Mit Anfang 20 wurde sie Teil des Aufsichtsrates. Ihr Vater Hans Georg nahm sie zu Terminen mit, hat sie eingebunden. „Ich habe sehr schnell sehr viel gelernt. Unter anderem auch, mit dieser Verantwortung umzugehen. Vielleicht bin ich dadurch auch schneller erwachsen geworden.“ Dort traf sie auf Menschen mit viel Lebens- und Managementerfahrung. Doch auch sie brachte eine Stärke mit, die ihre weitaus erfahreneren Sitznachbarn nicht hatten. Georgia Näder kennt das Unternehmen, kennt Patienten und Kunden, kennt die Mitarbeiter, seitdem sie als Kind durch die Hallen und Büros eilte, dort spielte und beobachtete. Wie sonst vielleicht nur ihr Vater trägt die junge Frau schon zu diesem Zeitpunkt die Ottobock-DNA in sich. Das gibt ihr Mut und Stärke, um diese Verantwortung anzunehmen, sagt sie.

Vertrauen und Verantwortung
Dass sie das überhaupt tut, war nicht immer klar. Georgia Näder hatte nie den Eindruck, dass der Nachname auch eine Verpflichtung ist, in das Unternehmen einzusteigen. „Als Kind nimmt man nicht wahr, was das bedeutet“, sagt sie. „Das hat mein Vater gut und clever gemacht.“ Denn Hans Georg Näder habe nie von seinen Kindern eingefordert, Verantwortung im Familienunternehmen zu übernehmen. Aber wenn es doch das wird, was sie wollen, dann „müsst ihr doppelt so hart arbeiten wie alle anderen“, er­innert sich die Tochter an den Rat des Vaters. Und diesen nimmt sie häufig und gern an. „Es gibt immer mal Meinungsverschiedenheiten, aber wir diskutieren das dann aus.“ Sie gehen offen miteinander um, betont Georgia Näder. ­Gewinner und Verlierer gibt es nicht. „Wir sind da sehr ausgeglichen.“ Die Beziehung vor allem zu ihrem Vater, aber auch zu Vertrauten aus der südniedersächsischen ,Life ­Science Valley-Bubble‘ wie beispielsweise Sartorius-Vorstand ­Joachim Kreuzburg ist eng und förderlich. Es sind diese ­wenigen Vorbilder, wie zum Beispiel auch die Eltern, die sie prägen.
In Duderstadt ist sie behütet aufgewachsen, hatte Freunde und viel Liebe. Erst als sich ihre Eltern trennten, bekam diese heile Welt Risse. Den Wechsel von der Schule auf das Internat in Schleswig-Holstein beschreibt sie als einen der wichtigsten Schritte in ihrem Leben. Mit 14 Jahren war sie gezwungen, auch im Alltag Verantwortung für sich zu übernehmen. Gleichwohl trifft sie dort, fern der Heimat, enge Freunde und Verbündete, die ihr auch heute noch mit Rat, Tat und bei Bedarf mit einer haltenden Schulter zur ­Seite stehen.

Schon früh auch für das eigene Leben Verantwortung zu übernehmen, half Georgia Näder dabei, ihre ersten Schritte im Unternehmen zu gehen. Auch weil ihr Vater Hans Georg sie nicht nur ermutigt, sondern fördert und fordert. „Ich glaube, mir hat das gut getan. Das macht ganz viel mit einem jungen Menschen, wenn man so viel Verantwortung und Vertrauen bekommt.“ Vor allem für diesen Rückhalt ist sie ihrem Vater heute sehr dankbar. „Das bedeutet mir extrem viel, und deswegen will ich auch sehr viel daraus machen.“
Zu ihren engen Verbündeten gehört auch Heinrich
Popow. Der mehrfache Paralympics-Medaillengewinner ­sowie Welt- und Europameister im Sprint und Weitsprung arbeitet heute für Ottobock als Schnittelle zwischen den Anwendern und der Entwicklungsabteilung. Natürlich ist er auch mit nach Paris gereist – ihn und Näder verbindet inzwischen eine enge Freundschaft. „Dieser Austausch bedeutet mir beruflich und privat sehr viel“, sagt Georgia Näder.
Wie lange sie noch in Frankreich bleibt, ist zunächst offen. Trotz oder gerade wegen einer „extrem steilen Lernkurve“, die sie erleben durfte, fühlt sie sich nun auch für kommende Aufgaben gewappnet. Wann das sein wird? „Wenn ich mit meiner Arbeit hier zufrieden bin. Klar ist, meine Aufgabe hier ist endlich.“ Ursprünglich sollte nach den Spielen Schluss sein. Nun nähert sie sich dem Jahreswechsel. Ob dann schon Berlin und Duderstadt oder doch erst einer der vielen, weltweiten Standorte locken, darüber lässt sie uns im Ungewissen. Doch ihr Erfolg gibt ihr recht, und der neue Führungsstil könnte auch an den Standorten in Deutschland Schule machen. Klar ist aber: Die Zukunft von Ottobock heißt Näder. ƒ

 

Fotografie Alciro Theodoro da Silva
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